Multimedia: Positionen in der Wertschoepfungskette besetzen

27.05.1994

Dr. Werner Knetsch

Arthur D. Little Inc., Berlin

Du hast keine Chance, aber nutze sie!" Das unter anderem von Achternbusch kolportierte Aperiu passt besser, als seine verquere Logik zunaechst vermuten laesst, auf Europas Position im Multimedia- Markt der Zukunft. Die 90er Jahre werden zur Dekade neuer Kommunikationsanwendungen:

- Die innovativen Anbieter - ausserhalb Europas - ruesten ihre Systeme mit Multimedia-Schnittstellen auf (AV-Macs von Apple), kooperieren (Apple und IBM), fusionieren (Aldus und Adobe, Electronic Arts und Broderbund) und bilden ganze Entwicklungstrusts (Apple, AT&T, Motorola, Sony, Philips, Matsushita, Toshiba, Fujitsu beim Multimedia-Software-Entwickler General Magic).

- Der Run bei der Frankfurter Buchmesse 1993 auf den neu eingerichteten Messesektor "Electronic Publishing" uebertraf alle Erwartungen, so dass fuer 1994 die doppelte Ausstellungsflaeche vorgesehen ist.

- Die Infrastruktur fuer Multimedia-Anwendungen ist vorhanden (ISDN) oder wird geschaffen (Euro-ISDN, Breitband-Glasfasernetz). Aber nur die USA und Japan haben Zeichen fuer den neuen Markt der Zeit gesetzt: Die Regierung Clinton propagiert und unterstuetzt den Information-Superhighway. Japan will bis zum Jahr 2000 insgesamt 56 Billionen Yen in ein landesweites Lichtwellenleiternetz investieren.

Und was tun die Europaeer, um die Positionen in der Multimedia- Wertschoepfungskette zu besetzen? Noch hat Europa nicht erkannt, dass die marktentscheidende Dimension der Anwendung sowie die Begriffe Marketing und Vertrieb als Schluessel zum kommerziellen Erfolg von Multimedia zu sehen sind. Noch ist zu wenig von europaeischer Beteiligung zu spueren, wenn es um die Entwicklung und Vermarktung wettbewerbsfaehiger Betriebssysteme, Standards und Applikationen geht.

Dabei hat Europa (fast) noch alle Chancen auf dem Anwendungsmarkt: OS/9 ist der Codename fuer eines der Multimedia-Betriebssysteme, an denen mit Hochdruck gearbeitet wird. Allerdings ist die "Killer- Anwendung", eine Art "MS-DOS fuer Multimedia", noch nicht in Sicht.

Der groesste Schatz der multimedialen Zukunft ist noch zu heben. Wann beteiligen sich die Europaeer an Standardisierungsbemuehungen, die mit JPEG und MPEG sowie Script-X bereits Markt-Impact gewinnen? Drei Anwendungssegmente - mit unterschiedlichen Marketing- und Vertriebsvoraussetzungen - zeichnen sich im Bereich der Applikationen ab:

Media-Entertainment and -Services zielen auf den privaten Konsumenten und Anwender. PC-Fernverbindungen und interaktives Fernsehen bieten eine Fuelle von Moeglichkeiten, marktattraktive Angebote zu entwickeln. Banken und Versicherungen offerieren ihr gesamtes Leistungsspektrum, aus dem der Kunde sich das spezielle Angebot fuer die spaetere Beratung auswaehlt. Touristikunternehmen schicken Video- und Animationspraesentationen ins Wohnzimmer mit der Moeglichkeit, von hier aus den Pavillon am Traumstrand sofort zu buchen. Versandhaeuser offerieren ihr Katalogangebot zum interaktiven Tele-Shopping. Architekten und Immobilienmakler lassen dank Cyberspace-Visualisierung den Kunden die Entwurfs- beziehungsweise Kaufobjekte in 3D-Darstellung zu Hause am Monitor besichtigen. Krankenkassen halten fuer ihre Mitglieder Videoclips mit Ernaehrungstips, Fitnessprogrammen und sonstiger Gesundheitsvorsorge bereit, deren Informationen in Datenbanken abrufbar sind und vom Mitglied selbst ausgedruckt werden koennen.

Computer-Based Training (CBT) als Sammelbegriff fuer PC-gestuetzte Lernsysteme stellt in Schule und Ausbildung, Forschung und Lehre, betrieblicher Schulung und Weiterbildung eine ideale Ergaenzung bestehender Lehr- und Unterrichtstechniken dar.

Media-Communications richten sich an den professionellen Anwender in Industrie, Dienstleistung und Verwaltung. Diese Anwendungen sind ohne Zweifel geeignet, die ganze Art und Weise, wie Geschaefte abgewickelt, Services erbracht und professionelle Leistungen erstellt werden, von Grund auf zu veraendern. Das in multimedialen Anwendungen steckende Innovationspotential ist geeignet, enorme Gestaltungsspielraeume zu eroeffnen und Veraenderungsschuebe auszuloesen wie beispielsweise: voellig neue Entwicklungs-, Fertigungs- und Arbeitsmethoden (Tele-Engineering und -Working) zu schaffen, die oeffentliche Verwaltung von Grund auf zu rationalisieren (Tele-Administration) und das Transport- und Verkehrswesen neu zu organisieren (Tele-Commuting, Tele-Traffic).

Wenn die Aufbruchssignale ins multimediale Zeitalter Europas jetzt nicht sofort kommen, gehoeren die aktuellen Zukunftschancen bald der Vergangenheit an.u