"Mit CIM wurde viel Schindluder getrieben"

16.10.1992

Mit Harald Wiechers, Geschäftsführer und Gründer des Monheimer Systemhauses Wiechers & Partner Datentechnik GmbH, sprach CW-Redakteurin Beate Kneuse.

Wer erinnert sich nicht mehr an die zweite Hälfte der 80er Jahre, in der die DV-Branche nur ein einziges Thema kannte: CIM. Doch was sich in der Theorie als sinnvolles Integrationskonzept für die Fertigungsindustrie darstellte, verkümmerte in der Praxis zum Teil zu abenteuerlich zusammengewürfelten Einzellösungen, die weder zu mehr Flexibilität noch zu einer Qualitätsverbesserung oder zu einer Kostenreduktion des Produktionsprozesses in den Unternehmen führten. Bei vielen Anwendern machten sich deshalb Ernüchterung und Enttäuschung breit - und das Thema CIM verschwand in der Versenkung. Aus der Welt war es jedoch nicht. Nach wie vor, konstatiert Harald Wiechers, besteht der Bedarf nach Integration. Im Gegensatz zu früher gehe der Anwender heute jedoch wesentlich vorsichtiger an das Thema CIM heran. "Die Kunden wissen mittlerweile, daß die CIM-Realisierung eine große Aufgabe und ein schweres Unterfangen ist."

CW: Herr Wiechers, in der zweiten Hälfte der 80er Jahre war CIM das Thema schlechthin in der DV-Branche. Alles redete von der Fabrik der Zukunft, neue Berufsbezeichnungen wurden kreiert, eigene Messen, beispielsweise die Systec, entstanden, auf der CeBIT gab es eine spezielle CIM-Halle. Doch seit Anfang der 90er Jahre nimmt niemand mehr das Wort CIM in den Mund. Wie ist das zu erklären?

Wiechers: Mit dem Entstehen des Begriffes CIM steigerten sich Hersteller wie Kunden in eine immens hohe Erwartungshaltung hinein. Die Hoffnungen haben sich aber nicht erfüllt. Deshalb machte sich zunehmend Ernüchterung breit, die letztendlich auf beiden Seiten - sowohl bei den Kunden als auch bei den Herstellern - dazu führte, das Wort CIM nur noch sehr selten in den Mund zu nehmen. Zudem wurde seinerzeit auch viel Schindluder mit diesem Begriff getrieben. Denken Sie nur an Wortkreationen wie "CIM-Salabim" und ähnliches.

CW: Dabei war die Ernüchterung bei den Kunden doch mit Sicherheit größer.

Wiechers: Natürlich, denn Kunden wollen den Nutzen. Die Hersteller hatten Nutzen versprochen, und die Kunden sind diesen Nutzenversprechungen gefolgt. Nur konnten die Anbieter nicht halten, was sie in Aussicht gestellt hatten, und so endete das Ganze für den Anwender in einer mehr oder minder großen Enttäuschung.

CW: Muß man denn nicht den Herstellern den Vorwurf machen, bei CIM zu sehr vom Produktdenken ausgegangen zu sein?

Wiechers: Ein solcher Vorwurf ist vielleicht zu hart. Ich denke, man erlag damals dem Irrglauben, daß sich Organisationsdefizite durch - nennen wir es mal so - Technologieüberfrachtung ausgleichen lassen, also Dinge, die im Unternehmen aufgrund mangelnder Organisation nicht funktionieren, durch Einbringung von Technik funktionsfähig zu bekommen. Nur, was manuell nicht klappt, funktioniert mit DV erst recht nicht. Das verstärkt das Chaos nur noch.

CW: Wie ist denn die Einstellung der Kunden zu CIM heute?

Wiechers: Die Phase der Ernüchterung nach der großen Euphorie hält auch heute noch an. Die Kunden sind wesentlich skeptischer und auch vorsichtiger geworden, wenn man das Thema CIM anschneidet...

CW: ...weil sie befürchten, wieder eine Enttäuschung zu erleben?

