Alcatel: Kein Umschwung im Geschaeftsjahr 1995/96 zu erwarten

Mit neuem Chef und Transparenz die alten Versaeumnisse nachholen

28.07.1995

PARIS - Harte Zeiten waren und sind fuer den franzoesischen Telecom- Equipment- und -Systemlieferanten Alcatel Alsthom angesagt; Skandale und Missmanagement sowie einbrechende Margen haben den Konzern in Bedraengnis gebracht. Mit Serge Tchuruk soll nun ein neuer Mann an der Spitze fuer frischen Wind und neuen Erfolg sorgen. Dabei ist allerdings mehr als nur Geduld angesagt. Alcatel muss nach Ansicht von Experten auch in einer Reihe von Technikfeldern erst seine Hausaufgaben machen.

Zeit zum Verschnaufen wird der neue Alcatel-Praesident Serge Tchuruk in diesem Sommer kaum finden. Bis Ende September wolle er dem Konzern, wenn noetig, "eine neue Organisation und Strategie verpassen", versprach er den Aktionaeren bei seiner Inthronisation auf der ueberfuellten Hauptversammlung im Pariser Kongresspalast. Neben dem internen Grossreinemachen duerfte vor allem eine Reparatur des empfindlich gestoerten Verhaeltnisses zum wichtigsten Grosskunden France Telecom angesagt sein - steht Tchuruks Vorgaenger Pierre Suard doch noch immer im Verdacht, mitverantwortlich fuer eine Betrugsaffaere grossen Stils zu sein, bei der dem franzoesischen Telecom-Giganten ueberhoehte Rechnungen fuer Vermittlungstechnik in einer Groessenordnung von mehr als 600 Millionen Franc untergejubelt wurden.

Eine Summe uebrigens, die man jetzt im Alcatel-Headquarter gut gebrauchen koennte, denn die Geschaefte gehen nach wie vor schlecht. Auch das Geschaeftsjahr 1995/96 duerfte fuer die Alcatel-Alsthom- Gruppe "nochmals schwierig" werden, zeigte sich Marc Vienot vor den Aktionaeren skeptisch. Der Bankier hatte, nachdem Ex-Praesident Suard Ende Maerz aufgrund richterlicher Anordnung sein Amt niederlegen musste, bis zu Tchuruks Bestellung kommissarisch die Geschaefte geleitet. Nachdem sich schon im Vorjahr der Gewinn nach Steuern auf 3,6 Milliarden Franc halbierte und der Umsatz (zu gleichem Konsolidierungsgrad gerechnet) mit 168 Milliarden Franc praktisch stagnierte, schrumpften die Verkaeufe im ersten Quartal 1995 nochmals um fuenf, die Auftragseingaenge um drei Prozent.

Die negativen Schlagzeilen sowie der Geschaeftseinbruch blieben natuerlich nicht ohne Auswirkungen auf das Boersenparkett. So fiel der Kurs der Alcatel-Aktie an der Pariser Boerse schon 1994 um satte 46 Prozent - zum Entsetzen vor allem auch jener 50000 Mitarbeiter, deren Pensionsfonds heute den drittgroessten Eignerblock des Konzerns bildet. Die Boerse reagiert aber, wie Insider vermuten, mit der schwaecheren Notierung des Papiers nicht nur auf den schmaleren Ertrag vom Vorjahr, sondern noch viel mehr auf die anhaltende Flaute und nach Lage der Dinge wohl dauerhafte Erosion der Margen im Telecom-Geschaeft.

Allein die Telecom-Sparte trug im Geschaeftsjahr 1994 (ohne das Kabel-Business) mehr als die Haelfte zum Gesamtumsatz des Konzerns bei, doch aus drei sehr handfesten Gruenden wird man in Paris hier kuenftig kleinere Broetchen backen muessen - was sich schon in der Tatsache bemerkbar macht, dass Alcatel seine Spitzenposition in der Weltrangliste der Equipment-Lieferanten verlor (siehe Tabelle auf Seite 18). Zum einen fliessen seit 1994 dem Unternehmen nicht mehr automatisch Auftraege seines Grosskunden France Telecom zu, der nach den Erfahrungen im "Fakturierungsskandal" jetzt Auftraege regelmaessig ausschreibt.

