Quereinsteiger in die IT-Branche sollten sich nicht in die Tasche lügen

Mut zur kritischen Selbsteinschätzung

22.12.2000
Quereinsteiger in die IT-Branche wie Physiker, Ingenieure, Theologen, Psychologen oder Literaturwissenschaftler sind mittlerweile keine Seltenheit mehr. Sie kommen in den unterschiedlichsten Positionen im Management, in der Beratung, im Vertrieb oder im Service unter. Voraussetzung sind allerdings solide IT-Grundkenntnisse und die häufig als Soft-Skills bezeichneten persönlichen Qualitäten. Von Angelika Fritsche und Veronika Renkes*

Begehrt sind Wirtschaftswissenschaftler, Physiker und Ingenieure, aber auch Geistes- und Sozialwissenschaftler erhalten immer öfters die Chance, sich bei einem IT-Arbeitgeber vorzustellen. So werden bei der Saarbrücker Orbis AG Naturwissenschaftler überwiegend in der Softwareentwicklung und als Berater eingesetzt, Geistes- und Sozialwissenschaftler in der Dokumentation, Qualitätssicherung sowie im Marketing.

"Nach wie vor glauben viele Jobsuchende, dass in IT-Unternehmen nur Computerfachleute unterkommen", schildert Orbis-Vorstand Ulrich Thiele. Dass diese Betriebe auch Arbeit in der Verwaltung, im Vertrieb, im Rechnungswesen und Marketing, in der Dokumentation oder Schulung anbieten - daran würden nur die wenigsten denken. Die Saarbrücker arbeiten mit Quereinsteigern beispielsweise in der Qualitätssicherung von Softwaretests. Dazu brauche man nicht unbedingt ein Informatikstudium, meint Thiele. Wichtig sei vielmehr, dass die Projektteams heterogen zusammengesetzt sind und sich Quereinsteiger und Informatiker gegenseitig helfen können.

Vor allem im Beratungsgeschäft kommen es auf die Persönlichkeit der Mitarbeiter an: wie sie Themen strukturieren, Projekte managen und mit den Kunden umgehen. Wenn ein Quereinsteiger eine verlässliche Truppe im Hintergrund hat, die die technischen Aufgaben löst, dann genüge es, wenn er selbst einen groben Einblick in die Thematik habe, lauten die Erfahrungen des Orbis-Managers.

Heuern Sozial- und Geisteswissenschaftler bei einem IT-Unternehmen an, müssen sie ein solides Grundwissen in der IT-Technologie mitbringen. Ferner werden Kreativität, Offenheit und die Fähigkeit, Probleme systematisch anzupacken und zu lösen, vorausgesetzt. Damit die künftigen Profis eine Chance erhalten, das geforderte IT-Grundwissen zu erwerben, haben beispielsweise vier IT-Häuser und die Universität des Saarlandes eine Qualifizierungsoffensive gestartet.

Dazu zählen IDS Scheer, Infor Business Solutions, Orbis und SAP Retail Solutions. Interessierte Studenten aus Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften können ab Januar 2001 im Rahmen einer zweisemestrigen Zusatzqualifikation grundlegende Kenntnisse vor allem in den Bereichen allgemeine Betriebswirtschaft, E-Business, Internet, Software und Hardware erwerben. Ziel der Offensive: Die Studierenden sollen nach dem Examen in den Unternehmen als Berater arbeiten. Angeboten werden die beiden Schwerpunkte Technical Consulting und Application Consulting.

Wer teilnehmen will, muss dafür 2400 Mark bezahlen. Die bekommt er wieder zurück, wenn er später bei einem der vier Unternehmen einsteigt. Die Resonanz unter den Studierenden sei groß, berichtet Wolfgang Lorenz, der als Leiter der Kontaktstelle für Wissens- und Technologietransfer an der Universität des Saarlandes die Ausbildungsinitiative koordiniert. Insgesamt stehen 100 Ausbildungsplätze zur Verfügung.

