Baden-Württemberg reorganisiert das Landesnetz

Multiprotokoll-Netz im Ländle spart der Verwaltung Millionen

13.12.1996

In der Stabsstelle für Verwaltungsreform im Innenministerium Baden-Württemberg sowie im Regierungspräsidium Stuttgart, Abteilung 8, Gemeinschaftsrechenzentrum (GRZ), wurde bereits 1992 intensiv über die Weiterentwicklung des damals SNA-basierten Landesverwaltungsnetzes nachgedacht. Die Stabsstelle verantwortet Belange der Informations- und Kommunikationstechnik in der Landesverwaltung. Letztere wird von dem GRZ mit zentralen DV-Dienstleistungen versorgt. Im GRZ liegt dazu die Verantwortung für den lokalen Großrechner mit der dazugehörigen Software, einschließlich den Datenbanken und der Entwicklungsumgebung. Zum Verantwortungsbereich des GRZ gehören insbesondere auch der laufende Betrieb und die technische Weiterentwicklung des Landesverwaltungsnetzes (LVN). Und genau hier wollte Baden-Württemberg Anfang 1993 ein neues Kommunikationszeitalter einläuten.

Besonders die bis dato parallele Leitungsführung der mit proprietären Protokollen und Techniken betriebenen Netze war Georg Schäfer, Leiter des Bereichs Technik der Stabsstelle, ein Dorn im Auge, verursachten die angemieteten Übertragungswege doch beträchtliche Kosten. So verwendete das allgemeine Landesverwaltungsnetz etwa SNA, das Polizeinetz nutzte das Transdata-Protokoll von Siemens, während die Umweltverwaltung im Decnet kommunizierte und die Kultusverwaltung mit X.25 beziehungsweise Datex-P versorgt wurde. "Das sollte anders werden. Künftig wollen wir alle Verfahren der Landesverwaltung über eine gemeinsam genutzte Netzinfrastruktur abgewickeln", beschreibt Schäfer das Ziel des Vorhabens.

Anfang März 1993 ließ man extern eine detaillierte Machbarkeitsstudie zur Weiterentwicklung des LVN erstellen, mit dem Ziel, die bisher parallel betriebenen proprietären Netze der Polizei, Umwelt- und Kultusverwaltung mit dem bestehenden SNA-Landesverwaltungsnetz über einen Multiprotokoll-Backbone zusammenzufassen. Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Studie erfolgte im Juli des gleichen Jahres eine europaweite Ausschreibung, bei der letztlich die Siemens-Nixdorf Informationssysteme AG (SNI) in Stuttgart als Generalunternehmer und der WAN-Switch-Anbieter Datus elektronische Informationssysteme GmbH in Aachen als Lieferant der Netztechnik den Zuschlag erhielten. "SNI bot die Gewähr für einen flächendeckenden Service in Baden-Württemberg, und Datus wartete zum Zeitpunkt der Ausschreibung bei seinen WAN-Switch-Systemen mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis auf", nennt Joachim Arnold, Referent innerhalb der Stabsstelle im Innenministerium, die wesentlichen Entscheidungskriterien. Mit der Neuinstallation ebneten die Verantwortlichen zudem einen Weg, künftig die gesamte Netzarchitektur von zentraler Stelle aus überwachen und verwalten zu können.

Das Land Baden-Württemberg schloß zudem mit der DeTeSystem einen Telekom-Designed-Network-(TDN-)Vertrag ab. Von der für Großkunden zuständigen Tochter der Deutschen Telekom AG bezieht das LVN die Leitungsverbindungen. Der LVN-Backbone, bestehend aus fünf WAN-Switch-Systemen, wurde zügig realisiert, indem man zunächst fünf Digital-64S-Strecken zu einem Zentralnetz zusammenfaßte, in dem die Daten mit Hilfe des Lempl-Ziff-Verfahrens komprimiert werden. Bereits Ende Juli 1994 ging die Backbone-Installation in den Regelbetrieb. In einem zweiten Realisierungsschritt erweiterten die IT-Fachleute des Landes das Backbone um weitere Strecken, um die Endsysteme in den Dienststellen anzuschließen.

Ende Mai 1996 fiel der Startschuß

Der flächendeckende Ausbau des LVN in Baden-Württemberg konnte Anfang 1996 - ein Jahr früher als geplant - abgeschlossen werden. "Die hohe Akzeptanz des neuen grafischen Netz-Management-Systems bei den Mitarbeitern, die gute Produktivität des Netzes und der von Anfang an sehr stabile Netzbetrieb haben den Ausbau des LVN beschleunigt", nennt Rolf Häcker, Leiter des Referats Technische Unterstützung beim GRZ, die Gründe für die schnelle Realisierung.

