Großrechner allerorten - und keiner, der sie bedienen kann

Monster im Keller: Da hilft nur noch beten

12.07.2002
MÜNCHEN - Lange galten Großrechner als hoffnungslos veraltete Technologie. Client-Server, Java, Unix: Alles war en vogue, wenn es nur nicht den Stallgeruch des Mainframes besaß. Doch nicht erst, seit Großrechner um Internet-Befähigungen erweitert wurden, sind die Monster im Keller wieder aktuell - nur ist niemand mehr da, der sie bändigen kann.

"Wenn in meinem Lebenslauf steht, dass ich mal ein RPG-Programm geschrieben habe, sinkt doch mein Marktwert sofort!" Peter Barysch, der als Manager Business Intelligence bei DHL Worldwide Express GmbH für die IT-Infrastruktur zuständig ist, muss heute noch lachen, wenn er sich an diesen Satz eines jungen Bewerbers erinnert. Ihm gegenüber saß ein hoffnungsvoller Kandidat, der bei dem international operierenden Logistikunternehmen wegen einer Anstellung verhandelte. Beim Thema Großrechnerwelt stieg der Nachwuchs aus: rückwärtsgewandte Technologie! No Future!

Da sinkt der Marktwert

"Junge Bewerber wollen sich nicht mehr mit Großrechnersystemen abgeben", sagt Barysch. Sein damaliger Jobkandidat habe erklärt, er müsse mit Java auf dem Laufenden bleiben und vielleicht noch mit der Scriptsprache PHP Hypertext Processor (PHP). Mit diesen Technologien wolle er sich gerne auch Projektmeriten erwerben. Aber in der Welt der Mainframes reüssieren? Niemals!

Solche Phobie ist weit verbreitet und droht sich für deutsche Konzerne schon in naher Zukunft zu einem ernsthaften Problem auszuwachsen: In den Kellern insbesondere der Versicherungs- und Bankenkonzerne, aber auch mittelständischer Unternehmen, stehen IT-"Monster", auf denen in PL1, Cobol oder Assembler geschriebene und für die Unternehmen unverzichtbare Kernanwendungen unter vorgeblich veralteten MVS-, VM- oder VSE-Betriebssystemen laufen.

"Die wagt niemand mehr anzufassen, weil sich keiner mehr damit auskennt", sagt ein Berater, der nicht genannt werden will. Sein Unternehmen versteht sich auf solche Probleme und hilft Firmen mit Großrechnern, denen das Know-how für diese komplexen Systeme buchstäblich wegstirbt. So einen misslichen Umstand zugeben zu müssen ist den Betroffenen natürlich außerordentlich peinlich. Also schweigt sich der Berater über seine Kunden aus. "Jeder in diesen Firmen betet in seinem stillen Kämmerlein, dass ihre Großsysteme einfach weiter vor sich hinarbeiten, ohne Fehler zu produzieren."

Einfach vor sich hinarbeiten - das ist leichter gesagt als getan. Als die Hypo-Vereinsbank aus München im Oktober 2001 den schlimmsten anzunehmenden Computer-Crash durchlitt, ging nichts mehr bei den bayerischen Bankern. Kein Kontoauszug langte mehr beim Kunden an, Bankautomaten spuckten kein Geld aus, die Rechnersysteme der Filialen streikten wieder und wieder. Unklar blieb, ob die Probleme in einer Fehlfunktion der IBM-Mainframes sowie der dort lagernden DB/2-Datenbank zu suchen waren oder durch einen massiven Virenbefall verursacht wurden. Ein völlig entnervter Münchner Filialarbeiter stöhnte nur noch: "Wir sind total aufgeschmissen. In der Schalterhalle ist die Hölle los."

Kai Nowak, früher selbst bei einer Bank in leitender Position für die IT zuständig und jetzt bei dem Hamburger Beratungsunternehmen Maturity Consulting GmbH für deutsche Großkonzerne tätig, hält es für besorgniserregend, dass das Wissen um Host-Systeme zunehmend verloren geht: "Viele Verantwortliche in den Unternehmen sagen sich ,Never touch a running system'' und lassen die Maschinen einfach weiterlaufen."

Diese Vogel-Strauß-Politik ist sehr gefährlich. Das Wissen um die Funktionsweise eines Mainframes trockne rapide aus. Nowak mahnt: "Viele Konzerne sollten sich mal bewusst werden, dass rund zehn Prozent ihrer IT-Mitarbeiter jetzt schon fast im Rentenalter sind. Das sind aber gerade die Leute mit dem Know-how über die Verflechtungen der Host-Systeme mit der gesamten übrigen Firmen-IT-Struktur. Diese Experten gehen den Unternehmen relativ kurzfristig verloren."

Das wahre Evangelium

Bei DHL ist dieses Problem erkannt, aber keineswegs völlig gebannt - obwohl der Logistiker heute nur noch Unix-Server einsetzt. "Wir haben zwar mittlerweile nur noch Unix-Systeme, aber die Anwendungen, die auf diesen Servern im Emulationsmodus laufen, stammen teilweise noch aus der Zeit, als wir Großrechner benutzten", erklärt IT-Mann Barysch.

