Neue Servicemodelle zwingen zum Umdenken

Mit Mobile Commerce in neue Business-Regionen

24.12.1999
Kaum haben Unternehmen ihre Geschäftsprozesse zumindest ansatzweise auf das PC-basierte Internet ausgerichtet, droht sie ein neuer Trend zu überrollen: der mobile elektronische Handel. Christine Harrell* gibt einen Überblick über die Auswirkungen des Mobile Commerce (M-Commerce).

Die Zeiten, in denen das Handy hauptsächlich zum Telefonieren genutzt wurde, könnten schon bald der Vergangenheit angehören. Marktentwicklungen deuten darauf hin, daß Mobiltelefone ebenso wie Handheld-Computer zu Endgeräten für den Internet-Zugang mutieren. Rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft startete beispielsweise der US-Online-Buchhändler Barnesandnoble.com seinen Dienst "bn.com On the Go", mit dem über tragbare Endgeräte wie den Palm-Handheld-Computer Informationen von der Website des Unternehmens abgerufen und Transaktionen angestoßen werden können.

Nach Meinung des Marktforschungsunternehmens Gartner Group sind in den USA demnächst vor allem Personalcomputer und TV-Zusatzgeräte die wesentlichen Kanäle für elektronische Geschäfte zwischen Unternehmen und Konsumenten, während in Europa das Mobiltelefon die entscheidende Rolle spielen wird. Die Handy-Anmeldungen, so die Auguren, überträfen in Europa die Internet-Anmeldungen im Verhältnis von vier zu eins. Den Zugang zum Web via Mobiltelefon soll der Standard Wireless Application Protocol (WAP) garantieren.

Nigel Deighton, Forschungsdirektor bei der Gartner Group, prognostiziert eine radikale Änderung in der Nutzung von Mobiltelefonen: "Hier tun sich endlose Einsatzgebiete auf - von der Bedienung von Verkaufs- und Fahrkartenautomaten bis hin zur Bezahlung an Parkuhren." Mobile Terminals zum Einchecken im Flughafen, automatische Informationsübermittlung bei Flugplanänderungen, elektronisches Zahlungsmittel anstelle der bis-her gängigen Kreditkarten - das Smartphone entwickle sich zum "Handy der unbegrenzten Möglichkeiten" für den Mobile Commerce.

Prognosen gehen davon aus, daß mehr als 95 Prozent der neuen Mobiltelefone, die im Jahr 2004 verkauft werden, WAP-fähig sind. "Die Vereinigten Staaten haben beim M-Commerce einen Rückstand von fast zwei Jahren auf Europa", berichtet Falk Müller-Veerse, European Research Manager beim Beratungsunternehmen Durlacher Research in Bonn. Auf dem Gebiet des Mobilfunks habe Europa sowohl bei der Nutzung als auch in der Anwendungsentwicklung die Führungsrolle übernommen. Auf dem alten Kontinent ist die Durchdringung mit Mobiltelefonen hoch, zudem gibt es mit GSM einen einheitlichen Standard.

Durlacher erwartet bis zum Jahr 2003 für den europäischen Mobilfunkmarkt ein Umsatzvolumen von rund 23,5 Milliarden Euro, das nur durch Bankgeschäfte, elektronischen Einkauf oder Werbung per Handy erreicht werden soll.

Der Handy-Hersteller Ericsson rechnet im Jahr 2005 weltweit mit ungefähr 400 Millionen mobilen Internet-Anwendern, Konkurrent Nokia geht nach internen Rechnungen zu diesem Zeitpunkt sogar von 650 Millionen WAP-Nutzern aus. Dann hätten die mobilen Internet-Surfer auch endgültig die PC-Benutzer überflügelt, deren Zahl für 2005 auf 550 Millionen geschätzt wird.