Ganz ohne Unstimmigkeiten ging die Realisierung des LVN-Backbone dennoch nicht vonstatten "Die von Datus aufgezeigte Perspektive, künftig HDLC-NEA ins X.25-Protokoll umzusetzen, erwies sich für uns als zu teuer", beschreibt Häcker. Datus habe für diese Konvertierung keinen Markt gesehen, sämtliche Kosten hätte somit das Land tragen müssen. Außerdem ließen sich nicht alle Modelle der Cisco-Router in einen Datus-WAN-Switch integrieren, da keine geeigneten Schnittstellen zur Verfügung standen. "Wir mußten in diesem Fall letztlich auf externe Cisco-Router-Systeme setzen. Außerdem kam es zeitweise zu Lieferengpässen bei Datus, denen wir mit größeren Vorlaufzeiten für eine rechtzeitige Anlieferung der Systeme begegnen mußten", äußerte sich der IT-Fachmann des Landes zum Verlauf des Projektes. Schwierigkeiten gab es auch mit der Deutschen Telekom, die nicht immer die Verbindungen im zugesagten Zeitrahmen bereitstellte.

Deutsche Telekom hält Zusage nicht ein

Ende Mai 1996 war es dann soweit. Das neue LVN wurde durch den damaligen Innnenminister Baden-Württembergs, Frieder Birzele, und den für das GRZ zuständigen Regierungspräsidenten, Udo Andriof, eingeweiht. 640 staatliche Dienststellen mit insgesamt 870 Rechnern und 35000 Benutzern tauschen seitdem Daten und Dokumente im LVN Baden-Württembergs. 730 Datenleitungen mit einer Gesamtlänge von 8500 Kilometern wurden dazu integriert. Die einzelnen Verbindungen wurden, je nach Übertragungsbedarf, als Fest- (DDV beziehungsweise MÜW) oder Wählverbindungen (ISDN) realisiert. Der Anschluß der lokalen Ethernet-, Token-Ring- und FDDI-Installation erfolgt mittels Cisco-Router über X.25. Damit haben die Teilnehmer im LVN auch Anschluß an beliebige externe, X.25-basierende Netze, unter anderem an das nationale Datex-P- und französische Transpac-Netz. Neben X.25 kommt TCP/IP als weiteres herstellerunabhängiges Protokoll im LVN zum Einsatz.

250000 Dokumente im schnellen Online-Zugriff wechseln heute pro Monat von Bildschirm zu Bildschirm. Die WAN-Switches vermitteln darüber hinaus zu den kommunalen Netzen, so daß über 530 Gemeinden erreichbar sind. Ein im GRZ eingerichteter zentraler elektronischer Postdienst ermöglicht, in unterschiedliche Textformate zu konvertieren, und schafft so unter anderem auch einen nahtlosen Dokumentenübergang in das SNA-spezifische "Disoss"-Mailing-System. Durchgängig ist der Dokumententransfer schon deshalb, weil man sich im LVN an den internationalen Standards X.400 und X.500 für E-Mail beziehungsweise Verzeichnisdienste orientiert.

Das neue LVN zahlt sich für das Land Baden-Württemberg durch direkt nachvollziehbare, hohe Kosteneinsparungen aus. "Die Einsparungen, die aus der Zusammenführung des Polizei-, Umweltverwaltungs- und Kultusverwaltungs-Netzes über einen Multiprotokoll-Backbone resultieren, sind beträchtlich", resümiert Häcker den Installationserfolg. "Die Tatsache, daß der Verkehr jetzt, statt über viele getrennte Netze mit gesonderten Leitungen, über einen Backbone mit wenigen Leitungen gelenkt wird, erspart Baden-Württemberg Jahr für Jahr zwei Millionen Mark", beziffert er den Kostenvorteil. Besonders stolz ist man darauf, daß man die Weiterentwicklung des LVN ohne neue Haushaltsmittel nur aus eingesparten Leitungskosten finanzieren konnte.

Zur Absicherung der Abläufe im Netz kommen ISDN-Backup-Verbindungen und redundante Stromversorgungs- und Knotensteuerungseinheiten in den WAN-Switch-Systemen zum Einsatz. Der ISDN-Backup läuft an S2M-Schnittstellen an den fünf Datus-Knoten im Backbone-Bereich auf. Im nächsten Schritt ist der Einsatz von Verschlüsselungstechniken geplant, um gleichzeitig die Daten vor unberechtigten Zugriffen zu sichern. In einem ersten Test stellte sich heraus, daß dieses Vorhaben kein leichtes Unterfangen wird. Johannes Freudenmann, Leiter des Sachgebiets LVN beim GRZ und verantwortlich für die technische Realisierung des LVN, beschreibt die Schwierigkeiten: "Wir mußten einen ersten Versuch abbrechen, weil Performance-Probleme auftraten, die nicht der Verschlüsselungstechnik zuzuordnen waren. Doch wir bereiten schon den nächsten Test vor."

