Prozessindustrie/OO-Datenbank und einheitliche Oberfläche als Integratoren

Nach der Fusion zur Bayernoil IT-Teilprojekte in der Pipeline

03.12.1999
Unternehmenszusammenschlüsse stellen vor allem die IT-Abteilungen vor große Aufgaben: Als die Raffineriegesellschaft Vohburg-Ingolstadt (RVI) 1998 mit der Erdölraffinerie Neustadt (ERN) zur Baiernoil Raffineriegesellschaft mbH fusionierte, bestand eine wesentliche Anforderung darin, die verschiedenen Anwendungen und Daten an drei Standorten in ein System zu integrieren. Werner Schmid* schildert das Projekt.

Als die beiden Unternehmen fusionierten, hatte die ERN gerade begonnen, ihr 1991 eingeführtes integriertes Raffinerie-Informations-System "Iris" mit einer optimierten Version Jahr-2000-fähig zu machen. Auf der Seite der RVI existierte eine bunte Mischung von Altsystemen, die durch eine neue Gesamtlösung mit Windows-Oberfläche abgelöst werden sollte. Auf HP- und Digital-Rechnern liefen jeweils verschiedene Systeme für Tank-, Prozeß- und Labordaten. Dieses heterogene System wies jeweils unterschiedliche Oberflächen sowie Tastaturbelegungen auf; die Anwendungen waren darüber hinaus durch eine Vielzahl von Paßwörtern geschützt.

Im Zuge der Fusion wurden die einzelnen IT-Projekte gestoppt. Schnellstmöglich sollten jetzt die Synergien, die sich durch den Zusammenschluß der beiden Raffinerien ergaben, auch DV-technisch unterstützt werden. Um das Projekt möglichst rasch durchzuführen, suchte man bei Bayernoil ein Consulting-Unternehmen, das bei der Integration der Systeme behilflich sein sollte. Wichtige Anforderungen an den IT-Partner waren hierbei insbesondere Flexibilität und Projekterfahrung hinsichtlich der Integration unterschiedlicher Systeme. Ein Meilenstein des Gesamtprojektes war dabei immer das Jahr 2000.

Zunächst schaute man sich bei früheren IT-Partnern von RVI und ERN um. Doch die Schnittstellen-Problematik schien keiner der Anbieter befriedigend lösen zu können. Aufgrund einer Empfehlung des Gelsenkirchener Veba-Werks, der Ruhr Oel GmbH, die zuvor ein ähnliches Projekt abgeschlossen hatte, entschied man sich für die M-pro IT Consult GmbH, Wiesbaden. Dieses Beratungsunternehmen hat sich bereits seit 1992 auf die IT-Anforderungen der Prozeßindustrie spezialisiert.

Der Countdown lief: Nachdem diese Entscheidung gefallen war, blieben nur noch eineinhalb Jahre Zeit, die Integration vor dem Jahr 2000 zu realisieren.

Keine leichte Aufgabe - bedingt durch die Integration von Systemen, die ursprünglich bei verschiedenen Firmen im Einsatz waren, ergaben sich immer wieder neue Aspekte, die berücksichtigt werden mußten. Weil die drei Standorte (Vohburg, Ingolstadt und Neustadt) des Unternehmens früher völlig autark waren, fanden sich zum Beispiel zahlreiche Namensüberschneidungen für Anlagenequipments und Tanks, die zunächst aufgedeckt und dann in die Projektplanung mit einbezogen werden mußten.

Ziel des Projekts war die Optimierung der Produktionsabläufe vor allem im Hinblick auf die Integration der drei Standorte. So mußte der Datenfluß verbessert werden, damit jeweils die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle verfügbar wäre. Zum anderen sollten manuelle Eingaben in das System verringert und die Arbeitsabläufe weitgehend automatisiert werden.

