"Mit Standards allein können wir nicht überleben"

20.07.1990

Mit Werner Brockhagen, Vorstandsvorsitzender der Bull AG, Köln, sprachen die CW-Redakteure Beate Kneuse und Heinrich Seeger

CW: Herr Brockhagen, Sie waren einige Jahre im Topmanagement des Workstation-Spezialisten Apollo in den USA tätig; dann arbeiteten Sie fusionsbedingt bei Hewlett-Packard. Jetzt sind Sie Vorstandsvorsitzender der deutschen Niederlassung eines französischen Computerherstellers. Wie ist dieser letzte Wechsel zustande gekommen?

Brockhagen: Nachdem Hewlett-Packard Apollo übernommen hatte, unterstützte ich HP, indem ich mich um die Integration der International Operations von Apollo, insbesondere aber um die der japanischen Niederlassung, der größten Apollo-Tochter, in die HP-Organisation gekümmert habe. Danach jedoch war klar, daß mir HP weder in USA noch in Europa einen adäquaten Job würde bieten können. Zudem hatte ich einige gute Angebote. Als ich dann beinahe schon mit einem Fuß bei einem Unternehmen in Kalifornien war, trat die Gruppe Bull an mich heran. Nach zwei Gesprächen mit allen Executives des Topmanagements war ich davon überzeugt, daß die Position des Vorstandsvorsitzenden bei der Kölner Bull AG aufgrund meiner Erfahrung die richtige Aufgabe ist. Eine gestandene Organisation wie die Bull AG stellt ganz andere Anforderungen an einen Manager als beispielsweise ein "Start-up".

CW: Auch eine neue Herausforderung?

Brockhagen: Sicher. Bull ist ein etabliertes Unternehmen, das über Jahrzehnte hinweg gewachsen, wie alle großen General-Purpose-Anbieter aber ein wenig träge, unflexibel geworden ist. Es gilt jetzt, die Gruppe wie auch die Bull AG an die neuen Gegebenheiten des Marktes anzupassen. Dies hat das Management in Frankreich klar erkannt. Dort existieren zudem genaue Vorstellungen, wo das Unternehmen hin muß, wie sich Bull verändern muß, um im Verdrängungswettbewerb mithalten zu können und letztlich zu den Überlebenden in der Computerindustrie zu gehören. Deshalb wurde für die Bull AG ein Mann gesucht, der natürlich Deutscher ist, der vor allem aber internationale Erfahrung mitbringt, um so den europäischen Anforderungen der Bull-Gruppe Rechnung tragen zu können. Hierzulande ist die Zahl der Kandidaten, die diesen Ansprüchen genügen, immer noch recht klein.

CW: Wie sehen denn die Zielsetzungen, die Visionen der Bull-Gruppe aus? Wie wollen Sie diese umsetzen?

Brockhagen: Im Vordergrund steht für Bull der Trend hin zu Standards, die Veränderung von der proprietären Systemwelt in die offene DV-Landschaft. Wir bieten im unteren Bereich Unix-Produkte an, werden aber auch im oberen Leistungsbereich, speziell bei kommerziellen Anwendungen, die Fortentwicklung von Unix beobachten.

Sollte es sich bei den klassischen Mainframes durchsetzen, werden wir Unix auch hier zugweise einsetzen. Wir haben uns fest vorgenommen, im Unix-Geschäft weltweit und auch in Deutschland ein gewichtiges Wort mitzureden.

CW: Wie wollen Sie aber in diesem doch hart umkämpften Markt letztlich den Gewinn herausholen?

Brockhagen: Natürlich könnten wir nicht überleben, wenn wir nur Standards anbieten würden. Dazu haben wir eine zu große, gewachsene Organisation, die mit Standards nicht gehalten werden kann.

Unser Ziel ist es, Standards mit Hilfe von gezielten Lösungen für verschiedene Branchen zu realisieren und im nächsten Schritt schließlich zur Systemintegration zu kommen. Bull hat heute schon alle Tools, um beispielsweise ein heterogenes Netzwerk zusammenzubinden. Dies gilt es allerdings ebenfalls noch weiter auszubauen - unter Umständen auch durch den Zukauf von Fremdhardware und -software. Darüber hinaus unternimmt die Gruppe einige Anstrengungen, um im Bereich Manufacturing, sprich: CIM, besser noch als bisher als Generalanbieter auftreten zu können.

CW: Ist denn CIM tatsächlich noch ein Bereich, für den es sich lohnt, Produkte zu entwickeln und anzubieten?

