4. Generations-Software krankt an "circulus vitiosus":

Mißverständnisse belasten User-Hersteller-Ehe

18.10.1985

DARMSTADT - Definitionswirrwarr herrscht immer noch im Bereich der Software der 4. Generation: Der Anwender verlangt seine Programme, die seine Probleme lösen, der Hersteller verspricht sie Dennoch - eine Kongruenz wird seiten erzielt. Hans Gerd Tuehl, Leiter des technischen Marketing der Software AG aus Darmstadt, versucht in seinem Beitrag, Licht in das Dunkel zu bringen und unter Gewichtung verschiedener Argumentationsweisen eine Struktur dieses Problems zu verdeutlichen.

James Martin hin - Anwendungsrückstau her, ob es den vielzitierten "Applicationsbacklog" nun gibt oder nicht - betrachtet man einige Seiten weiter in dieser Zeitung die Stellenangebote, so steht dort: . . . programmieren in Assembler, Cobol, PL/1, das Datenbanksystem ist DL/1, der TP-Monitor CICS und so weiter. Dies bedeutet, daß Anwendungssysteme auch 1985 noch zum allergrößten Teil mit den herkömmlichen Sprachen, Verfahren und Systemkomponenten, hierarchisch orientierten DBMS etwa, entstehen.

Es werden also Sprachen eingesetzt, die zur Zeit der Stapelverarbeitung entworfen wurden, keine Anweisungen für den Dialog mit Bildschirmterminals, geschweige denn für die interaktive Kommunikation mit Personalcomputern oder etwa für die Kommunikation mit dem DBMS bieten. Diese Aufzählung der Unzulänglichkeiten ließe sich fortsetzen. Eine Vielzahl verschiedener Werkzeuge, Sprachen, Schnittstellen und Dienstprogramme müssen beherrscht, berücksichtigt und ausgeführt werden, Batch-Programme müssen anders strukturiert werden als Dialog-Programme, Datenzugriffe oder -manipulationen richten sich nach der jeweiligen Datenorganisationsform.

Dies alles benötigt seine Zeit und Mitarbeiter, die in der Lage sind, die Lösung zu erstellen - und geduldige Endbenutzer in den Fachbereichen. Es ist daher sicher keine Überraschung, wenn die Versprechen der Software-Anbieter, mehr Einfachheit und höhere Produktivität zu schaffen, bei Unternehmen wie DV-Chefs auf fruchtbaren Boden fallen.

Der Terminus "Sprachen der 4. Generation" ist eigentlich unzutreffend. Zuviel unterscheidet diese neuen Systeme zur Anwendungsentwicklung von den bisherigen Programmiersprachen. Es ist eben nicht nur eine neue, sehr viel mächtigere Sprachebene, die ein System der 4. Generation ausmacht: Viele andere integrierte Komponenten bilden eine Software-Umgebung, die alle benötigten Funktionen für den Entwurf, die Realisierung, den Einsatz und die Pflege der DV-Anwendung umfaßt.

Diese Integration ist es, die eine drastische Produktivitätssteigerung in der Anwendungsentwicklung und die ebenso drastische Senkung des Pflegeaufwandes für Anwendungen erbringt.

Die Rolle des DD wandelt sich

Das Konzept eines integrierten Software-Systems geht beachtliche Schritte weiter: So sind inzwischen die Verknüpfung der Personalcomputer, die Grafik-Ausgabe, die Einbindung von Textkonserven aus dem Bereich der Textverarbeitung oder anderer administrativer Funktionen aus Büro und Verwaltung technisch gelöst.

Die Rolle des Data-Dictionary-Systems wandelt sich durch die Integration in ein Software-Gesamtsystem ebenfalls: vom eher passiven System für die bestenfalls projektbegleitende Dokumentation zum aktiv durch das System zur Anwendungsentwicklung genutzten Informationslexikon. Der Nutzen des Data-Dictionary-Systems wird so deutlich höher als der Aufwand für seinen Betrieb.

Ebenso wichtige Aspekte wie die Verteilung von Daten und Prozessen auf verschiedene Knoten eines Rechnernetzes oder die Portabilität fertiger Anwendungen in neue, systemtechnische Umgebungen (Betriebssystem, TP-System, DB-System, Hardwaresystem) wurden von den Entwicklern umfassender Systemsoftware berücksichtigt und technisch weitgehend realisiert.

Es fällt schwer, das aufgezeigte Szenarium mit der Cobol- oder PL/1 Welt zu vergleichen. Trotzdem - es gibt Befürworter, die an den bisherigen Sprachen festhalten wollen. Ihre Argumentation kreist im wesentlichen um den Aspekt der fehlenden Normung der neuen Software-Generation beziehungsweise um die Frage, ob ein Anwender dieser neuen Systeme nicht eine zu starke Abhängigkeit vom Hersteller des Software-Systems eingeht.

Einige Zwischentöne, die den neuen Sprachen allenfalls die Anwendung durch Endbenutzer beziehungsweise die Lösung einfacherer Anwendungsprobleme mit Datenselektions- und Anzeigefunktionen zutrauen, seien nicht unerwähnt. Vertreter dieser Argumentation tun sicher gut daran, ihr Wissen um die Leistungsfähigkeit heutiger Systeme einmal zu aktualisieren beziehungsweise die durch Anwender dieser Systeme realisierten Einsätze zu begutachten.

