Wenn Mitarbeiter wie Unternehmer agieren

Mit der Freiheit wächst der Druck

09.08.2001
Von in Alexandra
Das Bild vom "Unternehmer im Unternehmen" skizzieren Firmen gern, um den idealen Angestellten zu zeichnen. Wenn Mitarbeiter aber so selbständig handeln wie gewünscht, stehen Führungskräfte wie Gewerkschaften vor ganz neuen Herausforderungen.

In der Theorie sind sich alle einig: 95 Prozent der Führungskräfte sehen ein funktionierendes „Unternehmertum“ als wichtigste Voraussetzung für den Geschäftserfolg an. Das ergab eine aktuelle Studie der Unternehmensberatung Accenture, die weltweit 880 Führungskräfte zum Thema unternehmerisches Handeln und Denken befragte.

Schwieriger wird es in der praktischen Umsetzung. So beklagten sich zwar 70 Prozent der deutschen Interviewpartner über den mangelnden Unternehmergeist der Belegschaft, gleichzeitig befürchtet aber jeder zweite, dass die Mitarbeiter zu viel davon entwickeln könnten. 89 Prozent der Manager sind überzeugt, dass sie selbst unternehmerisch handeln – ein deutliches Zeichen, dass die Führungskräfte die Schuld nicht bei sich, sondern den anderen suchen.

Gründe für die zwiespältige Haltung sieht Wolfgang Gattermeyer, Partner bei Accenture, auch im deutschen Sicherheitsbedürfnis und der geringen Risikofreude. Viele Führungskräfte seien nicht bereit, ein Klima für unternehmerisches Handeln zu schaffen: „Der Hang, alles kontrollieren zu wollen, muss abgelegt werden. Viel wichtiger ist es, den Mitarbeiter zu steuern. Das geht aber nur, wenn man ihm Vertrauen entgegenbringt und auch zulässt, dass er Fehler macht“, so Gattermeyer. In seinen Augen entsteht Leistung nur, wenn sie der Mitarbeiter erbringen kann, will, muss und nicht zuletzt auch darf. Letztere Komponente vergessen aber viele Chefs.

Auch für Volker Hische, bei CSC Ploenzke als Direktor Personalentwicklung für die europäischen Gruppe zuständig, ist der Anspruch des eigenverantwortlichen Mitarbeiters zugleich eine Herausforderung für die Führungskräfte: „Diese müssen ihren Angestellten auch mehr Freiräume geben, mit ihnen ernsthafte Diskussionen und Verhandlungen eingehen und sich von dem Command-and-Control-Denken verabschieden.“ Das neue Selbstbewusstsein der Mitarbeiter müsse ernst genommen werden. Die IT-Beratung versucht, diese Art der Führung in zahlreichen Kursen zu vermitteln.

Bei CSC Ploenzke bedeutet unternehmerisches Handeln aber nicht grenzenlose Freiheit für den Mitarbeiter. Dazu Hische: „Im Projekt-Management oder Software-Engineering braucht man gewisse Spielregeln, um die Methoden verstehen und eine gemeinsame Sprache sprechen zu können. So muss festgelegt sein, welche Leistungen der Projektleiter und welche zum Beispiel der Anwendungsentwickler zu erbringen hat.“ Innerhalb dieser Rolle könne der Mitarbeiter unternehmerisch handeln, wenn er beim Kunden nicht nur die vereinbarte Dienstleistung ausführt, sondern beispielsweise auch Potenzial für neue Projekte ausmacht.

Der Appell an den Unternehmergeist funktioniert auch in großen Konzernen. „Die Mitarbeiter beginnen tatsächlich, in unternehmerischen Zusammenhängen zu denken und sagen zu sich selbst, ich muss Kosten sparen, damit das Unternehmen profitabel ist“, hat Martin Berghof, Betriebsratsvorsitzender von IBM, Hamburg, beobachtet. Dieses kostenbewusste Verantwortungsgefühl zeige sich schon in kleinen Dingen – der kaputte Drucker wird selbst repariert - und setze sich in grundsätzlichen fort: Baut der Arbeitgeber aus Kostengründen Personal ab, übernehmen die Mitarbeiter die zusätzliche Arbeit, weil sie sich für das Weiterbestehen der Firma verantwortlich fühlen. „Der Mitarbeiter sieht ein, dass er sich an den Widrigkeiten beteiligen und damit fertig werden muss. Deshalb arbeiten viele Beschäftigten freiwillig viel mehr als die vereinbarten 38 oder 40 Stunden in der Woche“, so Berghof.

