IT-Normen/Erst das Geschaeft, dann die Normierung

Nach wie vor weit von einem soliden ATM-Standard entfernt

26.04.1996

Hier bewegt man sich im hoechst profitablen Networking-Markt, der einer Studie der Gartner Group zufolge speziell im LAN-Bereich um jaehrlich 30 Prozent wachsen wird. Die Hersteller werden nicht muede, die unvollendete ATM- und Switch-Technik als fast erreichtes Ziel zu preisen, obwohl in vielen Bereichen noch Jahre an Entwicklungsarbeit vor ihnen liegen (siehe dazu auch den Artikel "Globale Gruppenarbeit..." auf Seite 50). Denn die Aufgabenstellung, das Ziel und die Methode in Technik umzusetzen, ist aeusserst komplex. Noch schwieriger ist es jedoch, den herstellerspezifischen Ansaetzen mit allgemeinverbindlichen Regeln, dass heisst Standards, zu folgen.

Auch wenn die Groessen des Networking-Markts wie Cisco Systems, Bay Networks, 3Com und Cabletron in Standardisierungsgremien wie dem ATM-Forum munter mitmischen, hinkt die Normierung weit hinter den herstellerspezifischen Konzepten her. Vielleicht auch mit gutem Grund, versuchen doch die Key-Player dieses Markts den Kunden mit individuellen Loesungen zu gewinnen und moeglichst an sich zu binden. Denn sie sind - den potentiellen Markt vor Augen - mit riesigen Investitionen in ihre Systementwicklungen in Vorlage getreten. Auf gehoerigen Markteinfluss koennen die fuehrenden vier im Netzwerkmarkt auf jeden Fall bauen. Denn Cisco Systems (1,915 Milliarden Dollar), 3Com einschliesslich Chipcom (1,608 Milliarden), Bay Networks (1,342 Milliarden) und Cabletron Systems (0,810 Milliarden Dollar) sind im Markt der Netzwerke mittlerweile zu Umsatzgroessen geworden (Umsaetze jeweils im Geschaeftsjahr 1995).

Doch es sind nicht nur diese Investitionen, die die Hersteller schnellstmoeglich wieder einfahren wollen. Die Firmenaufkaeufe und Fusionen der letzten Jahre, mit denen sich beispielsweise die obengenannten Unternehmen fuer den grossen Run auf den Markt geruestet haben, strapazieren die Firmenbudgets zusaetzlich und verstaerken damit den Zwang, Entwicklungen alsbald in klingender Muenze zurueckzubekommen.

Um so schneller geht man mit neuen Produkten in den Markt - oft zu schnell. 882,5 Millionen Dollar hat allein Cisco Systems in knapp zwei Jahren in Firmenkaeufe investiert und damit Kalpana (204 Millionen Dollar), Lightstream (120 Millionen), Newport Systems Solution (91 Millionen Dollar), Combinet, Internet Junction und Grand Junction Networks eingekauft.

3Com hat innerhalb eines Jahres fuer den Zukauf von Nicecom (59 Millionen), Primary Access (170 Millionen) und Sonix (70 Millionen Dollar) tief in die Firmen-Taschen gegriffen.

Cabletrons Erwerb der SMC-Einheit Enterprise Networks Business (77,5 Millionen Dollar), Madges Akquise von Lannet (300 Millionen) und die Einverleibung von Alantec durch Fore Systems markieren die vorerst letzten Runden im munteren "Wer-mit-wem-Reigen".

So verwundert es nicht, dass die Netzwerkgroessen lieber ihr eigenes, proprietaeres ATM/LAN-Konzept verfechten, um den Kunden damit weitgehend an die eigene Systemwelt zu binden - und die Arbeit an der eigentlich gemeinsamen Sache ATM nicht mehr so richtig vorankommt. Denn in dem Masse wie es aussen um Marktmacht geht, wird auch innen im ATM-Forum um moegliche Standards und damit potentielle Anwender gefochten. Zudem scheint das Gremium mit derzeit 834 Mitgliedern und mehr als 2000 assoziierten Partnern eine Groesse erreicht zu haben, mit der Mehrheitsbeschluesse nur noch schwer zu erreichen sind. IBMs 25-Mbit/s-ATM-Initiative im Desktop-Bereich und Einigungsprobleme darueber, wie der Multiprotokolldaten- und Sprachverkehr in ATM-Netzen kuenftig abgewickelt werden sollen, oder die schleppende Standardisierung von ATM-Routing-Protokollen wie MPOA (Multi Protocol over ATM) und PNNI (Private Network-to-Network Interface) sind dabei nur einige Beispiele.

Seit etwa einem Jahr wird bereits davon gesprochen, dass der PNNI- Standard kurz vor der Verabschiedung stuende - doch der Anwender wartet noch heute darauf. MPOA - eine urspruengliche Initiative von Cisco Systems - ist bis heute nicht ueber den Status eines Diskussionspapiers hinausgekommen.

