Sturzprophylaxe-Maßnahmen

Mobilitätsanalyse per KI-App

15.10.2021
Von 
Felix Schulz ist Journalist in Hamburg.
Maßnahmen zur Sturzprophylaxe können dank künstlicher Intelligenz per App erfolgen. Das eröffnet neue Wege für eine patientenzentrierte und präventionsorientierte Gesundheitsversorgung.
Mit zunehmendem Alter wächst die Gefahr von Stürzen. Eine KI-gestützte App soll dies nun verhindern.
Mit zunehmendem Alter wächst die Gefahr von Stürzen. Eine KI-gestützte App soll dies nun verhindern.
Foto: PattyPhoto - shutterstock.com

Mit künstlicher Intelligenz Stürze im Alter verhindern - was nach einer fernen Zukunftsvision klingt, ist in vielen Alten- und Seniorenheimen in Deutschland bereits Pflegealltag. Mit der SturzApp von Lindera, einem Deep-Tech-Unternehmen aus Berlin, können Pflegekräfte anhand eines 30-sekündigen Smartphone-Videos sowie eines psychosozialen Fragebogens das individuelle Sturzrisiko von Senioren und Seniorinnen ermitteln und auf dieser Grundlage Maßnahmen zur Sturzprophylaxe einleiten.

Sturzprophylaxe: Per 3D-Algorithmus zum Maßnahmenkatalog

Die SturzApp ist als Medizinprodukt anerkannt und kommt ohne zusätzliche Hardware oder spezielle Sensoren aus. Das ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Zum einen, weil die verwendete Technologie erstmals 3D-Analysen der Gangbewegung mit einer einfachen Smartphone-Kamera möglich macht. Zum anderen, weil Lindera mit seiner Messgenauigkeit mit dem derzeitigen Goldstandard in der Wissenschaft, dem GaitRite System, mithalten kann.

Um dies zu erreichen, wird ein selbst entwickelter und patentierter 3D-Algorithmus verwendet. Er ermöglicht es, Bewegungen von Personen millimetergenau zu erfassen und diese in ein präzises, digitales 3D-Bild zu überführen. Neben einer detaillierten Ganganalyse liefert die SturzApp einen individuellen Maßnahmenkatalog zur Sturzprophylaxe, der passgenau auf die Bedürfnisse der Senioren zugeschnitten ist und deren körperliche Mobilität fördern bzw. erhalten soll.

Um die Sturzgefahr zu ermitteln, analysiert die KI der SturzApp ein kurzes Smartphone-Video
Um die Sturzgefahr zu ermitteln, analysiert die KI der SturzApp ein kurzes Smartphone-Video
Foto: Lindera GmbH

Technisch erfolgt die Analyse in vier Schritten. Zuerst testet ein Modul das Video auf die benötigte Qualität, um die Funktionsweise des folgenden Moduls zur Skelettschätzung technisch zu gewährleisten. Der Skelettschätzer liest dann das Video Bild für Bild ein und schätzt das Skelett mit den Gelenk-Koordinaten des Menschen auf dem Bild im dreidimensionalen Raum in Millimetern. Hierzu verwendet das Modul auf Bildverarbeitung spezialisierte neuronale Netze. Diese extrahieren zunächst das Skelett in 2D und transformieren es dann ins 3D. Im nächsten Schritt werden auf Basis der vorher geschätzten Gelenkdaten verschiedene Mobilitäts-Parameter berechnet. Diese bestehen einerseits aus Parametern des Ganges wie Schrittlängen, Schrittzeiten, Schrittgeschwindigkeit, Schritthöhen und Kadenz. Andererseits berechnet das Modul sämtliche Winkelparameter an den Körpergelenken zeitlich aufgelöst über das gesamte Video. Abschließend generiert ein Analyse-Modul einen individuellen Report auf Basis der berechneten Mobilitäts-Parameter.

Innerhalb des modularen Algorithmus spielt der Skelettschätzer eine zentrale Rolle. Die Validität der Mobilitätsparameter und die Validität der Analyse hängen von der raum-zeitlichen Präzision des Skelettschätzers in hohem Maße ab. Die neuesten Skelettschätzer auf Basis von neuronalen Netzen haben anhand von Millionen von Bildern mit den zugehörigen Skelettsensordaten als ground-truth Label gelernt, Tiefeninformation aus Bildern zu schätzen. Nur mit der Hilfe dieser anatomisch korrekten Skelettdaten ist der Algorithmus zur Berechnung der Mobilitätsparameter in der Lage, Gangparameter mit einer hohen Präzision und Validität auszugeben.

Lindera wurde 2017 von Diana Heinrichs gegründet, die zuvor für Microsoft Deutschland als Communications sowie Business Development Managerin tätig war. Seitdem entwickelt das Unternehmen 3D-Motion-Tracking-Systeme für die Hosentasche. Zu Anfang standen für das Start-up ausschließlich die Sturzprophylaxe bzw. die Entwicklung der SturzApp im Mittelpunkt. Inzwischen hat sich die Company zu einem Tech-Spezialisten mit mehr als 40 Beschäftigten entwickelt, dessen 3D-Algorithmus in verschiedenen Bereichen - auch abseits der Pflege - Anwendung findet.

KI analysiert Sturzrisiko: Pionierarbeit für die Pflege von morgen

Mittlerweile nutzen viele Pflegeeinrichtungen in Deutschland die App. Seit Anfang 2019 verwenden etwa Pflegekräfte im Korian Haus Gartenstadt Berlin die digitale Mobilitätsanalyse zur Sturzprophylaxe und um systematisch die Mobilität der Bewohner zu fördern. Von der Mobilitätsanalyse per App profitieren nicht nur die Senioren, sondern auch die Pflegekräfte, die mehr Zeit für ihre Kernaufgaben haben. Schließlich war mit traditionellen geriatrischen Assessments ein erheblicher Aufwand verbunden, denn Gangbildanalyse dauerte häufig 45 Minuten. Mit der SturzApp hat sich dies auf durchschnittlich acht Minuten reduziert. Hilfreich war hier auch die Integration ins bestehende Pflegedokumentationssystem DANtouch.

Zudem fördern etliche Krankenkassen den Einsatz der Mobilitätsanalyse fördern und schieben so die digitale Versorgung in der Pflege an. So sind zum Beispiel im Rahmen einer Kooperation zwischen der AOK Niedersachsen, der KKH und Lindera erst kürzlich weitere dreißig stationäre Einrichtungen mit der SturzApp ausgestattet worden. In einer gemeinsamen Studie mit der AOK Baden-Württemberg, in der über einen Zeitraum von 20 Monaten (September 2019 bis Mai 2021) App-Daten von 94 Senioren sowie Feedback-Fragebögen von 16 Pflegekräften und 24 Senioren aus 16 stationären Pflegeeinrichtungen evaluiert wurden, reduzierte sich der Sturzgrad um 17,8 Prozent von Erst- zu Folgeanalyse. Gleichzeitig verbesserte sich die Ganggeschwindigkeit der Senioren um 16 Prozent.