Objektorientiertes Data-Warehouse als Basis

Das Softwarepaket, das bei Bayernoil zur Integration der Systeme installiert wurde, besteht im wesentlichen aus einer objektorientierten Datenbank sowie einer bedienerfreundlichen Anwenderoberfläche. Durch den Einsatz der Lösung Object Data Model werden Daten nicht mehr dupliziert, sondern integriert, das heißt, in ihrer ursprünglichen Datenbasis behalten. Gleichzeitig ist es möglich, die Objekte und deren Beziehungen flexibel in Fließbildern zu gestalten. Dadurch stehen die Prozeßwerte sehr übersichtlich, stets aktuell und zudem innerhalb weniger Sekunden zur Verfügung. Auch die Datenhistorie wird durch die Software abgebildet. Als Grundlage dient Oracle 8.

Unter der einheitlichen Benutzeroberfläche findet der Anwender seine "Raffinerie-Welt" wieder. Sie ist nach Betriebsteilen sowie durch geläufige Fachausdrücke und vertraute Bezeichnungen strukturiert. Die Benutzeroberfläche hat eine Windows-Optik. Der Anwender findet hier alle Applikationen, mit denen er arbeitet und muß nicht in andere Oberflächen wechseln. Das Gesamtsystem heißt bei Bayernoil heute "Boris" (Bayernoil Raffinerie-Informations-System).

Weitere Leistungen der Wiesbadener Spezialisten waren Beratung und Implementierung: Die Software war in die vorhandene Systemlandschaft einzubinden und die Daten mußten miteinander verknüpft werden. Ferner wurden Trainings abgehalten, weil Bayernoil das System langfristig selbst betreuen wollte.

Für einen reibungslosen Projektverlauf wurde ein Team gebildet, das sich sowohl aus Mitarbeitern der IT-Abteilung von Bayernoil, als auch aus Beratern und Anwendern zusammensetzte. Ganz wichtig war zudem, daß die Mitarbeiter ihre spezifischen Anforderungen an das System definierten. Hierbei wurden die Mitarbeiter aus Neustadt und Vohburg-Ingolstadt zu gleichen Teilen berücksichtigt, um eine größtmögliche Akzeptanz der Lösung sicherzustellen. Die Mitarbeiter der IT-Abteilung fungierten als Mittler zwischen den Anwender- und den Consulting-Spezialisten.

Das Projektteam bestand aus rund zehn Personen und traf sich einmal wöchentlich. Hinzu kamen Anwender, die ebenfalls an dem Thema interessiert, aber nicht eng in das Projektteam eingebunden waren. Diese berieten sich einmal im Monat. Zum Kernteam wurden jeweils verschiedene Applikations-Subteams, die besonders intensiv mit bestimmten Anwendungen arbeiten müssen, hinzugenommen.

Projektstart war im März 1998. Die Planung sah vor, das Basissystem mit den kompletten Fließbildern, die die einzelnen Prozeßabläufe abbilden, noch im selben Jahr fertigzustellen. Bis Mitte 2000 sollten dann spezifische Applikationen wie Laborinformations- und Management-System, Prozeßleitsysteme, den Umweltrechner und mobile Terminals mit eingebunden werden. Obwohl es kleinere Verzögerungen gab, liegt Bayernoil bislang im Plan. Das Projekt wird voraussichtlich im September 2000 abgeschlossen sein.

Anfang 1999 mußte zunächst die Jahr-2000-Fähigkeit sichergestellt werden. Das neue System sollte in jedem Fall eine Testphase durchlaufen, bevor es produktiv eingesetzt wurde. Weil die Produktionsplanung mit Hilfe von Altsystemen immer drei Monate im voraus erstellt wird, war abzusehen, daß bereits ab Oktober Probleme auftreten könnten. Obwohl der Terminplan eng gesteckt war, gelang es mit vereinten Kräften, die kritischen Business-Applikationen pünktlich umzustellen.

Als wichtigste Applikation wurde zunächst die Abrechnung realisiert. Für die Gesellschafter der Bayernoil - die Konzerne BP, Mobil, Veba Oel, PDVSA und Agip - muß bis aufs Kilo genau abgerechnet werden, was in den Betriebsteilen Vohburg, Ingolstadt und Neustadt produziert, gelagert und versendet wird, denn hier produziert man nur für die Gesellschafter. Die Abrechnungsapplikation wurde im August installiert und im September in einer Testphase erprobt. Im Oktober kam die Anwendung dann in Einsatz.