Dabei geht es in beiden Faellen nicht um irgendwelche Protokolle, sondern um Routing-Protokolle, mit denen vermaschte ATM-Netze erst wahr werden, und wie sich im Falle von PNNI unterschiedliche Dienstqualitaeten fuer die Daten-, Sprach- und Videouebertragung im ATM-Netz ueberhaupt bewerkstelligen lassen. Dennoch scheint der gebremste Standardisierungstakt keinen Hersteller davon abzuhalten, den potentiellen Kunden mit Kuerzeln wie MPOA, PNNI, I- PNNI etc. zu umgarnen und so zu tun, als handele es sich bereits um verabschiedete Spezifikationen.

Einige unter ihnen, etwa Bay Networks, preschen sogar so weit voran, offensiv mit I-PNNI (Integrated Private Network-to-Network Interface) zu werben. Doch wird es I-PNNI nach Meinung von Optimisten in fruehestens zwei Jahren in standardisierter Form geben. Realisten sehen bis dahin mindestens vier Jahre ins Land gehen, und Pessimisten halten dieses Superprotokoll, das ohne Overlay-Protokolle auskommt und Router- sowie Switch-Systeme gleichermassen in den Wegfindungsprozess im ATM-Netz einbindet - sogar fuer nicht realisierbar. Das Ergebnis ist eine erhebliche Verunsicherung beim Anwender, der allmaehlich nicht mehr weiss, was er fuer bare, dass heisst allgemeinverbindliche Muenze nehmen soll.

Anwender: Wider Willen auf proprietaeren Wegen

Zumal kaum ein Anwender dazu bereit ist, bei der Realisierung seines ATM-/LAN-Netzwerks auf Standards zu verzichten und statt dessen gemeinsam mit dem Anbieter proprietaere Wege zu gehen. Wie es derzeit aussieht, bleibt allerdings keinem Unternehmen eine andere Wahl, weil nach dem aktuellen Normierungsstand lediglich der Einstieg in die ATM-Welt erreicht ist. Denn mit Normierungen der IETF (Internet Engineering Task Force) wie RFC 1483 (Request for Comment) und RFC 1577 wurden nur die Voraussetzungen geschaffen, traditionelle LAN-Daten ueber einen ATM-Backbone zu transportieren beziehungsweise die Wegfindung in kombinierten ATM/LAN-Installationen via IP zu realisieren. Und die LAN- Emulation ermoeglicht es lediglich, die bestehende Ethernet- und Token-Ring-Umgebung (sofern der Markt in naechster Zeit entsprechende Token-Ring-Produkte bietet) ueber einen ATM-Backbone abzubilden. Ein natives ATM-Protokoll kommt dabei nicht zum Einsatz. Damit bleiben natuerlich auch Dienstgueten wie VBR (Variable Bit Rate), CBR (Constant Bit Rate) und UBR (Unspecified Bit Rate) - eine wesentliche Staerke der ATM-Kommunikation - und vermaschte ATM-Strukturen auf der Strecke.

Eineinhalb Jahre warten auf stabile Produkte

Zudem gestehen einige Hersteller wie IBM ein, dass die LAN- Emulation, im Januar 1995 standardisiert, erst innerhalb der naechsten Monate wirklich tragfaehig werden wird. Die Erklaerung dafuer ist einfach: Selbst nach der Verabschiedung eines Standards muss der Anwender in der Regel ein bis eineinhalb Jahre warten, bis er auf stabile und interoperable Produkte bauen kann.

So umwerben die Hersteller den potentiellen Kunden mit herstellerspezifischen ATM/LAN-Architekturen, die in ihrer Konzeption oft weit auseinander liegen und ihn, sollte er sich fuer eine der Architekturen entscheiden, moeglichst an die Produkte des Hauses binden. Wie weit die Konzepte der einzelnen Firmen auseinanderdriften koennen, wird an grundsaetzlichen Mechanismen wie dem Routing beziehungsweise Router besonders deutlich.

Und natuerlich ist der jeweilige herstellerspezifische Ansatz immer von der eigenen Historie gepraegt.

Bei Cisco Systems wurde die Systemintelligenz, in Switch- Installationen richtig zu schalten und zu walten sowie parallel auch konventionelle Shared-Media-LANs in das Netzwerk einzubinden, als IOS (Internetwork Operating System) im Betriebssystem des Routers plaziert. Naturgemaess spielt der Router bei Cisco weiterhin eine dominante Rolle, ist man doch in diesem Markt der unumstrittene Marktfuehrer.

Fuer diesen Ansatz gibt es durchaus gute Gruende. Rund 80 Prozent des Internet bestehen laut Cisco Systems aus Cisco-Router- Systemen.