Wiechers: Weil die Kunden mittlerweile wissen, daß die CIM-Realisierung eine große Aufgabe und ein schweres Unterfangen ist und daß es aus diesem Grund angebracht ist, schrittweise vorzugehen. Das heißt, beispielsweise mit einem Kernbereich zu beginnen, der das größte Nutzenpotential hat.

CW: Als Chef eines Systemhauses mit Schwerpunktgebiet C-Techniken müßten Sie doch eigentlich von der Enttäuschung Kunden über die Unfähigkeit der etablierten Universalanbieter in Sachen CIM profitiert haben.

Wiechers: Das kann ich nur bestätigten. Viele Kunden waren enttäuscht darüber, was ihre Lieferanten ihnen geboten haben. So suchten sie Alternativen und fanden sie in Form von kleinen, flexiblen Systemhäusern, zu denen auch wir gehören. Wir verkauften und verkaufen eben nicht nur Hard- und Software, sondern bringen uns als Berater beim Kunden ein, konzentrieren uns auf die kundenindividuellen Bedürfnisse, erarbeiten mit dem Anwender Kosten-Nutzen-Potentiale und setzen diese schließlich gemeinsam um.

CW: Wie sieht Ihre Kundenstruktur aus?

Wiechers: Der größte Teil unserer Kunden ist mittelständisch, aber wir betreuen auch große Unternehmen.

CW: Die Unterschiede bei einer CIM-Realisierung in einem Großkonzern und einem Mittelstandsunternehmen sind sicherlich gewaltig.

Wiechers: Das ist richtig. In Großunternehmen haben wir weniger Chancen, mit integrierten Lösungen Fuß zu fassen. Es sei denn, es handelt sich um Abteilungslösungen. Bei unseren mittelständischen Kunden sieht das anders aus, insbesondere bei den Unternehmen, die den Wandel beispielsweise vom Handwerksbetrieb zum Industrieunternehmen bewältigen ,wollen oder gerade bewältigt haben. Dort müssen wir in der Regel zunächst einmal die organisatorischen Voraussetzungen für die Einbringung integrierter Systeme schaffen.

CW: Ich könnte mir vorstellen, daß Sie heute in Unternehmen auf zum Teil ziemlich chaotische DV- und Organisationsstrukturen treffen. Sicher haben viele nach den Frustrationserlebnissen mit CIM versucht, eigene Lösungen zu basteln.

Wiechers: Das trifft zu. Wir werden oft bei unseren Kunden, ganz gleich, ob das kleine, mittlere oder große Unternehmen sind, mit regelrecht zusammengewürfelten Strukturen konfrontiert. Das ist die Eingangsvoraussetzung. Unsere Kunden erkennen, daß sie mit diesen Dingen nicht zufrieden sind und befinden sich gleichzeitig in einer Phase der Neuorientierung. Dies ist unsere Chance. Wir haben mittlerweile rund 7000 Installationen im Feld und entwickelten viele Bereiche mit unseren Kunden gemeinsam. Dem CAD-Einstieg folgte die Ausweitung dieses Bereiches, daran schloß sich die Einführung von Projekt-, Planungs- und Steuerungssystemen an. Die Integration von CAD und PPS wiederum verstärkte den Nutzen für den Kunden, und dadurch dehnte sich dieser Bereich in manchem Unternehmen zu einer ganzheitlichen DV-Lösung aus. Das heißt, PPS wird um kommerzielle Anwendungen erweitert, wie Lohn und Gehalt, Kostenrechnung, Finanz- sowie Anlagenbuchhaltung.

CW: Als technisches Systemhaus dürfte Ihnen, diese kommerzielle Schiene aber fehlen...

Wiechers: Wir kaufen viele Dinge natürlich zu. Es macht wenig Sinn, die tausendste Finanzbuchhaltung, das tausendste Lohn- und Gehaltssystem zu entwickeln. Deshalb konzentrieren wir uns auf unsere Kernkompetenz - und diese liegt im CAD- und PPS-Bereich.

CW: Sie sagen immer wieder CAD- und PPS-Bereich. Gerade in den 80er Jahren aber gab es eine Vielzahl von Kürzeln - CAQ, CAP, CAT, um nur einige zu nennen. Die hört man heute auch nicht mehr. War das nur Sprücheklopferei oder gar schmückendes Begleitwerk, das man dem Kunden mitverkaufte, obwohl er eigentlich nur eine CAD-Anwendung haben wollte?

