Japaner für technischen Wandel besser gerüstet:

Mikroelektronik verursacht Magendrücken

23.04.1982

SANDERSTED, ENGLAND (cw) - "Die neue elektronische Informationstechnik ist wegen ihres breiten Anwendungsspektrums mehr revolutionär als evolutionär. Für 50 bis 100 Dollar kann man heute jedes beliebige Gerät mit Intelligenz (einem Prozessor) und Gedächtnis (einem Speicher) versehen", meinte Dr. Alexander King, Vorsitzender der International Federation of Institute of Advanced Study (IPAS) in Sandersted.

Als Gründungsmitglied des Club of Rome befaßte er sich in seinem Gastvortrag eingehend mit dem neuesten Report dieser Vereinigung mit dem Titel "For Better or For Worse?", in dem die Auswirkungen der Mikroelektronik auf die Gesellschaft untersucht werden. (Im deutschsprachigen Raum heißt diese Untersuchung "Auf Gedeih und Verderb - Mikroelektronik und Gesellschaft". )

Die Anlaufzeit zwischen Forschung und Entwicklung und ihrer Anwendung auf breiter Ebene beträgt laut King bei bedeutenden technischen Neuerungen etliche Dekaden. Gegenwärtig befänden wir uns in einer Übergangszeit, die sich über drei bis fünf Jahrzehnte erstrecke. In dieser Periode hätten die meisten Industrienationen mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, da die Verbreitung neuer Technologien über die Grenzen hinweg sehr schnell voranschreite. Ausgenommen seien hierbei allerdings die Staaten des Ostblocks. Staatliche Planung und umfassende Kontrolle sorgten dafür, daß diese Länder ihre untergeordnete Position in der Weltwirtschaft beibehielten.

Kurzfristig rechnet das Club-of-Rome-Mitglied King nur mit einer geringen Zunahme der Arbeitslosigkeit durch den technischen Wandel, langfristig dagegen mit einer erheblichen Steigerung. Wie auch die in Paris ansässigen Experten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nimmt er an, daß sich der durch die Mikroelektronik verursachte Wandel zunächst mehr im Niveau und der Art des beruflichen Könnens, in den Organisationsstrukturen und Managementsystemen auswirken wird, und nicht so sehr in den Beschäftigtenzahlen.

Anwendungsniveau bestimmend

Dagegen hat nach Meinung Kings ein niedriges Anwendungsniveau in einzelnen Ländern für ihre Industrien weitreichende Folgen. Sie büßen an Wettbewerbsfähigkeit ein, was sich nachteiliger auf den Arbeitsmarkt auswirkt als Freistellungen durch Automatisierung. So können beispielsweise laut King in Japan geschaffenen Arbeitsplätze einen entsprechenden Abbau in Europa zur Folge haben.

Überhaupt sieht der IFAS-Experte Japan weiterhin als Schrittmacher. Die Ursache liege aber weniger in den technischen Fähigkeiten dieses Landes, sondern in seiner Sozialstruktur. Das Wesen der japanischen Gesellschaft, ihre soziale Kohärenz, die industriellen und zwischenmenschlichen Beziehungen, ihr großer Vorteil, Entscheidungen von großer Tragweite einvernehmlich zu erzielen - all das dürfte sich als wichtiger erweisen als allein technologische Erwägungen.

Eine Schlüsselrolle kommt King zufolge dem in der japanischen Industrie herrschenden Patronatsprinzip zu. Die angewandten Konsensmechanismen bewirken dabei nicht nur eine strenge Loyalität des Arbeitnehmers zum Unternehmen, sondern schaffen auch umgekehrt günstige Beziehungen zwischen Management und Belegschaft. Es liege daher die Vermutung nahe, daß Japan zur Aufrechterhaltung dieses Konsens die durch Automatisierung freigestellten Arbeitnehmer in neugeschaffenen Arbeitsplätzen unterzubringen versuche. Voraussetzung sei da für allerdings die Erschließung neure Märkte.

Das Dilemma des Westens

Die westlichen Länder haben das in der japanischen Industrie herrschende Patronatsprinzip durch das soziale Netz des Staates ersetzt. Ihre Reaktion auf Arbeitslosigkeit besteht zumindest anfänglich in der Unterstützung der Erwerbslosen. Nach Meinung Kings sei es daher möglich, daß sich die durch die Automatisierung verursachten Zwänge in den westlichen Staaten sehr viel stärker auswirken als in Japan. Sie seien aber gezwungen, die neuen Technologien beschleunigt anzuwenden, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollten.

Radikalere Methoden notwendig

Der Westen befände sich daher in einer Konfliktsituation. Auf der einen Seite sei es notwendig, die Beschäftigtenzahl zu halten, andererseits müsse die Produktivität gesteigert werden. Für einige westliche Länder kann das nach Auffassung des Club-of-Rome-Mitglieds King zu einem schweren Dilemma führen, denn "die Länder, die als Folge der Mikroelektronikanwendungen wirtschaftliche Erfolge erzielen, dürften gerade diejenigen sein, die unter der dadurch verursachten Arbeitslosigkeit am meisten zu leiden haben".

King forderte daher radikalere Methoden als die bisher angewandten. "Regierungen, Arbeitgeber und Gewerkschaften sollten im gemeinsamen Interesse ernsthaft zusammenwirken, um die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die anderen sozialen Konsequenzen der neuen Informationstechnologien eingehender als bisher zu durchdenken", meinte er. Dies sei sowohl im Hinblick auf vorzuschlagende Ebentualmaßnahmen als auch im Sinne langfristiger und fundamentaler Reaktionen auf gesellschaftliche Änderungen erfoderlich, damit die neuen Technologien ungestört absorbiert werden könnten, ihre wirtschaftlichen Vorteile zum Tragen kämen und so eine vorteilhafte gesellschaftliche Evolution ermöglicht würde.

Die Existenzfrage lautet daher - so King abschließend -, "ob die Regierungen mit Unterstützung einer informierten öffentlichen Meinung imstande sein werden, die neuen Chancen der Informationstechnik mit Bedacht und wohlüberlegt zu nutzen und eine bessere Gesellschaft zu formen, anstatt nur passiv und post facto eine selbstsüchtige Anpassung an die Folgen dieser Entwicklung zu versuchen".

*Rex Malik ist freier Journalist in London. Aus COMPUTERWORLD übersetzt von Hans J. Hoelzgen, Böblingen.