Also wieso nicht bei Neuentwicklungen auf dieser soliden Installationsbasis aufbauen und den Kunden auf diesen technologischen Trend Marketing-maessig einschwoeren? Fuer die Zukunft hat man an zentraler Stelle innerhalb der ATM/LAN-Switch- Architektur Cisco Fusion einen Router-Server vorgesehen, der sich auf das Erlernen und Verwalten der Netzwerktopologie beschraenken wird. Dem Switch kommt dann die Aufgabe zu, mit den Informationen des Route-Servers das Paket dem richtigen Ausgang des Switch- Systems zuzuweisen.

Auch bei Bay Networks laesst sich der Router-orientierte Ansatz kaum verleugnen, kann man doch seit der Fusion mit der ehemaligen Nummer zwei im Router-Markt, Wellfleet, das Internetworking- Konzept auf einer erprobten Router-Technik aufbauen. So wundert es nicht, dass man dem Router auch bei Bay Networks einen hohen Stellenwert innerhalb der Bay-Networks-Switch-Architektur Baysis einraeumt. Hier ist es der Virtual Network Router (VNR), der eine zentrale Rolle innerhalb des ATM/LAN-Switching-Konzeptes einnimmt. Anders als bei Cisco Systems propagiert man aber PNNI respektive I-PNNI, nicht MPOA, als zukuenftigen Routing-Mechanismus. Eine technologische Ausrichtung, die kontraer zum MPOA-Ansatz steht: Bei PNNI werden die Switch-Systeme aktiv in den Wegfindungsprozess einbezogen, wohingegen bei MPOA die Wegfindung weiterhin ueber die Router-Systeme (Hop-to-hop-Routing) abgewikkelt wird.

Ganz anders sieht man es bei der Firma Madge Networks, die sich gerade mit dem Kauf des israelischen Hub-Herstellers Lannet Data Communications eine bessere Ausgangsbasis fuer den potenten Switching-Markt geschaffen hat. Hier moechte man das Routing innerhalb der ATM/ LAN-Switch-Installation auf ein Minimum reduzieren. Immerhin koennen beide - sowohl Madge als auch Lannet - auf eine Historie im Hub- und Switch-Umfeld, weniger im Umfeld des Routing zurueckblicken. Solche Techniken wurden meist als Module anderer Hersteller in die eigenen Produkte integriert. So sollten nach Madge Networks via Router nur wenige VLANs, am besten nur eine grosse Broadcast-Domaene herausgebildet werden. Negativ sieht man bei Madge Networks auch das verteilte Routing, weil es neue, komplexe und proprietaere Protokolle erfordere und die Fehlersuche unnoetig kompliziere. Auch hier favorisiert man MPOA als Routing- Funktionalitaet.

Konsequent verteiltes Routing innerhalb der ATM/LAN-Switch- Architektur hat sich dagegen IBM auf die Fahnen geschrieben und mit Switched Virtual Networking (SVN) einen entsprechenden Ansatz gepraegt. Die Routing-Funktionalitaet soll kuenftig gleich den Backbone-Switch-Systemen implementiert werden, weil das Geschaeft mit Router-Systemen bei IBM noch nie eine grosse Rolle gespielt hat. Kernstueck von SVN ist die Architektur Multiprotocol Switched Services (MSS), die auf dem Konzept Networking Broadband Services (NBS) basiert. Um die hohe Effizienz der Switch-Systeme voll zu nutzen, verlagert man das Routing lieber an den Rand des Netzes, mit dem Ziel, das Frame-Forwarding moeglichst an die Adapterkarten der Endsysteme zu delegieren. So kommt man im Netz mit moeglichst wenigen Routing-Hops aus. Natuerlich sieht man hier eher in PNNI statt in MPOA das Routing-Protokoll der Zukunft.

Nur eine untergeordnete Rolle im ATM/LAN-Switching-Umfeld scheinen Router bei Cabletron Systems zu spielen. Hier sieht man sie ausschliesslich an der WAN-Verbindung, um dort die Sicherheit von Netzwerkdaten zu gewaehrleisten. Doch sollen sie ebenfalls sukzessive durch Switch-Systeme abgeloest werden. An diesen unterschiedlichen ATM/ LAN-Switch-Konzepten wird deutlich, dass sich der Kunde mit der Entscheidung fuer eine dieser Architekturen weiterhin auf proprietaerem Terrain bewegt. Es fehlt eben die solide Normierungsbasis.