Wiechers: Nein, die Notwendigkeit der integralen Betrachtung existiert nach wie vor. Es ist nur die Frage, wie sie angefaßt, wie sie umgesetzt wird. Von Sprücheklopferei, wie sie zugegebenermaßen damals vorherrschte, hat der Kunde nichts. Fakt ist aber, daß der Bedarf nach Integration besteht. Ein Unternehmen besteht aus vielen einzelnen Bereichen, die in Form eines Beziehungsgeflechtes miteinander verknüpft werden müssen. Da gibt es den gesamten Bereich der Planung den der Arbeitsvorbereitung und den der Fertigung. Diese gilt es, informationstechnisch zusammenzufassen, um Nutzenpotentiale freizulegen und auszubauen.

Nehmen Sie beispielsweise den Bereich der Konstruktion. Dort werden 80 Prozent der Kosten festgelegt. Ist nun der Konstrukteur in seinem CAD-System von den anderen Bereichen des Unternehmens abgekoppelt, ist er nicht in der Lage, zur Reduzierung der Kostenfestlegung beizutragen. Das kann er nur, wenn er Einblicke in die Arbeitsvorbereitung, in den Einkauf, in die Fertigung und in den Vertrieb bekommt.

CW: Kann man ihren Worten entnehmen, daß in den 80er Jahren zwar pausenlos von CIM und Integration gesprochen wurde, aber letztlich nur Einzellösungen realisiert worden sind?

Wiechers: Ja. Leider passiert es auch heute noch, daß Teilbereiche isoliert betrachtet werden. Schauen Sie sich doch in Deutschland um, wie viele Anbieter tatsächlich Integrationskonzepte aus einer Hand anbieten können. Das sind nur ganz wenige. In der Regel gibt es CAD, gibt es PPS, gibt es die kommerzielle DV etc. Das ganze ist ein Sammelsurium, in dem beispielsweise die Integration von CAD und PPS als eine Schnittstelle verstanden wird, die Stücklisteninformationen austauscht. Das heißt Dateitransfer, und das ist der größte Unfug, den es gibt. Wer es also nicht schafft, CAD und PPS im Sinne einer Online-Schnittstelle zu verbinden, der hat überhaupt gar keine Chance.

Da werden einfach Uralttechniken manifestiert und fortgeschrieben. Man glaubt, durch das Aneinanderreihen von CAD, PPS etc., durch das Einbringen in ein gemeinsames Netzwerk, sei der ganze Kuchen schon gegessen. Weit gefehlt. Nur wird es auch heute noch zum Teil gemacht.

CW: Wie gehen Sie vor?

Wiechers: Wenn der Kunde von uns CAD will, haben wir die Verpflichtung, unseren Kunden zu beraten, wie er letztlich sein Primärziel, und das heißt Nutzen, optimieren kann. Diese Nutzenmaximierung kann er aber nicht durch die isolierte Betrachtung von CAD erreichen. Somit beziehen wir von vornherein das gesamte Umfeld des Unternehmens mit ein.

CW: Das Münchner Unternehmen Autodesk hat unlängst den CAD-Einsatz in deutschen Unternehmen untersuchen lassen. Diese Studie brachte ans Tageslicht, daß das CAD-Potential hierzulande noch weitgehend unausgeschöpft ist. Ist dies das Resultat der CIM-Euphorie der 80er Jahre beziehungsweise der nachfolgenden Ernüchterung?

Wiechers: Zunächst einmal zweifele ich die Repräsentativität dieser Studie an. Ich denke, die Marktabdeckung ist höher, als dort dargestellt. Vor allem aber geht es nicht darum, CAD isoliert zu betrachten, denn - wie schon mehrfach gesagt - ist das nur die halbe Miete.

CW: Wie lange dauert es in der Regel, ein CIM-Konzept umzusetzen?

Wiechers: Wir haben die Erfahrung gemacht, daß solch ein Prozeß, in den sich alle einbringen - also Systemlieferanten, Berater, Kunde, die Mitarbeiter des Kunden -, rund zwei Jahre, wenn nicht gar mehr Zeit braucht.