Aktuell steht die Integration von Sprache im LVN und damit die Herausbildung eines Corporate Network an. Die WAN-Switches wurden bereits auf die kombinierte Übertragung von Sprache, Faxen und Daten vorbereitet. "Die ersten Tests zur Sprachübertragung über das LVN sind noch für 1996 vorgesehen", so Häcker. Im Vorfeld hat er sich zusammen mit Freudenmann über das mögliche Einsparungspotential durch die kombinierte Übertragung über Datenleitungen informiert und dabei das Gesprächs- und Faxaufkommen, deren Lastverteilung über den Tag und die einzelnen Tarifklassen genauer in Augenschein genommen. "Wir gehen bei der ersten Realisierungsstufe, das heißt Kopplung der Staatszentralen, von Einsparungen in Höhe von mehreren hunderttausend bis eine Million Mark pro Jahr aus", veranschlagt Häcker.

Natürlich wird man den Telefon- und Faxverkehr nicht landesweit, sondern nur dort, wo die kombinierte Übertragungsform sich lohnt, über die Datenleitungen lenken. "Die erste Realisierungsstufe wird dennoch nicht die letzte sein", prophezeit Häcker, "denn Corporate Networking dürfte sich für das Land Baden-Württemberg noch in weiteren Bereichen des LVN lohnen."

Weil netzweit viele TK-Anlagen-Modelle unterschiedlicher Hersteller zum Einsatz kommen, sind netzweite Dienste im Corporate Network nur über ein herstellerunabhängiges Signalisierungsprotokoll realisierbar. Die Landesverwaltung liebäugelt mit dem herstellerunabhängigen QSIG (Quer-Signalisierungs)-Protokoll. Erste Pilotversuche mit TK-Anlagen-Kopplungen über QSIG wurden bereits durchgeführt. Auch über den Einsatz von Sprach- und Least-Cost-Routing wird im GRZ in Stuttgart nachgedacht. "Sprach-Routing ist bei komplexen Netzkopplungen schon deshalb wichtig, weil nur so bei Einsatz von Sprachkomprimierung eine gute Sprachausgabe-Qualität erzielt werden kann. Andernfalls müßte nach jeder Teilstrecke dekomprimiert und anschließend wieder komprimiert werden, was unweigerlich zu Qualitätsverlusten führen würde", legt Friedmann die Überlegungen dar. Auch Least-Cost-Routing solle den Benutzern in komplexen Netzen auf keinem Fall überlassen werden. Zudem ebne Least-Cost-Routing einen Weg, auch externe Teilnehmer über den jeweils kostengünstigsten Austrittsknoten des Corporate Network zu erreichen. "Ob diese Funktionalitäten letztlich von den größeren TK-Anlagen oder vom Transportnetz mit den WAN-Switch-Systemen übernommen werden, ist aber noch nicht entschieden", bemerkt Freudenmann.

Parallel zum Weg ins Corporate Network wird man das LVN weiter auf die nachgeordneten Behörden wie Gemeinden und Landratsämter ausdehnen. Darüber hinaus sollen die sieben regionalen Rechenzentren, die bisher über das GRZ in Stuttgart elektronische Nachrichten mit dem LVN austauschen, an ihren Standorten direkt an das LVN angeschlossen werden.

Fünf Millionen Mark hat das Projekt LVN bisher gekostet. Dem stehen direkt nachvollziehbare Einsparungen in Höhe von jährlich zwei Millionen Mark entgegen - die Einsparungen und Arbeitserleichterungen durch den netzweiten transparenten Dokumentenaustausch nicht eingerechnet.

Angeklickt

Im Baden-Württemberg haben sich die für die IT-Technik der landesweiten Verwaltung zuständigen Fachleute zu einem durchgreifenden Projekt entschieden. Die Kosten für die gewachsenen, proprietären und dedizierten Verbindungen der Behörden drohten zu explodieren, so daß in einer Roßkur die gesamte Installation auf ein Multiprotokoll-fähiges Backbone konzentriert wurde. Der finanzielle Erfolg, die annähernd reibungslose Umsetzung, aber auch die Effizienzsteigerung ermutigte die Verantwortlichen, den eingeschlagenen Weg in Richtung eines landesweiten Corporate Network konsequent weiterzuverfolgen.

*Hadi Stiel ist freier Journalist in Bad Camberg.