Interims-Praesident Vienot wies zwar auf der Hauptversammlung nochmals den Verdacht einer Uebervorteilung von France Telecom offiziell zurueck; andererseits ging aber erst vor kurzem dem zustaendigen Untersuchungsrichter die angeforderte zweite Expertise zur Vertrags- und Preisgestaltung zwischen Alcatel und dem Carrier zu. Erst das endgueltige Urteil in diesem Verfahren wird also Aufschluss darueber geben, ob und wieviel an den Vorwuerfen dran ist.

Der neue Alcatel-Chef Tchuruk kuendigte vorsorglich an, den Vorgang, wie auch immer er sich weiterentwickelt, fuer die Oeffentlichkeit "vollkommen transparent" zu machen, um auf diese Weise zu versuchen, wieder das Vertrauen der Kundschaft zu gewinnen.

Unabhaengig davon daempfen aber auch die geringe Investitionslust der meisten europaeischen Netzbetreiber und der im Zuge von mehr Liberalisierung deutlich zunehmende Preisdruck am Markt den Auftragseingang bei Alcatel und damit auf mittlere Sicht Umsatz und Ertraege. Um diesen Negativtrend zumindest in Teilen zu kompensieren, forcierte schon Tchuruks Vorgaenger Suard das Exportgeschaeft in Asien und Lateinamerika. Dies auch mit einigem Erfolg, wie sich nun herausstellt, denn in einzelnen Maerkten, etwa in China, sind die Franzosen, wie unter vorgehaltener Hand selbst beim deutschen Erzrivalen Siemens eingeraeumt wird, ihren europaeischen Wettbewerbern um einige Nasenlaengen voraus. Allerdings kann Alcatel im Reich der Mitte vorerst kaum seine hochpreisigen neuen digitalen Vermittlungssysteme an den Mann bringen, sondern verkauft im wesentlichen Anlagen aelterer Bauart.

Letzteres ist nach verbreiteter Expertenansicht das derzeitige Hauptproblem Alcatels im Telecom-Business: Der Konzern hat eine Reihe wichtiger technischer Entwicklungen regelrecht verschlafen.

So gehoert man etwa beim Mobilfunk eher zur europaeischen Nachhut, was vielleicht unter anderem damit zusammenhaengt, dass sich dieser Markt in Frankreich selbst auch nur sehr langsam entwickelte. Als das Mobilfunk-Business dann boomte, bevorzugten die ersten Lizenznehmer zumeist Equipment von Ericsson, Nokia und Motorola. Im derzeit kraeftig expandierenden Asien-Geschaeft wartet auf die Franzosen wiederum die harte Konkurrenz von NEC, Matsushita und Oki.

Bedeutsamster Techniktrumpf bleibt damit fuer Alcatel zumindest mittelfristig der in Fachkreisen unbestrittene Vorsprung in Sachen Breitbandkommunikation, insbesondere ATM-Uebertragungstechnik. Aehnliches gilt fuer Komprimierungsverfahren bei Anwendungen wie Video on demand im herkoemmlichen Telefonnetz sowie der Entwicklung sogenannter Set-top-Boxen - Anwendungsszenarien beziehungsweise Maerkte, die allerdings erst in Zukunft, wenn ueberhaupt, eine Rolle spielen.

Nennenswerte Ertraege aus dem Verkauf solchen Equipments werde der Konzern kaum vor 1998 erzielen, heisst es lapidar bei den meisten Analysten. Banker Vienot mag auch aus diesem Grund recht haben mit seiner Prognose, dass Alcatel zumindest noch im Geschaeftsjahr 1995/96 in einer geschaeftlichen Talsohle wandern wird.