Die Absolventen des Qualifizierungsprogramms haben gute Chancen, den Einstieg in die IT-Branche zu schaffen, glaubt Gabriela Ebeling, Personalerin bei der IDS Scheer AG. "Geistes- und Sozialwissenschaftler können wir sogar sehr gut gebrauchen", meint sie. Die Projektsituation beim Kunden erfordere oft die Skills, die diese Personengruppe von Natur aus mitbringe: zum Beispiel die Fähigkeit, zuzuhören und zu analysieren, Lösungen zu finden und diese den Kunden zu präsentieren. Das seien wichtige Aufgaben eines Consultants, und die hätten zunächst mit der fachlichen Qualifikation weniger zu tun.

"Interessant sind Geisteswissenschaftler, die möglichst schon während ihres Studiums gezeigt haben, dass sie gerne mit Menschen umgehen, gut organisieren können und auf jedem Fall auch großes Interesse an ihrem originären Studium gezeigt haben und sich umorientieren wollen", nennt die Personalfrau Ebeling einige der Auswahlkriterien. Weniger interessiert sei sie an Langzeitstudierende, die nicht die Absicht haben, ihr Studium abzuschließen und statt dessen in der IT-Branche viel Geld verdienen wollen.

Auch die IDS Scheer AG beschäftigt bereits seit Jahren Quereinsteiger. So berät dort eine studierte Theologin die Kunden über Softwareanwendungen und organisiert Trainingskurse. Ein promovierter Physiker ist Leiter des Beratungszentrums für Kunden aus der Chemie- und Pharmaziebranche. Quereinsteiger einzustellen bedeutet aber auch eine Investition in die Personalarbeit. "Wir schauen uns die Eingangsqualifikationen und den Werdegang sehr genau an und überlegen uns, welches Weiterbildungsprogramm wir den Kandidaten anbieten können, um sie zu integrieren und auf den Stand zu bringen, den andere vielleicht schon haben", schildert Personalfrau Ebeling.

Bei SAP Retail Solutions in St. Ingbert sind etwa elf Prozent der Mitarbeiter Quereinsteiger. Überwiegend handelt es sich um Biologen, Geologen, Physiker oder Chemiker. Es arbeiten aber auch Volkswirte, Sprachwissenschaftler, Romanisten und Orientalisten im Unternehmen. "Sie besitzen Durchsetzungsvermögen, Ausdauer und analytische Fähigkeiten - und das können wir gut nutzen, wenn wir diese Leute richtig einsetzen", schildert Geschäftsführer Rainer Guthor. Zudem kämen interessante Sichtweisen ins Unternehmen, die Informatiker und Wirtschaftsinformatiker eher selten mitbringen.

Querdenkern sei wichtig, nicht bei Routineabläufen und -analysen hängenzubleiben. Beim Unternehmen aus St. Ingbert werden für die Softwareentwicklung eher Naturwissenschaftler und Informatiker eingesetzt und für die Beratung Geistes- und Sozialwissenschaftler.

Eher skeptisch gegenüber Fachfremden zeigt sich hingegen Sonja Eden, Personalreferentin bei der Baan Deutschland GmbH in Hannover. Theologen und Literaturwissenschaftler müssten schon sehr überzeugend darstellen, warum sie plötzlich den Sprung in die IT-Welt wagen wollen. Dennoch: "Man sollte Quereinsteigern den Weg ins Unternehmen nicht grundsätzlich versperren und ernsthaft überlegen, wo man sie möglicherweise einsetzen könnte."

Auch Werner Steckel, Referatsleiter Berufliche Weiterbildung bei der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, dämpft die Erwartungen. "Quereinsteiger haben eine reale Chance in der IT-Branche - allerdings müssen sie in der Regel jung und flexibel sein und logisches Denkvermögen mitbringen." Ein versierter Anwender sei noch keine IT-Fachkraft, rät Steckel zu einer kritischen Selbsteinschätzung.

*Angelika Fritsche und Veronika Renkes sind freie Journalistinnen in Bonn.