"Das Mobiltelefon bietet dem Benutzer nicht nur personalisierte, sondern in der nahen Zukunft auch ortsabhängige Produkte und Dienste an", nennt Christian Reichardt, Geschäftsführer der R&P Consult GmbH in Königstein, einen strategischen Vorteil des M-Commerce. "Da das Mobilfunknetz weiß, wo sich das Handy gerade befindet, könnte der Service-Provider seinem Kunden zum Beispiel eine Werbenachricht schicken mit der Botschaft, daß es beim Italiener in seiner Nähe heute Pizza zum Sonderpreis gibt." Doch wird sich das mobile Shopping nach Ansicht des Multimedia-Beraters erst dann in weiten Teilen der Bevölkerung etablieren, wenn es wirklich bequem werde, eine CD oder eine Theaterkarte per Handy zu kaufen. Dafür müßten Mobiltelefone besser auf die Gewohnheiten und Vorlieben des Benutzers abgestimmt werden.

In Verbindung mit Konzepten der One-to-one-Kommunikation, wie sie heute im Internet in Form von personalisierten Websites und maßgeschneiderten E-Mail-Services bereits realisiert würden, ließen sich dann neue Service- und Kundenbindungskonzepte verwirklichen. Das "Business by Profiles", bei dem für jeden Kunden entsprechend seinem elektronischen Profil spezielle branchenübergreifende Angebote entwickelt werden, ist nach Meinung von Christian Reichardt einer "der wesentlichen Zukunftstrends".

"Wir sehen einen Unterschied zwischen Masseninhalten, die auf Personen nur zugeschnitten werden, und wirklich persönlichen Inhalten", erklärt auch Dirk Dörre, Vorstandsmitglied und Mitgründer des neuen M-Commerce-Dienstes Yourwap.com. Bei diesem Angebot der O3sis Information Technology AG aus Overath könne der Nutzer allein bestimmen, welche Inhalte auf seinem Handy erscheinen. Neben E-Mail, Kalender und Adressenverzeichnissen bietet der Service auch Anwendungen, mit denen sich Einkaufszettel, Erinnerungshilfen oder auch die ganz persönliche Wein-Hitliste zusammenstellen lassen.

"Nicht die Technologie, sondern neue Business-Modelle werden dem M-Commerce das prognostizierte Wachstum bringen", ist Analyst Mark Zohar vom US-Marktforschungsunternehmen Forrester Research überzeugt. Bevor sich die Mobilfunkanbieter an den Aufbau der Infrastruktur für die dritte Mobilfunkgeneration machten, sollten sie zunächst einmal nach geeigneten Anwendungen Ausschau halten, Partnerschaften mit Content-Anbietern vereinbaren und vernünftige Abrechnungsmodelle entwickeln. Zohar: "Die Anwender erwarten einfache Mobilanwendungen, die aktionsorientiert, personalisiert und für den jeweiligen Standort relevant sind." Dazu zählten zum Beispiel Routenplaner, Stadtinformationssysteme oder Banking-Angebote. "Geschäftsreisende werden zu den ersten Anwendern von mobilen Informationsangeboten gehören, denn diese bieten ihnen einen echten Vorteil", ist der Analyst überzeugt. Eine Fluggesellschaft, die ihre Kunden per Handy über Verspätungen informiere, ein Hotelreservierungsdienst, ein Kneipenführer für den jeweiligen Stadtteil oder ein elektronischer Wegweiser - all dies seien sinnvolle Services, für die Nutzer auch bezahlen würden.

Damit M-Commerce reibungslos funktioniert, bedarf es aber der Zusammenarbeit unterschiedlichster Branchen. "Hinter einer für den Kunden einfachen Verbindung stehen komplexe Zusammenhänge. Die Bereitstellung der Netze, Entwicklung und Management der aufgesetzten Applikationen und das erforderliche Billing-System müssen aufeinander abgestimmt sein", erklärt Jürgen Hien, Leiter des Geschäftsbereichs Telekommunikation von Bull Zentraleuropa in Langen bei Frankfurt am Main. Hier gebe es noch einiges an Konfliktpotential zwischen den einzelnen Branchen.