Das kann auch Heribert Fieber, Betriebsratsvorsitzender für Siemens an der Hofmannstraße in München, bestätigen: „Die Mitarbeiter wollen ihre Ziele erreichen, Zeit spielt dabei keine Rolle.“ So verschwinden auch bei Siemens die Grenzen zwischen Überstunden, die der Chef anordnen muss, und Mehrarbeit, die sich der Mitarbeiter im Rahmen der Gleitzeit selbst verordnet, immer mehr. Darum gibt es seit 1999 die Regelung, dass Angestellte nur bis zu 70 Stunden auf ihrem Gleitzeitkonto ansammeln können. Dann prüft der Betriebsrat, ob die freiwillige Mehrarbeit nicht doch verkappte Überstunden sind und darum höher entgolten werden muss.

Gleichzeitig ist sich Fieber bewusst, dass viele Mitarbeiter stolz darauf sind, wenn ihre Überstunden immer mehr werden, und mehr oder weniger bewusst darauf warten, dass auch ihr Vorgesetzter ihr Engagement erkennt. Auf Hinweise des Betriebsrats, dass ihre Angestellten zu viel arbeiten, reagieren nach Fiebers Erfahrung aber die wenigsten Vorgesetzten. In den Augen von Hische ist die Führungskraft von ihrer klassischen Fürsorgepflicht für die wie Unternehmer agierenden Mitarbeiter befreit: „Die Vorgesetzten müssen einschreiten, wenn ihre Mitarbeiter zu viel arbeiten, und sie gegebenfalls auch mal nach Hause schicken.“

Nichtsdestotrotz sei der Mitarbeiter selbst für sein Leben verantwortlich und nicht das Unternehmen. Das werde bereits jedem Einsteiger vermittelt. Viele Gewerkschaftsverteter stecken in einem Dilemma. Einerseits bejahen sie das neue Rollenverständnis der Mitarbeiter als positiv, andererseits wissen sie um dessen Risiken: Permanente Mehrarbeit führt langfristig zur Überlastung, die krank machen kann. Der Druck kommt nicht mehr von oben, sondern von einem selbst oder den Kollegen.

Von Peer-to-Peer-Pressure sprechen darum Willfried Glißmann, Betriebsratsvorsitzender der IBM in Düsseldorf, und der Philosoph Klaus Peters, in ihrem kürzlich erschienen Buch „Mehr Druck durch mehr Freiheit“, das die paradoxen Folgen der neuen Autonomie aufzeigt und nach praktischen Auflösungen der Widersprüche sucht. Die Druck im Kollegenkreis zeigt sich zum Beispiel im schlechten Gewissen, das Mitarbeiter beschleicht, wenn sie mit 60 Wochenstunden immer noch weniger als ihre Kollegen arbeiten.

„Bekommt eine Gruppe ein Ziel gesteckt, sind oft auch bald die schwachen Mitglieder im Team ausgemacht“, so Jürgen Leimer, Betriebsratsvorsitzener von Bull Computer. In solchen Fällen schlüpft der Betriebsrat eher in die Rolle eines Coaches, der die Mitarbeiter dabei unterstüzt, ihre Konflikte untereinander zu lösen. Allerdings wissen Leimer und viele seiner Kollegen, dass auch der Betriebsrat ähnlich wie die Führungskräfte die neue Selbständigkeit und Entscheidungsfähigkeit der Mitarbeiter unterstützen muss und keine Instanz von Befehl und Gehorsam sein darf: „Wir dürfen nicht nur mit den Risiken argumentieren, sondern müssen die Mitarbeiter in die Lage versetzen, mit der neuen Freiheit umzugehen.“

Der erste Schritt sollte sein, sich und seine Arbeitssituation zu hinterfragen. Bei IBM versucht der Betriebsrat durch die Verteilung von Flugblättern und Workshops die einzelnen Beschäftigten persönlich anzusprechen. Siemens-Betriebsrat Fieber möchte den Beschäftigten vermitteln, dass es auch eine Form von Mitbestimmung ist, wenn sie sich die Auszeit, die ihnen zusteht, tatsächlich nehmen.