CW: In München wird nun die Systec die Pforten öffnen. Auch diese Messe, die erstmalig 1986 stattfand, ist sozusagen ein Kind der CIM-Euphorie. Wiechers & Partner war bislang immer vertreten, gehört aber diesmal nicht zu den Ausstellern.

Wiechers: Das ist richtig. Wir haben in den letzten Jahren sehr viele Messen besucht, wollen dies aber nun beträchtlich reduzieren. So werden wir uns künftig nur noch auf der CeBIT in Hannover und der ACS in Wiesbaden engagieren. Übermäßige Messeaktivitäten - zuletzt nahmen wir an zehn Messen pro Jahr teil - rechnen sich nicht mehr. Einmal abgesehen von den Kosten, binden, sie auch zuviel Manpower - und das in Zeiten, da auf solchen Veranstaltungen keine Neukontakte mehr geknüpft werden. Eine Teilnahme aber rein aus Imagegründen ist heute wirtschaftlich nicht vertretbar.

CW: Wollen Sie damit sagen, daß Messen generell keine Bedeutung mehr haben?

Wiechers: Nein, Messen sind sicherlich notwendig. Ob es allerdings einer solchen Vielzahl bedarf, ist zweifelhaft. Das aber muß jedes Unternehmen für sich selbst ausmachen. Für uns als Anbieter von integrierten Lösungen, der sich primär darauf konzentriert, Know-how-Transfer als Alleinstellungsmerkmal zu begreifen - also weg von Produkten -, sind diese Messen jedenfalls kein geeignetes Forum, unser Angebot zu transferieren. Wie soll ich ein Integrationskonzept auf einer Messe darstellen?

CW: Dann durfte eine Messe wie die bevorstehende Systec kaum Überlebenschancen haben...

Wiechers: Wie gesagt, jedes Unternehmen muß selbst entscheiden, ob eine Messe das geeignete und ein rentables Forum zur Präsentation darstellt. Was die Systec angeht: Wir möchten einfach nicht in den Geruch kommen, CIM-Salabim mitzumachen.

Auch dort wird mit Produkten gehandelt, wir aber verstehen uns nicht als Produktlieferant, sondern wir bemühen uns, Integrationslösungen zu liefern. Dafür ist selbst eine Messe wie die, die jetzt in München stattfindet und unsere Zielgruppe anspricht, wenig hilfreich.

CW: Ein letztes Thema: Nachdem das Schlagwort CIM in den 80er Jahren die DV-Branche und die Fertigungsbetriebe ziemlich durcheinander gebracht hat, gibt es nun ein neues Schlagwort - Lean Production beziehungsweise - Lean Management. Diesmal handelt es sich um eine neue Führungsphilosophie, die den Geist des Teamworks unter den Mitarbeitern beschwören und zum Abbau von Hierarchien führen soll. Ist es nicht verwirrend, daß immer wieder wohlklingende Begriffe kreiert werden für etwas, das in manchem Betrieb schon vorher praktiziert wird?

Wiechers: Das ist leider so. Solche Schlagworte gab es und wird es auch weiterhin immer wieder geben. Vor CIM war beispielsweise MIS ein Riesenbegriff. Dann kam CIM, jetzt reden wir über Lean Production, über Lean Management. Für uns ist Lean Production nichts Neues, wir praktizieren dies bereits seit vielen Jahren. Nur haben wir es halt nicht so genannt.

CW: Also wird das Rad immer wieder neu erfunden, nur weil es sich mit einem imposanten Wort besser verkaufen läßt.

Wiechers: Das Spiel mit Begriffen ist nun einmal ein Marketing-Instrument. Dennoch bin ich der Meinung, daß die Ansätze solcher Theorien, die dann leider nur zu schnell in Euphorie münden, richtig und verfolgenswert sind. Das Problem ist die Umsetzung. Oftmals - das hat gerade CIM - in der Vergangenheit gezeigt - verkommen die positiven Ansätze zu einer reinen Marketing-Idee. Deshalb gilt es, an die Anbieter den Appell zu richten, mit solchen Schlagworten künftig sorgfältig umzugehen.