IDMS-Spezialist John J. Cullinane über die Standardisierungspolitik:

Mit Codasyl löst IBM eigene Probleme

21.04.1978

NEW YORK/MÜNCHEN (CW) - Beugt sich nun auch IBM den Zwängen der Standardisierung? IDMS-Entwickler John J. Cullinane vermutet, daß IBM offensichtlich mit einem Codasyl-Datenbanksystem Gewehr bei Fuß steht (CW Nr. 16 vom 14. April 1978). In der Computerworld, der amerikanischen Schwesterzeitschrift der Computerwoche, schrieb Software-Spezialist J. J. Cullinane unter anderem:

Wird IBM ein Codasyl DBMS einführen? Ich denke, diese Frage kann mit Ja beantwortet werden. Die Antwort ergibt sich mehr oder weniger automatisch, wenn man die Firma IBM und ihre Motivation richtig versteht.

Man muß sich zuallererst mit der Tatsache abfinden, daß IBM in der Tat beim Verkauf von Hardware im Geschäft ist. Ich muß mich immer wieder wundern, wie viele Leute es gibt, die annehmen, daß IBM etwas anderes im Sinn haben könnte, als Hardware zu verkaufen. Diese Leute glauben anscheinend immer noch, daß IBM eine Art altruistischer Verein wie der CVJM ist, dessen Hauptanliegen es ist, anderen Gutes zu tun.

Bei Datenbanken nicht Marktführer

Das Fehlen von Standards schützt IBMs Kundenbasis davor, durch andere Wettbewerber aufgebrochen zu werden. Und je schwieriger es ist, von einem IBM-Computer zu einem Honeywell- oder Univac-System zu wechseln, um so seltener wird dieser Fall eintreten. Ich bin der Meinung, daß IBM erst mit der Einführung von COBOL seine Widerstände gegen jegliche Standardisierung aufgegeben hat, beziehungsweise aufgeben mußte.

Ein sehr wichtiger Punkt bei der Hardware ist die Tatsache, daß IBM den größten Einzelanteil auf dem Markt besitzt. Dagegen steht die ebenso unleugbare Tatsache, daß IBM auf dem Gebiet des Data Base Managements nicht Marktführer ist.

Unabhängige Anbieter von DBMS und Hardwarekonkurrenten bedrängen IBM auf dem Markt, da sie, alle zusammengenommen, einen sehr bedeutenden Anteil am DBMS-Markt haben (etwa 2:1).

Auf dem DBMS-Markt haben wir also eine Situation, die völlig anders gelagert ist als auf dem Gebiet der Hardware, wo die Standardisierung für IBM tatsächlich wesentliche Vorteile bringt; besonders wenn man berücksichtigt, daß IMS seinen Weg gemacht hat und - in absehbarer Zeit ersetzt werden muß. Es erhebt sich nun natürlich die Frage, welche Art von DBMS bringt der IBM den meisten Gewinn und gleichzeitig für die gegenwärtigen Benützer des IMS-DL/1 die geringsten Belastungen?

Positionsverbesserung durch Codasyl

Wenn IBM mit einem (eigenen) Codasyl-DBMS herauskommt, kann IBM sicherlich leicht seine Position gegenüber der Mehrheit der anderen Anbieter von nicht standardisierten

DBMSs behaupten. Und, da Codasyl jede Art von IMS-DL/I-Data-Struktur unterstützen kann, wäre die Umstellung durchaus machbar. Zumal IBM diese Umstellung ihren Kunden ohne

große Schwierigkeiten verkaufen könnte: Alles im Namen der Standardisierung.

Außerdem - und hier liegt der Witz - kann IBM die Anwender, die Codasyl-Systeme auf Nicht-IBM-Computern einsetzen, leicht davon überzeugen, auf IBM-Computer umzusteigen. Ferner dürfte es IBM keine Schwierigkeiten bereiten, einen Mainframe-Anwender, der ein Codasyl-DBMS eines unabhängigen Anbieters verwendet, zum Umsteigen auf das Codasyl-DBMS von IBM zu bewegen. In der Vergangenheit habe ich erlebt, daß sich IBM inoffiziell für ein Codasyl-DBMS starkgemacht hat, wenn es im ureigensten IBM-Interesse opportun erschien. Ich beziehe mich hier besonders auf die Fälle, in denen ein Anwender eines nicht von IBM stammenden Computers ein Codasyl-DBMS verwendete und Interesse an einer Umstellung auf IBM-Hardware hatte, jedoch nicht IMS oder DL/I verwenden wollte. Das Codasyl-DBMS des unabhängigen Anbieters wurde in solchen Fällen als mögliche Alternative auf subtile Weise ins Gespräch gebracht, um das Geschäft für IBM reifmachen zu können.

Schluß mit den Problemen

Die Ankündigung eines Codasyl-Systems durch IBM wird sich zwangsläufig so auswirken, daß viele (normalerweise mit Hilfe unabhängiger DBMS-Anbieter gelöste) Entscheidungen so lange aufgeschoben werden, bis die Anwender die Chance haben, das Angebot von IBM prüfen zu können.

Allein durch die Ankündigung eines eigenen Codasyl-DBMS wird IBM eine ganze Reihe von Problemen lösen:

- die Befreiung aus dem Korsett des IMS-DL/I.

- Eine Reihe von größeren unabhängigen DBMS-Anbieter wird als Anbieter von nichtstandardisierten DBMS ausmanövriert und somit für den Anwender uninteressant.

- Ausbreitung auf dem DBMS-Markt durch möglicherweise größere Übereinstimmung mit dem Hardware-Anteil.

- Erleichterung für Anwender von Codasyl-DBMS, in Verbindung mit der Hardware anderer Anbieter auf IBM umzusteigen.

Zusammengefaßt kann gesagt werden, daß in der Computer-lndustrie nichts wirklich als Norm angesehen werden kann, solange es nicht auch von IBM abgesegnet ist.

Nachdem nun IBM eine dramatische Wendung in bezug auf seine Einstellung zum Codasyl durch seine jüngsten positiven Äußerungen zu Codasyl-Fragen vollzogen hat, bin ich der Meinung, daß all dies ein deutliches Anzeichen dafür ist, daß etwas am Kochen ist. Mit anderen Worten, es kann davon ausgegangen werden, daß IBM sich letztendlich für ein Codasyl-DBMS entschieden hat, und zwar einfach, weil das Geschäft es erfordert.

Da so gut wie jede dritte Entwicklung von IBM kommt, ein Codasyl-DBMS eingeschlossen, ist es für die IBM verhältnismäßig einfach, aus dem Handgelenk ein System anzukündigen, das bis zu einem bestimmten Entwicklungsgrad bereits existiert.