Mit ihrer Hilfe lassen sich Tankstandsabrechnungen und damit eine tägliche Inventarisierung vornehmen. Die benötigten Daten kommen minutengenau aus den angeschlossenen Basissystemen. Der Abrechner prüft, ob alle Werte vollständig und korrekt sind. Ist beispielsweise ein Meßgerät ausgefallen, muß er diesen Wert nachrecherchieren. Die Informationen werden per Tagestelex - den täglichen Report - an die Gesellschafter weitergemeldet. Eine ebenfalls wichtige Aufgabe, die sich mit Boris erledigen läßt, ist die Rohölabrechnung: Jeder aus der Pipeline eingelagerte Rohöl-Batch muß kilo- beziehungsweise litergenau abgerechnet werden, um Mineralölsteuer und Zölle ordnungsgemäß entrichten zu können.

Das neue Abrechnungssystem bietet für Bayernoil eine Reihe von Vorteilen: Vor der Einführung des neuen Verfahrens wurden einige Daten manuell in das alte System eingegeben. Heute werden alle Informationen automatisch eingelesen und verknüpft und lassen sich komfortabel abrufen. Außerdem lassen sich exakte Resultate berechnen: Früher wurden die Daten verschiedenen Datenquellen entnommen, die ihrerseits die Werte unterschiedlich berechneten. Dadurch entstanden immer wieder Rundungsfehler und Differenzen. Die heutige Software basiert auf einer einheitlichen Berechnungsmethode. Die entsprechenden Funktionen wurden jetzt auch in Standard-Tools wie Excel eingebunden. Heute sind gleiche und vor allem reproduzierbare Berechnungen möglich.

Bei Bayernoil wurden bereits für alle Mitarbeiter die technischen Voraussetzungen geschaffen, mit Boris zu arbeiten. Mindestens 50 Prozent der Belegschaft sollen in der nächsten Zeit nun auch tatsächlich als Anwender erreicht werden. Derzeit sind es erst zirka 200 Mitarbeiter, die regelmäßig mit dem System arbeiten. Erste Schulungen hierzu wurden im September und Oktober abgehalten. Neben abteilungsspezifischen Angeboten, zum Beispiel für das Planungsressort, gab es 35 Schulungstermine, die von interessierten Mitarbeitern wahrgenommen wurden.

Mit entscheidend für die Akzeptanz des Systems wird jedoch die Tatsache sein, daß die Mitarbeiter ab dem Jahr 2000 ihre gewohnte Lösung nicht mehr parallel nutzen können. Wesentliche neue Applikationen, die sich von den alten Systemen unterscheiden, sollen - der Planung entsprechend - erst im kommenden Jahr in Boris integriert werden. Stark genutzt werden zur Zeit die 800 Fließbilder, die von Studenten gezeichnet und danach integriert wurden. Anhand dieser Fließbilder lassen sich Daten auf einen Blick erfassen. Wurden zuvor noch aufwendig und langwierig Listen ausgefüllt, läßt sich hier nun viel Zeit sparen.

Wirtschaftlichkeit im Focus der Preisdaten-Applikation

Für die Zukunft haben sich die Projektmitarbeiter noch vieles vorgenommen. Schritt für Schritt sollen neue Lösungen, die Arbeitserleichterungen bieten und Vorgänge weiter vereinheitlichen, entwickelt werden. Insbesondere soll die Optimierung der Raffinerieanlagen unterstützt und so die Effizienz der Raffinerie erhöht werden.

In einer nächsten Projektphase will man noch in diesem Jahr die Preisdaten-Applikation realisieren. Mit ihr lassen sich die Kosten der Rohöle, Zwischen- und Fertigprodukte einschließlich der Fracht auf Tagesbasis kalkulieren und so die Wirtschaftlichkeit für die Anwender visualisieren. Die Anwendung wird unter anderem die Pegelstände des Rheins, Wetter- und Umweltgesichtspunkte bei der Berechnung berücksichtigen. Ist im allgemeinen der Durchsatz einer Anlage der wichtigste Aspekt in der Prozeßindustrie, steht die Wirtschaftlichkeit aller Anlagen im Fokus der Preisdaten-Applikation. Mit Hilfe eines konsequenten Energie-Monitoring sollen auch Einflußgrößen wie Dampf, Strom und Wärmetauscher betrachtet werden, um möglichst effizient produzieren zu können.

