Mythos BPR - Versuch einer Entzauberung (Teil 1) Lean Production ist abgehakt - was wird aus dem Fat Office?

15.09.1995

In einer fuenfteiligen Artikelserie beschaeftigt sich Friedrich von Loeffelholz* mit dem Thema Geschaeftsprozess-Re-Engineering. Der erste Teil stellt die Schluesselfragen, die sich aus diesem Schlagwort ergeben. Im zweiten Beitrag wagt der Autor die These, dass es sich dabei lediglich um alten Wein in neuen Schlaeuchen handelt. Der dritte Artikel rueckt den alten Gegensatz zwischen Individual- oder Standardsoftware in ein neues Licht, worauf im vierten Teil eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung folgt. Das Geschaeftsprozess-Re-Engineering als Chance zum Lean Office ist Gegenstand des fuenften und letzten Beitrags.

Von Friederich von Loeffelholz*

Bei dem Versuch, ihre Fertigung immer effizienter zu machen, haben die Unternehmen etwas uebersehen: Das Verhaeltnis zwischen Administration und wertschoepfenden Bereichen wurde immer unguenstiger. Der Trend zur Software von der Stange hat daran nichts geaendert - im Gegenteil.

Die Standardsoftwarepakete sind in letzter Zeit ins Gerede gekommen - vor allem im Zusammenhang mit der Forderung nach effizienteren Geschaeftsprozessen. Die Vorwuerfe lauten auf zu grossen Aufwand, zu hohe Komplexitaet, mangelnde Flexibilitaet, also fehlende Wirtschaftlichkeit. Geschaeftsprozess-Re-Engineering soll Abhilfe schaffen.

Business Process Re-Engineering (BPR) und Workflow-Management heissen die Schlagwoerter, die derzeit in aller Munde sind. Die Softwarehersteller und Berater schwimmen auf dieser Welle ganz oben. CIM ist "out", Prozessorientierung ist "in". Kein Projekt ohne Re-Engineering.

Fuer alte Hasen ist Geschaefts-Prozess-Re-Engineering alter Wein in neuen Schlaeuchen. Frueher sprach man von Ablauforganisation, heute von Geschaeftsprozess-Management. Wo ist eigentlich der Unterschied?

Fuer die Geschaeftsfuehrung ist BPR ein willkommener Anlass, die eingefahrene und aufwendige Verwaltung des Unternehmens grundsaetzlich in Frage zu stellen. Der Aufwand in den Verwaltungsbereichen nimmt trotz Lean Production und DV-Einsatz stetig zu. Das Verhaeltnis der eigentlich wertschoepfenden zu den in der Verwaltung angestellten Mitarbeitern hat in vielen Unternehmen schon die Schallmauer von eins zu eins durchbrochen. Die aufgeblaehte Administration schlaegt sich in Gemeinkostenzuschlaegen von 200 bis 300 Prozent nieder.

Auf dem Weg der Lean Production ist es gelungen, in den produktiven Bereichen mehr Effizienz zu erzielen. Die Kapazitaeten wurden auf das Mindestmass abgebaut, ganze Werke geschlossen oder ins Ausland verlagert. Aber wie sieht es in der Verwaltung aus? Hier ist der Aufwand weiter gestiegen - trotz (oder etwa wegen?) CIM-Strategien und Einfuehrung von PPS-Systemen.

Die ersten PPS-Projekte wurden Mitte der 80er Jahre aufgesetzt. Die meisten Unternehmen entschieden sich fuer fertige Standardpakete. Aber fast ueberall ist die Einfuehrung ins Stocken geraten. Die Bedienung der Systeme kostet viel zu viel Aufwand. Die urspruenglich geweckten Erwartungen konnten sie hingegen nicht erfuellen. Lag es etwa an der falschen Software? Vor dem Hintergrund einer aeusserst aufwendigen Datenverwaltung und unter dem Zwang, Kosten weiter zu reduzieren, sind die Unternehmen heute wieder einmal auf der Suche nach einer "besseren" Software. Diesmal richten sie ihre Hoffnungen auf einfache, an den unternehmensspezifischen Geschaeftsprozess angepasste Systeme.

Infolgedessen stellt sich eine alte Frage mit neuer Brisanz: Nehmen wir Standardsoftware oder entwickeln wir selbst? Eigentlich wurde diese Frage schon vor Jahren beantwortet. Die urspruengliche Individualsoftware war einfach nicht mehr finanzierbar. Ausserdem ist die damit verbundene Abhaengigkeit von der eigenen DV-Org.- Mannschaft strategisch nicht zu verantworten.