Brockhagen: Es lohnt sich, wenn man die flächendeckende Organisation hat. In Deutschland muß es sich sogar lohnen, weil wir hier den klassischen CIM-Markt haben. Kein anderes Land verfügt prozentual über so viele mittelständische und große Unternehmen, die im Bereich der Fertigung tätig sind.

CW: Nur hat man vor drei, vier Jahren den Fehler gemacht, zu schnell und zu unvorbereitet an diese Unternehmen herangegangen zu sein, mit Patentlösungen zu werben, die es gar nicht gab. Damit hat man einigen Schaden angerichtet.

Brockhagen: Sie haben recht. Viele DV-Hersteller sind vorausgeeilt, ohne den Kunden die Gesamtlösung anbieten zu können - und sind in einer Sackgasse gelandet. Wir hingegen bieten jetzt ein durchgängiges Spektrum mit Produkten, Beratung und Service an und sind sicher, damit einen wachsenden Teil Unserer Umsätze bestreiten zu können.

CW: Sie heben Bull immer wieder als das große Unternehmen hervor.

Brockhagen: Lassen Sie mich das gleich relativieren. Mit der Bezeichnung "groß" meine ich, daß Bull eines der wenigen Unternehmen ist, die ein globales Produktspektrum anbieten - vom PC bis hin zum Mainframe.

CW: Das aber macht das Agieren am Markt schwierig.

Brockhagen: Ein globales Produktangebot birgt natürlich Gefahren. Als ordentlicher Unternehmer ist es meine Aufgabe, Gewinne zu erwirtschaften. Mit der AG aber gehören wir noch lange nicht zu den Großen, haben nicht den Marktanteil, den wir benötigen, um eine solch große Spanne von Produkten auf Dauer erfolgreich zu vermarkten, müssen also noch wachsen. Von daher müßte ich eigentlich die Produktpalette beschneiden, mehr Mitarbeiter auf weniger Produkte ansetzen. Die Strategie der Bull-Gruppe aber ist es, ein General-Purpose-Anbieter zu bleiben. Somit muß auch die deutsche Tochter as breite Marktsegment weiter abdecken. Wir haben jetzt zu prüfen, wie wir einerseits aus fokussierter interner Stärke heraus wachsen und weitere Marktanteile gewinnen können, und welche externen Maßnahmen andererseits sich in Form von sinnvollen Investments und Kooperationen anbieten, um so zur Systemintegration zu kommen.

CW: Ziehen Sie in Deutschland auch Firmenaufkäufe in Betracht? Bull wird unter anderem immer wieder mit Mannesmann-Kienzle in Verbindung gebracht.

Brockhagen: Für mich wäre es natürlich wünschenswert, wenn die Bull AG die doppelte Größe hätte. Dann fiele es leichter, die Vorgabe, General-Purpose-Anbieter zu sein, aufrechtzuerhalten. Nur: Wenn ein Unternehmen der Größenordnung der AG hinzugekauft wird, muß alles stimmen. Sonst kann ein solcher Deal eher zum Rückschlag werden. Zudem ist bei solchen Entscheidungen die Bull-Gruppe gefordert, da ich eine derartige Transaktion trotz unserer guten Eigenkapitalstruktur aus eigenen Mitteln nicht bestreiten könnte. Darüber hinaus denken wir derzeit mehr darüber nach, wie wir unser Geschäft in der DDR ausweisen können - im Direktvertrieb, über gezielte Joint-ventures oder auch durch die Etablierung eines Softwarehauses. Da führen wir - wie andere DV-Hersteller auch - derzeit konkrete Gespräche. Fest steht bislang, daß sich unsere ersten Niederlassungen in Leipzig und Dresden befinden.

CW: Rekrutieren Sie die Mitarbeiter für die DDR-Niederlassungen dann auch aus der Umgebung?

Brockhagen: Einen Großteil sicherlich. Man muß in einem anderen Land - und die DDR muß in dem Fall als Ausland bewertet werden, da sich beide Teile Deutschlands zu weit auseinanderentwickelt haben - die lokalen Kräfte ausloten und fördern. Leider können wir nicht alle Mitarbeiter aus der DDR rekrutieren, weil der Run auf die guten Leute immens, ausreichend Personal aber nicht vorhanden ist. Somit werden wir - zumindest zeitweise auch einige westdeutsche Mitarbeiter einbeziehen. Die DDR-Mitarbeiter, die wir einstellen, werden wiederum durch eine Art Schnelltraining an den erforderlichen Wissensstand herangeführt.