Wirtschaftlicher Nutzen prägt SW-Verbreitung

Wirklich integrierte Software-Systeme des eingangs umschriebenen Umfanges sind allerdings gemeint, nicht solche Produkte, die dem CICS-Anwender helfen, eine Transaktion schneller herstellen zu können, und auch nicht solche, die sich ausdrücklich mit begrenztem Funktionsumfang an den Endbenutzer wenden. Diese Produkte haben ihre Berechtigung, aber mit dem beschriebenen System der 4. Software-Generation nichts zu tun.

Zum Thema fehlender Standardisierung beziehungsweise der Abhängigkeit vom Software-Hersteller: Eine der wenigen Programmiersprachen, die jemals normiert wurden, ist Cobol. Trotzdem besitzen die Cobol-Compiler der verschiedenen Compurterhersteller individuelle Eigenschaften, ein Herstellerwechsel eines Cobol-Anwenders ohne die Notwendigkeit, die Programme modifizieren zu müssen, wurde nicht bekannt. Die meisten anderen Programmiersprachen sind ohnehin von Computerhersteller zu Computerhersteller unterschiedlich, nicht genormt beziehungsweise von diesem kreiert (PL/1).

Gemeint sein kann also wohl kaum die fehlende Standardisierung, sondern vielmehr die Verbreitung, die eine Sprache in der Anwendung, und damit am Markt, gefunden hat. Die Verbreitung der neuen Software-Systeme wird davon geprägt, welchen tatsächlichen wirtschaftlichen Nutzen sie ihren Anwendern erbringt.

Wird gar der Integrationsgrad dieser Systeme innerhalb des DV-Gesamtkonzeptes einschließlich Bürosystem, Personalcomputer und so weiter berücksichtigt, fällt die Vorstellung schon sehr schwer, neue DV-Anwendungen mit den alten Sprachen und Verfahren zu entwickeln - auch dann, wenn eine höhere Sprachebene durch einen "Pre-Compiler" erreicht werden kann.

Der Pre-Compiler-Ansatz, mit dem einige Vertreter zumindest ihre bisherige Sprache als ausgegebenes Quellprogramm wiedersehen und sich so in Sicherheit vor dem Zusammenbruch des Pre-Compiler-Lieferanten wähnen, basiert auf einer Illusion. Je leistungsfähiger der Pre-Compiler, um so weiter ist die Spezifikationsebene von der generierten Quellprogramm-Ebene entfernt. Es entstehen Programme, die niemand geschrieben hat (weil automatisch generiert) - und die, fehlt dann der Pre-Compiler, auch niemand verstehen oder pflegen könnte.

Anwendungen bleiben herstellerunabhängig

Das Abzielen der Vertreter dieses Ansatzes auf das Sicherheitsbedürfnis des Anwenders ist daher Augenwischerei. So wie ein Pre-Compiler nicht automatisch mit dem Zusammenbruch des Herstellers verschwindet, sowenig ist dies bei den globalen Systemen zur Anwendungsentwicklung zu befürchten. Außerdem handelt es sich bei diesen Anbietern meist um internationale, wirtschaftlich potente Unternehmen der Software-Industrie.

Anders als solche Software-Systeme, die von den Computerherstellern angeboten werden, zeichnen sich gerade die umfassenden Systeme der 4. Generation unabhängiger Softwarehersteller durch eine neue Ebene der Unabhängigkeit von der systemtechnischen Umgebung aus.

So bleiben Anwendungen, die auf diesen Systemen basieren, unabhängig von datenbankspezifischen Anweisungen, unabhängig von physischen Datenstrukturen, sind häufig in unterschiedlichen TP-Umgebungen unverändert ablauffähig und funktionieren unabhängig von der Frage der Verteilung von Datenbanken innerhalb eines Computernetzwerkes. Darüber hinaus sind sie unabhängig von verschiedenen Betriebssystemen einsetzbar - dies teilweise sogar über verschiedene Hardwarehersteller mit unterschiedlicher Hardware-Architektur hinaus.

Die Investition des Anwenders in Anwendungssoftware ist daher nicht mehr an einen einzelnen Hardwarehersteller und dessen Betriebssoftware-Umgebung gebunden. Der wirtschaftliche Nutzen durch die sehr viel höhere Produktivität der Entwickler von DV-Anwendungen, die bessere Akzeptanz der Anwendungen bei den Endbenutzern durch deren stärkeren Einbezug, durch die Prototyping-Möglichkeiten der Systeme der 4. Generation und nicht zuletzt die Unabhängigkeit von der Hardware und der Betriebssystem-Software werden weiter dafür sorgen, daß innovative Software-Lösungen vom Markt honoriert werden.

Die Frage nach der Überlebensdauer der Produzenten solcher Software-Lösungen wird vermutlich eher von der Frage nach der Überlebensdauer einiger Hardwarehersteller überdeckt werden.