Multimedia-Experiment in der Informatik

Münchner und Aachener Studenten sitzen gemeinsam im virtuellen Hörsaal

19.05.2000
Zwei Wissenschaftler bereiten ihre Studenten schon jetzt auf die Zukunft vor. Die Vorlesung findet in Aachen statt, und in München verfolgen die Studenten via Videokonferenz den Vortrag.Von Winfried Gertz*

Otto Spaniol, Professor an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen, hält vor einem spärlich besetzten Auditorium seine Vorlesung zum Standard RFC148, als ihn die Technik im Stich lässt. Unruhe macht sich breit - allerdings nicht unter den Studenten. Die wissen nämlich nicht, dass sich die Datenleitung auf dem Weg vom tiefen Westen nach Bayern eine Auszeit nimmt. Derweil freuen sich etwa 30 Studenten der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München über die unfreiwillige Pause, die ihre Multimedia-Vorlesung über Telekommunikationsdienste unterbricht.

Dozenten suchen nach neuen Ansätzen, um die Studenten besser auszubilden und schneller an die Praxis heranzuführen - der Wettbewerb um junge Leute und Forschungsgelder lässt den Hochschulen schließlich keine Wahl. Auch Claudia Linnhoff-Popien, frisch berufene Informatikprofessorin an der LMU, profilierte sich gegenüber der Universitätsleitung mit ihrer Idee, mehr Phantasie ins Studium zu bringen. "Ich war überrascht, wie schnell man mir unter die Arme griff." Fürs Erste sind mit dem gesponserten fünfstelligen Betrag für die virtuelle Vorlesung zwischen Aachen und München die Kosten für Hard- und Software gedeckt. "Bei der Videokonferenzlösung favorisieren wir unsere Eigenentwicklung. Was uns von der Industrie angeboten wurde, hielt unseren Anforderungen nicht stand."

Während Linnhoff-Popien und ihr Aachener Kollege Spaniol von ihrem Experiment angetan sind und sich bereits überlegen, in den virtuellen Hörsaal noch mehr Zeit und Gehirnschmalz zu investieren, hält sich die Begeisterung unter den Studenten in Grenzen. "Gott sei Dank", erinnert sich Manfred Schamper, "sind die permanenten Abstürze in den ersten Vorlesungen inzwischen vergessen." Gemeinsam mit seinem Kommilitonen Falk Giemsa sitzt er in der letzten Reihe und lässt die ein wenig ruckelnde Videoübertragung aus Aachen lässig über sich ergehen.

Für den modernen Vorlesungstyp sprechen gute Argumente. Mehr Interaktion, räumt Junginformatiker Giemsa ein, sei eine tolle Sache. Vom Potenzial her könnten solche Vorlesungen dazu beitragen, dass sich auch Koryphäen einklinken, die keine Zeit haben, zur Uni zu kommen. Außerdem brächte Multimedia frischen Wind in die Hörsäle, wo noch immer Kreide, Tafel und Folien die Hochschuldidaktik bestimmen. Gelegenheit, sich auszutauschen, haben Professoren und ihre Studenten nun genug. Folien und Skripte stehen im Internet zum Abruf bereit. Doch statt sich mit Fragen auf die andere Seite zu "beamen" und so den eher drögen Seminarcharakter aufzupeppen, halten sich die Studenten auffallend zurück.

Spaniol überrascht das nicht. Im Unterschied zu geisteswissenschaftlichen Fächern, wo der Diskurs im Vordergrund steht, sind technische Disziplinen wie die Informatik in der Lehre noch sehr stark vom Sender-Empfänger-Modell geprägt. "Ex cathedra" wird das Wissensfüllhorn über die Studenten ausgeschüttet. Nicht daran gewöhnt, sich aktiv in den Unterricht einzuschalten, können sie auch mit Hilfe interaktiver Technik nicht über ihren Schatten springen. "Die psychologische Hemmschwelle ist groß", beobachtet Linnhoff-Popien.

Den Studenten, die in der Vorlesung sitzen und allesamt das Vordiplom hinter sich haben, sind solche Überlegungen schnuppe. Sie denken eher an''s Geldverdienen. Schamper, der sich Anfang 2001 zum Examen anmelden will, arbeitet als freier Datenbankspezialist seit 18 Monaten für eine große Internet-Agentur: "Wenn ich wollte, könnte ich dort sofort anfangen." Vom ersten Semester an hat er als IT-Experte gejobbt, um die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken.

Genauso wie sein Kommilitone weiß auch Giemsa, wo es lang geht. Noch in diesem Jahr wird er das Studium abschließen. Bei Intel hat er in einem internationalen Team mitgearbeitet, das die europäischen Handelskanäle nach Verbesserungen durchforstet. Zuvor eignete er sich bei der Advance Bank Methoden der Programmierung und Systemtechnik an. Er empfiehlt Studenten, die früh den Einstieg in die Arbeitswelt suchen, sich auf dem Praktikums-Server der Uni Mannheim registrieren zu lassen. "Da gibt es die besten Adressen."

Neue Seminarkonzepte wie die Multimedia-Vorlesung der Professoren Linnhoff-Popien und Spaniol sind für beide Studenten - trotz ihrer Kritik - eine tolle Sache. "Wer heute das Informatikstudium aufnimmt", so Schamper, "wird bald viele dieser Veranstaltungen besuchen können."

Doch in der Wissenschaft geht nichts ohne Experiment. "Wir müssen ermitteln, wie unsere Ideen bei den Studenten ankommen", stellt Spaniol klar. Man könne es auch übertreiben mit dem neumodischen Schnickschnack in der Hochschulbildung. Wichtiger als jedes "Styling für verwöhnte Kunden", so Spaniol, sei der Lerneffekt. Angesichts unzureichender Netzstrukturen, eines hohen Anfertigungsbedarfs von interaktiven Bildungsangeboten sowie chronisch leerer Kassen dürften die Erwartungen der Studenten aber nicht zu hoch ausfallen. "Konventionelle Seminare und Vorlesungen werden jedenfalls nicht verschwinden", so der Aachener Wissenschaftler.

* Winfried Gertz ist freier Journalist in München.