CW: Vertriebserfahrung zum Beispiel kann in der DDR doch in der Form wie in der Bundesrepublik gar nicht vorhanden sein ...

Brockhagen: Das ist richtig. Aber auch in Westdeutschland ist es nicht gerade einfach, gutes Vertriebspersonal zu bekommen. Zudem sollte man das Know-how nicht unterschätzen, das die neuen Mitarbeiter mitbringen. Zwar wurde in der DDR mit technischen Mitteln gearbeitet, die weit hinter dem westlichen Standard zurück sind. Doch diese Mittel wiederum wurden so ausgenutzt und optimiert, wie dies in der Bundesrepublik nur selten der Fall ist. Beim Verkaufs-Know-how werden wir sehen, inwieweit es vorhanden ist, und es dann gegebenenfalls durch Kurzschulungen sowie regelmäßige Trainingseinheiten erweitern.

CW: Darüber hinaus werden Sie in der DDR sicher auf sehr kritische Kunden treffen. Gewohnt, zu improvisieren und vieles selbst in die Hand zu nehmen, werden die dortigen DV-Verantwortlichen wohl nur das kaufen und bezahlen wollen, was sie wirklich brauchen.

Brockhagen: Auch ich erwarte sehr kritische Kunden, die die neue D-Mark zwei- oder dreimal herumdrehen, bevor sie Computer-Equipment kaufen. Deshalb warne ich auch immer davor zu hoffen, in der DDR eine schnelle Mark machen zu können. Gefragt sind jetzt erst einmal Vorabinvestments und Kontinuität.

CW: Bei Apollo waren Sie für ein Unternehmen tätig, das in einem recht abgegrenzten Marktsegment agierte. Wo sehen Sie jetzt Ihre Hauptaufgaben in einem Unternehmen mit einer wesentlich Breiteren Marktpräsenz?

Brockhagen: Eine meiner Hauptaufgaben ist sicherlich die Anpassung der Organisationsstruktur der Bull AG an die Marktgegebenheiten. Nehmen wir beispielsweise die Zykluszeiten in der EDV-Industrie. Als ich beruflich startete, dachten wir noch in Zyklen von sieben bis zehn Jahren. Behörden verlangten zum Teil Produktgarantien von bis zu 30 Jahren. Dies ist heute nicht mehr vorstellbar. Der Verdrängungswettbewerb hat die Zykluszeiten enorm verringert, was wiederum einen hohen Druck auf Forschung und Entwicklung ausübt - und letztlich auf den Geldbeutel der Unternehmen. Das so schnell entwickelte Produktangebot wiederum muß dann auch möglichst schnell und in entsprechend großen Stückzahlen vermarktet werden, um die Entwicklungskosten wieder hereinzuholen.

Der direkte Weg reicht dafür jedoch nicht mehr aus, indirekte Kanäle müssen erschlossen werden, ein riesiges Distributionsnetz ist zu errichten. An diese neuen Marktrhythmen muß jedes DV-Unternehmen angepaßt werden. Noch aber sind viele klassische Hersteller in ihrer Organisation im alten Rhythmus. Stellen sie nicht auf kleinere, flexiblere Organisationseinheiten um, werden sie letztlich nicht konkurrenzfähig bleiben, nicht überleben können.

CW: Wie wollen Sie denn die Belegschaft der Bull AG auf die neue flexiblere Organisation einstellen?

Brockhagen: Es gilt, die Mitarbeiter aktiv in diesen Prozeß miteinzubeziehen. Im Laufe meiner internationalen Tätigkeiten habe ich den offenen kooperativen Führungsstil schätzen gelernt, den ich jetzt auch in meiner neuen Position anwenden werde. Das bedeutet, die Mitarbeiter von Beginn an in Entscheidungen einzubinden, sie gezielt an Lösungen mitarbeiten zu lassen. In vielen deutschen Unternehmen herrscht noch immer eine relativ klassische, hierarchisch veraltete Struktur vor.

CW: Sehen Sie denn auch Vorteile darin, für ein europäisches Unternehmen zu arbeiten?

Brockhagen: In puncto Kontinuität sind die Amerikaner weit zurück. Bei den Europäern hingegen wird viel Wert auf Standing gelegt. Hier gibt es nicht das kurze, reaktive Verhalten auf Quartalsergebnisse. Vielmehr hat man die Zeit und den Rückhalt, um mittel- und langfristige Pläne wirklich durchzuziehen. Dies brauche ich auch unbedingt für meine neue Aufgabe. Veränderungen lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen herbeiführen.