Die Applikationen basieren auf RPG. Für den Listgenerator noch Leute zu finden "ist heute sehr schwer". DHL beschäftigt zwei langjährige Mitarbeiter, die sich mit RPG auskennen. Unter anderem hatte DHL vom Arbeitsamt einen arbeitslosen Programmierer angeheuert, der sich in die Thematik gut einarbeitete.

An den deutschen Hochschulen aber verkommen Großrechner eher zum Unwort. Professor Wilhelm Spruth, der Lehraufträge an den Universitäten unter anderem in Leipzig und Tübingen hat, ist, wie er selbst im Gespräch sagt, "auf einem Kreuzzug, um das wahre Evangelium zu lehren". Er hält mit seiner Kritik an der Vernachlässigung der Mainframe-Thematik in den Lehrplänen der Hochschulen nicht hinter dem Berg. Die Studenten treffe keine Schuld: "Die sind ja zum Glück sehr neugierig und wissbegierig. Und da sie etwa von einem Betriebssystem OS/390 noch nie was gehört haben, gehen sie auch ohne Vorurteile an Großrechnerfragestellungen ran. Das finden sie richtig gut und interessant." Die Crux liegt, sagt Spruth, eher bei der Professorenschaft. Die führten Studenten wegen der herrschenden Vorurteile über die rückwärtsgewandte Technologie von Mainframes gar nicht mehr an dieses Thema heran. "Das ist aber alles Aberglaube", wettert der streitbare Hochschullehrer.

Cobol kann man erwarten

Ganz unvoreingenommen ist Spruth allerdings nicht. Immerhin stand er früher in IBM-Diensten im Forschungslabor Schöneich bei Böblingen. Dort ist Big Blues Think Tank für die Entwicklung von Großrechnerprozessoren und Betriebssystemen beheimatet. Man kann nachvollziehen, dass sich Spruth auch heute noch für die Technologie dieser Großsysteme begeistern kann - und dass er "beim Fundraising durchaus wissen könnte, an welche Türen man anklopfen kann", wie es IBM-Sprecher Hans-Jürgen Rehm ziemlich dezent auszudrücken versteht.

Spruth, der Teilhaber der Schwarz, Prof.Spruth & Associates Unternehmensberatung AG & Co. KG mit Hauptsitz in Stuttgart ist, bietet Studenten außer in Leipzig und Tübingen auch an der Universität Chemnitz und an den Fachhochschulen Darmstadt und Bochum eine Großrechnerausbildung an. Über das Internet und das deutsche Forschungsnetz können sich die Studiosi auf einen vollwertigen OS/390-Rechner aufschalten, der in Leipzig zu Ausbildungszwecken installiert wurde (http://jedi.informatik.uni-leipzig.de). Die Studenten können mit einem 3270-Client einfache Übungen und Tutorien auf diesem Rechner abarbeiten. Für seinen "Feldzug", den er als "Spiritus rector" gemeinsam mit seinen Kollegen Paul Herrmann und Udo Kebschul führt, erhält er keine Fördergelder aus Berlin. Die Informatikfakultäten seien finanziell ohnehin in Kalamitäten. Es blieben ausschließlich private Sponsoren.

Den Hochschülern sollen vor allem Anwendungskenntnisse beigebracht werden, "denn von einem Studenten im Hauptstudium kann man erwarten, dass er sich selbst schnell in eine Programmiersprache wie Cobol einfindet". Auf der Homepage der Universität Leipzig bieten Spruth, Herrmann und Kebschul deshalb auch zuvörderst anwendungsspezifische Übungen an.

Den Studenten werden nicht nur die traditionellen Zugriffsmethoden erklärt, bei denen über das 3270-Protokoll ein Cics-Programm genutzt wird. Die zukünftigen Hosties - wie die Experten für die Großrechner-Hosts gerne genannt werden - lernen hier auch, wie man Cics-Anwendungen via Java Server Pages (JSP) und Java Servlets verfügbar macht.

Solche Kenntnisse sterben heutzutage mit den auf den Ruhestand zusteuernden System- und Anwendungsprogrammierern in den Großunternehmen langsam aus. Wer da auf dem Arbeitsmarkt nach Host-Experten sucht, wirft auch schon mal alte Gewohnheiten über Bord, um fündig zu werden. Neulich habe er sogar zwei von Headhuntern vermittelte Leute eingestellt, "das tue ich sonst nie", sagt Andreas Emhart. Emhart ist Geschäftsführer der Alegri International Service GmbH, eines Münchner Beratungsunternehmens, das erst seit einem halben Jahr existiert.