So wird künftig das Geschäftsmodell der Mobilfunknetzbetreiber immer stärker dem einer Bank ähneln, was bei den traditionellen Finanzdienstleistern nicht gerade auf Begeisterung stößt. Schon im Jahr 2001, so die Prognose von Marktbeobachtern, werden die ersten Mobilfunkunternehmen Geldinstitute oder eigene Banklizenzen erwerben. Im Gegenzug verbünden sich Geldinstitute direkt mit Handy-Herstellern. So entwickelt die Deutsche Bank 24 zusammen mit Nokia derzeit Banking-Dienstleistungen auf der Basis von WAP.

Die größten Hürden auf dem Weg zum mobilen Web-Shopping sind momentan allerdings die langsamen Übertragungsraten und die fehlenden Endgeräte. "Das Handicap im Bereich des mobilen GSM-Datenfunks ist derzeit die Geschwindigkeit", bestätigt Bull-Manager Hien. Mit Übertragungsraten von 9600 Bit/s zerre das Surfen via Handy noch stark an Nerven und Geldbeutel der Nutzer. Der für das Jahr 2002 erwartete Nachfolger der GSM-Technologie, das so genannte Universal Mobile Telecommunications System (UMTS), werde mit Übertragungsraten von bis zu 2 Mbit/s allerdings schnell genug sein. Durlacher-Analyst Müller-Veerse bemängelt, daß die Hersteller von Endgeräten derzeit zu große Erwartungen in den mobilen elektronischen Handel weckten. "Where are the Phones" übersetzen Kritiker bereits das Kürzel WAP. Bis zur CeBIT 2000 wollen die Hersteller ihre Lieferengpässe, die auch durch die massiven Werbekampagnen der Netzbetreiber heraufbeschworen wurden, jedoch überwunden haben.

Herausforderung für die Designer

Bei der Darstellung von WAP-Content müssen die Gestalter zwangsläufig minimalistische Wege gehen. "WAP erinnert an die Anfänge von HTML", sagt Volker Tietgens, Chef des Wiesbadener Multimedia-Dienstleisters Concept. Aufgrund der technischen Einschränkungen der Zielgeräte müßten die Inhalte mit Hilfe der kompakten Wireless Markup Language (WML) besonders aufbereitet werden, um auf den kleinen Displays der Handies überhaupt dargestellt werden zu können. Tietgens: "Auf schöne, bunte Grafiken wird man deshalb vorerst noch verzichten müssen." WAP unterstütze nämlich neben dem nackten Text nur schwarzweiße Bilder und einfache Tabellen.

Selbst diese Schwarzweiß-Bilder machen den Designern jedoch erhebliche Mühe. Denn bei den zur Zeit angebotenen Endgeräten sind die Display-Größen recht unterschiedlich. Bei den Handies reichen sie beispielsweise von 45 x 96 Pixel bei Nokias "7110" bis zu 640 x 320 Bildpunkten bei Ericssons "MC 218". Normale, Internet-übliche Bildformate wie JPEG lassen sich überhaupt nicht darstellen, wegen des geringen Speicherplatzes muß das spezielle Kompressionsverfahren WAP-Bitmap (WBMP) - eingesetzt werden. Das staucht die Bilder zwar um ein weiteres Drittel zusammen, ist aber zu den Internet-Standards inkompatibel. Das Kunststück für Programmier und Gestalter besteht deshalb heute vor allem darin, die Informationen - zum Beispiel umfangreiche Dokumente und komplexe Tabellen - ohne Informationsverlust auf das Mini-Display-Format zu bringen und so zu portionieren, daß der Nutzer noch etwas damit anfangen kann. Tietgens: "Auch eine völlig neue Navigationslogik und ein anderer Umgang mit Links ist bei den WAP-Browsern erforderlich."

Auf die Übertragung von Ton, Animationen oder Videobildern, im World Wide Web heute schon längst üblich, muß bei WAP ebenfalls verzichtet werden. Noch - denn nach eigener Aussage arbeiten Sanyo, Hitachi und Fujitsu bereits an einer Technik, die Musikübertragungen via Handy in CD-Qualität ermöglichen soll.

*Christine Harrell ist Journalistin in Düsseldorf.