LAN-Switch-Systeme gelten als proprietaer

Doch die Inkompatibilitaet beginnt meist schon bei den LAN-Switch- Systemen, wie Michael Rudolphi, Associate Partner bei der internationalen Unternehmensberatung Andersen Consulting GmbH in Eschborn, weiss. Dort koordiniert er alle Aktivitaeten im IT- Bereich. "LAN-Switch-Systeme sind keine Commodity-Produkte, sie gelten als proprietaer. Selbst im traditionellen Umfeld. Daran aendern auch standardisierte Protokolle wie Ethernet, Token Ring oder FDDI nichts." Und was fuer traditionelle LAN-Switch-Systeme gilt, gilt fuer ATM-Switch-Systeme erst recht. "Proprietaer sind Switch-Systeme schon deshalb", so Rudolphi weiter, "weil das Management der Switch-Installation nur mit herstellerspezifischen Systemen zu loesen ist. Und wer will schon in die Tiefen der Protokollanalyse hinabsteigen, wenn es darum geht, Schuldige fuer Interoperabilitaetsprobleme zu finden."

Womit der Bereich mit den groessten Standardisierungsluekken angesprochen ist: das Management von ATM-Installationen. Rudolphi macht den aktuellen Normierungsstand transparent: "Die vom ATM- Forum erarbeitete Loesung Interim Local Management Interface (ILMI) ist nicht mehr als eine Erste Hilfe fuer ATM-Anwender. Klassische Framework-Produkte wie HP-Openview sind hingegen nicht in der Lage, das Ende-zu-Ende-Management in ATM-Netzen zu realisieren." Zwar arbeite derzeit eine Gruppe innerhalb des ATM-Forums an einem Ende-zu-Ende-Management-Modell, das sowohl private als auch oeffentliche ATM-Netze einbezieht und Gateways zu SNMP (Simple Network Management Protocol) und CMIP (Common Management Information Protocol) enthaelt. "Nur, die Umsetzung der Konzeptionen in Produkte", so Rudolphi, "wird noch mehrere Jahre dauern."

Vorerst weitgehende Herstellerbindung

Dass der Anwender noch derart lange auf ein standardisiertes Management von ATM-Installationen wird warten muessen, macht er am Umfang der Normierungsherausforderung fest: "Das ATM-Management- Modell ist geschichtet und verwendet besondere ATM-Zellen, sogenannte OAM-Zellen, fuer die Durchfuehrung von Management- Operationen im Netz. Fuenf Management-Schnittstellen bilden den Kern, die zusammen das Ende-zu-Ende-Monitoring und die Ende-zu- Ende-Steuerung sichern werden. Daneben werden im Gremium IETF- Regeln (Internet Engineering Task Force,) entwickelt, um die fuer ATM benoetigten Management-Objekte im SNMP-Protokoll abzubilden." Zudem seien dynamische Visualisierungswerkzeuge notwendig, die den aktuellen Status des Netzwerks jederzeit anzeigen koennen - "dynamisch", wie er festhaelt, "und nicht in althergebrachter Form statischer Topologieanzeigen".

Darueber hinaus ist die Wirkungsbreite des ATM-Managements von neuen Protokollen beispielsweise PNNI abhaengig, weil damit wesentliche Parameter im Switch fuer eine wirkungsvolle Steuerung und Kontrolle erst zugaenglich werden.

Der Anwender wird also noch einige Zeit warten muessen, bis er auf eine solide, standardkonforme und damit eine interoperable ATM- Kommunikation bauen kann - es sei denn, man besinnt sich in Gremien wie dem ATM-Forum wieder staerker auf gemeinsame Vorgehensweisen und auf einen schnelleren Standardisierungstakt. Bis dahin bringt jede Entscheidung eine weitgehende Herstellerbindung mit sich.

Wer dennoch schon heute in die ATM-Kommunikation einsteigen will, kann nur eines tun, um seine Installation einigermassen abzusichern: auf den Hersteller mit der groessten Technologiekompetenz, dem groessten Innovationspotential und der staerksten Marktposition setzen - und dann hoffen, dass sich die Wahl in der Zukunft als die richtige erweist.

Kurz & buendig

Bandbreitenengpaessen will man mit ATM entgegenwirken, weltweit. Zahlreiche Firmen, vor allem aus den USA, haben sich bereits fuer dieses global angelegte Standardisierungsvorhaben ausgesprochen. Hinzu kommen handfeste finanzielle Engagements in Form von Beteiligungen oder Uebernahmen von Unternehmen, deren Produkte und Know-how fuer ATM wichtig sind beziehungsweise werden koennten. Obwohl es um Offenheit geht, zeigt das gegenwaertige Gerangel - Verzoegerungen sind ebenfalls an der Tagesordnung -, dass beispielsweise proprietaere ATM/LAN-Architekturen, die in ihrer Konzeption oft weit auseinander liegen, den potentiellen Kunden (wieder) an Produkte einzelner Hersteller binden. Deutlich wird dies vor allem beim Thema Router. Auch wird der Anwender noch lange auf ein standardisiertes Management von ATM-Installationen warten muessen.

*Hadi Stiel ist freier Journalist in Bad Camberg.