Alegri bietet System-Management-Dienstleistungen für die Großrechnerumwelt an, darüber hinaus Support für das gesamte Mainframe-Umfeld. Die Alegri-Mitarbeiter schreiben etwa Gateways für die OS/390-Umgebungen, um Altanwendungen, die nicht abgelöst werden sollen, funktionell so zu erweitern, dass mit modernen Schnittstellen darauf zugegriffen werden kann. Die beiden neuen Kollegen, erklärt Emhart, konnten Erfahrungen mit PL1 vorweisen, hatten Schnittstellen geschrieben, um auf XML zu kommen: "Solche Leute sind für uns absolute High Potentials, die wir aus dem Stegreif einstellen."

Der Alegri-Geschäftsführer spricht ein Thema an, dass Informatikstudenten eigentlich brennend interessieren sollte: das der Zukunftsperspektiven. Nicht nur Professor Spruth singt nämlich das Hohe Lied des Großrechners. Harald Keinki, Gruppenleiter der Anwendungsentwicklung bei der Hypo-Vereinsbank in München, ist der festen Überzeugung, dass im Großrechnerumfeld mittelfristig mehr Jobs zu finden sein werden. Das liege einfach daran, dass in den Unternehmen bei weitem nicht so schnell dezentrale IT-Strukturen aufgebaut würden, wie es Leute gebe, die in diesen Bereichen arbeiten wollten. Zudem böten sich dem Großrechnerexperten langfristig auch mehr Perspektiven. Wer das als junger Mensch mit Informatikausbildung nicht gewahr werde, der verspiele Zukunftsaussichten.

Keinki konzediert, dass auch deutsche Universitäten an der Malaise Schuld trügen. "Kenntnisse über Cics, DB2, PL/1, IMS etc. werden da nicht mehr gelehrt. Das müssen wir neuen Mitarbeitern alles selbst beibringen." Da sind sogar die Lehrpläne für DV-Kaufleute bei den IHK-Instituten zukunftsträchtiger. Deren Ausbildung ist, sagt Unternehmensberater Nowak, "noch stark historiengetrieben", berücksichtigt also etwa die Programmiersprache Cobol.

Trübe Aussichten: Schon relativ kurzfristig könnten sich deutsche Unternehmen mit der bedrohlichen Situation konfrontiert sehen, dass sie nicht einmal mehr "Rentner auftreiben können, die sich mit Großrechnern auskennen", wie der IT-Verantwortliche des Flughafens Münchens, Michael Zaddack, ein wenig maliziös sagt. München II schaltet gerade das letzte BS/2000-Fossil ab, alle wesentlichen Anwendungen laufen ohnehin auf Unix-Systemen. Insofern haben die Leute vom Franz-Josef-Strauß-Airport ein gravierendes Problem nicht. Dieses dürfte sich anderswo noch kräftig auswachsen. Meint Zaddack: "Etwas zynisch gesprochen, irgendwann gibt es die Rentner mit dem Großrechner-Know-how ja auch nicht mehr." Und dann hilft vielleicht wirklich nur noch beten.

Jan-Bernd Meyer, jbmeyer@computerwoche.de

Nicht normal

Bei Alegri ist normal, was man sonst in den IT-Zentralen Deutschlands wohl als absurdes Theater bezeichnen würde: "Die 28 Mitarbeiter sind im Schnitt 54 Jahre alt, der älteste ist 63", sagt Geschäftsführer Andreas Emhart. Alegris Oldies but Goldies verdienen richtig gut: "Wir zahlen im Schnitt 20 Prozent mehr als ein Mitarbeiter in vergleichbarer Position sonst verdienen würde. Unsere Spitzenleute, die auch eine entsprechende Ausbildung etwa bei IBM hatten, bekommen Gehälter zwischen 92000 und 115000 Euro im Jahr", sagt Emhart. Er spreche übrigens nicht von Projektleitern, sondern "nur" von Systemleuten. Kleine Einschränkung von Emhart: "Ja klar, gut müssen sie schon sein."

Hosties haben mehr Geld

Dass Informatiker mit Mainframe-Kenntnissen in der Regel besser verdienen als solche, die sich auf die Unix- und Windows-Welten konzentrieren, zeigt eine Gulp-Studie vom Juni 2001. Unter dem Titel "MVS wieder gefragt" hatte Gulp Information Services die Situation am Markt für IT-Projekte untersucht und dabei insbesondere die Perspektiven für die Betriebssysteme MVS beziehungsweise OS/390 im Vergleich zu Unix und Windows NT geprüft (http://www.gulp.de/kb/mk/chanpos/mvsgefragt_f.html). Dabei recherchierten die IT-Projektgeschäft-Dienstleister auch die durchschnittlichen Stundensätze von MVS-, Unix- und Windows-NT-Spezialisten: Die Großrechnerexperten verdienten danach im vergangenen Sommer durchschnittlich 155, ihre Unix-Kollegen 147 Mark pro Stunde. Die NT-Fachleute wurden mit 133 Mark um glatte 14 Prozent schlechter bezahlt als die Hosties. Der Marktwert von Mainframe-Spezialisten ist allem "Aberglauben" zum Trotz also ungebrochen. Ihre Verdienstmöglichkeiten liegen teilweise weit über denen von Unix- und Windows-Fachleuten.