Auch eine integrierte Versandapplikation ist geplant. Mit ihr soll sich jederzeit nachvollziehen lassen, zu welchem Zeitpunkt welches Produkt die Raffinerie über Kesselwagen, Tankwagen oder Pipeline verlassen hat. Diese Versanddaten werden in Berichten zusammengefaßt und wie die Abrechnungen an die Gesellschafter sowie an die Abrechner weitergeleitet.

Regelmäßige monatliche Planungs- und Review-Termine steuern das Projekt und stellen sicher, daß einzelne Projektphasen erfolgreich verlaufen. Immer wieder wird das zu Beginn des Projekts erstellte Grobkonzept auf Details heruntergebrochen, und es werden weitere Teilschritte definiert. Es hat sich im Verlauf des Projektes herausgestellt, daß diese Vorgehensweise für die zur Bayernoil fusionierten Betriebsstätten die richtige ist.

Dem Jahrtausendwechsel sieht man in der IT-Abteilung der Bayernoil mittlerweile gelassen entgegen. Momentan widmet man sich mit Hochdruck der Anbindung weiterer Applikationen, die aus Boris eine universelle Anwendungsplattform machen.

Die Raffinerie

Die Bayernoil Raffineriegesellschaft mbH mit ihren drei Betriebsteilen in Ingolstadt, Vohburg und Neustadt entstand am 1. Januar 1998 durch eine Firmenfusion der Raffineriegesellschaft Vohburg-Ingolstadt mbH (RVI) und der ehemaligen Erdölraffinerie Neustadt GmbH & Co. OHG (ERN). Die Raffinerie hat bei rund 540 Hektar Betriebsfläche einen Rohöldurchsatz von zwölf Millionen Tonnen im Jahr und beschäftigt 780 Mitarbeiter. "Gemeinsam erfolgreich", lautet das Motto des Unternehmens, an dem die Konzerne BP, Mobil, Veba Oel, PDVSA und Agip beteiligt sind. Produziert werden an den drei Standorten unter anderem Otto- und Dieselkraftstoffe, Heizöl und Bitumen. Ein gutausgebildetes und engagiertes Team sorgt in allen Betriebsteilen für einen umweltfreundlichen und sicheren Betrieb der Anlagen. Die Rohölversorgung wird über die Transalpine Pipeline (TAL) sichergestellt. Aus Triest wird über diese Leitung Rohöl aus Afrika, Venezuela, Norwegen, Saudi-Arabien und anderen Förderländern nach Bayern gepumpt und dort verarbeitet.

ANGEKLICKT

Die Prozeßindustrie (alle Industriebereiche mit kontinuierlicher Produktion) ist anders als andere Branchen. Wichtigste Voraussetzung bei IT-Projekten: Die IT-Abteilung muß ein tiefes Verständnis für die Prozesse haben. Das fusionsbedingte Integrationsprojekt bei der Bayernoil Raffineriegesellschaft bildet genaue Prozeßdaten ab und ermöglicht zum Beispiel die tägliche Abrechnung aller Tanks mit minutengenauen Daten. Um die Integration unterschiedlichster Systeme an drei Standorten zu realisieren, wurde ein objektorientiertes Data-Warehouse eingeführt, das Daten integriert und nicht dupliziert, aber trotzdem eine einheitliche Anlaufstelle für alle Applikationen darstellt. Gleichzeitig gelang der Bayernoil bei der Realisation des integrierten Raffinerie-Informations-Systems "Boris" der Wettlauf mit dem Jahr 2000.

*Werner Schmid ist Applikationsingenieur bei der Bayernoil Raffineriegesellschaft mbH in Vohburg und hatte die Projektleitung.