Die Anbieter der Standardpakete versprachen damals Durchlaufzeitverkuerzung, bessere Auslastung, hoehere Termintreue und geringere Bestaende. Heute lautet ihre Verheissung "schlankere und effizientere Geschaeftsprozesse". Ihre Produkte nennen sie deshalb BPR-Systeme (Systeme zum Business Process-Re-Engineering). Die Frage ist nur, ob sie diesmal halten, was sie versprechen.

Nach den bisherigen Flops entscheiden sich viele Unternehmen fuer das System des Marktfuehrers - egal was es kostet. Eine erneute Investitionsruine kann und will man sich nicht mehr leisten.

Auch Information muss sich rechnen

Aber es gibt auch andere Stimmen: Sie schlagen vor, dass man angesichts von Client-Server-Architekturen, Groupware und Component-Software vielleicht voellig neue Wege gehen sollte und stellen die Standardpakete, wie sie in den 80ern entwickelt wurden, grundsaetzlich in Frage.

Haben sich die bisherigen Investitionen wirklich gerechnet? Schliesslich muss auch Information wirtschaftlichen Kategorien genuegen. Jede Investition in Datenverarbeitung sollte sich einer Rentabilitaetsrechnung unterziehen lassen. Und gerade hier muss das Geschaeftsprozess-Management ansetzen.

Es ist durchaus zweifelhaft, ob bisher wirklich alle Kostenarten in die Investitionsrechnung einbezogen wurden. Die Hard- und Softwareausgaben waren noch halbwegs kalkulierbar. Mit dem hohem Aufwand fuer Beratung, Einfuehrung und Anpassung hatten jedoch die wenigsten Unternehmen gerechnet. Und an welcher Stelle der Investitionsrechnung bleiben der Aufwand fuer die Bedienung des neuen Systems, die Kosten fuer die Pflege der Daten, das Gehalt der Mitarbeiter, die laufend damit befasst sind, Daten "einzupflegen"? Vielleicht entsteht gerade an dieser Stelle das Fat Office.

Interessant waere es auch, zu wissen, ob der zu leistende Datenaufwand in einem gesunden Verhaeltnis zu dem Gehalt der Daten steht. Aber wie laesst sich der Informationsgehalt der Daten ueberhaupt messen?

Eins hat uns die Erfahrung der letzten Jahre gelehrt: Die Einfuehrung von maechtigen Standardpaketen ist mit einem hohen Aufwand zur Bedienung der Anwendung und zur Pflege ihrer Daten verbunden. Dieser Aufwand unterscheidet sich kaum von dem der altbewaehrten individuellen Systeme. Zudem stellen sich allmaehlich Zweifel ein, ob die Verwaltung von Systemen, die ueber zigtausend Tabellen, Parameter und Daten verfuegen, wirklich sinnvoll oder wirtschaftlich ist.

Doch was ist die Alternative? Wo gibt es die Anwendung, die genau die Anforderungen erfuellt, die fuer eine effiziente Auftragsabwicklung benoetigt werden, und dabei auf allen zusaetzlichen Aufwand verzichtet? Ein solches System wird kaum als fertiges Standardpaket zu kaufen sein.

Muessen wird heute also wieder darangehen, unsere Systeme fuer eine schlanke Verwaltung selbst zu entwickeln? Und welche Werkzeuge koennen uns dabei unterstuetzen, den Bedienungs- und Datenaufwand auf ein Minimum zu reduzieren?

Angesichts einer staendig steigenden Datenflut sowie des damit einhergehenden Bedienungs- und Pflegeaufwands lauten die notwendigen Fragen heute mehr denn je: Welche sind die wirklich wertschoepfenden Geschaeftsprozesse? Worauf muessen wir uns konzentrieren? Da sich die Maerkte immer schneller veraendern, werden Flexibilitaet, die Beweglichkeit und Aenderbarkeit von Anwendungen eine zentrale Rolle spielen. Nur mit ihnen sind die Unternehmen fuer das naechste Jahrtausend geruestet.

Der richtige Weg zur wirtschaftlich effizienten DV-Loesung ist weder die reine Individualsoftware mit althergebrachter Technik noch das allumfassende Standardpaket. Diese Loesung wird vielmehr auf vorgefertigten Komponenten aufbauen und dem Anwender all die Flexibilitaet bieten, die er benoetigt, um sich auf die Veraenderungen der Maerkte einstellen zu koennen.

* Professor Dr. Friedrich Frhr. v. Loeffelholz lehrt an der Fachhochschule Wuerzburg/Schweinfurt/Aschaffenburg im Fachbereich Wirtschaftsingenieurwesen. Zuvor war er viele Jahre in der Bewertung und Auswahl von PPS-Systemen taetig.