Spracherkennung für Healthcare

Microsoft übernimmt Nuance

13.04.2021
Von 
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
Für fast 20 Milliarden Dollar schluckt Microsoft den Spracherkennungs- und KI-Spezialisten Nuance, der sich in den vergangenen Jahren zunehmend auf den Healthcare-Sektor konzentriert hatte.
Mit der Übernahme von Nuance tätigt Microsoft die zweitgrößte Akqusition seiner Geschichte.
Mit der Übernahme von Nuance tätigt Microsoft die zweitgrößte Akqusition seiner Geschichte.
Foto: JeanLucIchard - shutterstock.com

Für Microsoft ist es die zweitgrößte Übernahme der Firmengeschichte - nach der Akquisition von LinkedIn für 26,2 Milliarden Dollar im Juni 2016. Für jede Nuance-Aktie zahlt Microsoft 56 Dollar in bar, das entspricht einem Aufschlag von 23 Prozent gegenüber dem Schlusskurs vor Bekanntgabe des Deals. Insgesamt hat die Transaktion ein Volumen von 19,7 Milliarden Dollar. Nach den Plänen beider Softwareunternehmen soll die Übernahme noch im laufenden Kalenderjahr abgeschlossen werden. Mark Benjamin soll CEO von Nuance bleiben und an Scott Guthrie, Executive Vice President für den Bereich Cloud & AI bei Microsoft, berichten.

Warum Microsoft Nuance übernimmt

Mit dem Kauf erwirbt Microsoft nicht nur Know-how im Geschäft mit Spracherkennungs-Lösungen, sondern verbessert auch sein Standing im Healthcare-Bereich. Der weltgrößte Softwarekonzern hatte erst im vergangenen Jahr die Cloud for Healthcare vorgestellt, ein auf die Anforderungen im Gesundheitssektor zugeschnittenes Software-Portfolio aus der Azure-Cloud. Dies soll nun offenbar um die Nuance-Lösungen ergänzt werden. In der Vergangenheit gab es immer wieder Spekulationen um einen Verkauf von Nuance. Als 2014 Gerüchte aufkamen, dass Samsung den Spracherkennungsspezialisten schlucken könnte, soll laut dem "Wall Street Journal" auch Apple Interesse bekundet haben. Nuance-Technik steckt hinter Apples Sprachassistenten Siri.

Die Firmengeschichte von Nuance reicht bis in die frühen 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. 1992 wurde Visioneer gegründet. Das in Burlington, Massachussetts, beheimatete Softwareunternehmen entwickelte Lösungen für das Scannen von Dokumenten und die Erkennung von Texten. 1999 übernahm Visioneer den Konkurrenten Scansoft und firmierte fortan unter dessen Namen. 2005 akquirierte Scansoft den Spracherkennungsspezialisten Nuance Communications und übernahm erneut den Namen des übernommenen Unternehmens. Bekannte Softwareprodukte aus der Firmengeschichte sind "TextBridge", das Dokumenten-Management-System "PaperPort" und die Texterkennungssoftware "OmniPage".

Ab 2005 konzentrierte sich Nuance Communications vor allem auf das Thema Spracherkennung. Dafür hat der Softwareanbieter in den Folgejahren etwa 50 Unternehmen übernommen, darunter die Spracherkennungstechniken von Philips im Jahr 2008 und 2009 die entsprechenden Patente von IBM. Seit 2012 standen zudem etliche Spezialisten für den Healtcare-Sektor auf der Einkaufsliste der Nuance-Verantwortlichen. 2019 trennte sich das Unternehmen weitestgehend von seinen Dokumentenlösungen, die an Kofax verkauft wurden, und fokussierte sich auf Spracherkennung und KI. Neben dem Gesundheitssektor stehen vor allem Unternehmen aus dem Rechtswesen, der Finanz- und Versicherungsbranche sowie der Telekommunikation und Versorgungswirtschaft auf der Kundenliste von Nuance.

Eigenen Angaben zufolge verwenden weltweit etwa 10.000 medizinische Einrichtungen die Lösungen von Nuance. In Deutschland sollen es etwa 80 Prozent der Krankenhäuser sein, darunter die Charité in Berlin. Der Softwareanbieter beschäftigt etwa 7100 Mitarbeiter und ist in rund 45 Ländern weltweit vertreten.

Nuance-Übernahme - Hoffen auf bessere Zeiten

Einer der Gründe für den Verkauf könnte der hohe Schuldenstand von Nuance gewesen sein, der auch auf die zahlreichen Übernahmen der vergangenen Jahre zurückzuführen ist. Laut dem letzten Jahresbericht für das Fiskaljahr 2020, das am 30. September vergangenen Jahres beendet wurde, beliefen sich die Außenstände des Softwareanbieters auf knapp 1,7 Milliarden Dollar - die nun von Microsoft übernommen werden und im Gesamtkaufpreis mit eingerechnet sind. Die wirtschaftliche Entwicklung von Nuance stagnierte in den vergangenen Jahren. Im Finanzjahr 2020 stand ein Umsatz von 1,48 Milliarden Dollar zu Buche, knapp drei Prozent weniger als im Jahr zuvor (1,52 Milliarden Dollar). 2018 beliefen sich die Jahreseinnahmen auf 1,57 Milliarden Dollar, 2017 waren es 1,48, ein Jahr zuvor 1,51 Milliarden Dollar. Zuletzt verbuchte das Unternehmen immerhin mit 28,8 Millionen Dollar einen kleinen Jahresgewinn. In den Jahren zuvor schrieb Nuance stets rote Zahlen.

Unter dem Dach von Microsoft hofft das Unternehmen nun auf bessere Zeiten. Beide Softwarehäuser kooperieren bereits seit 2019. Die Lösungen "Dragon Ambient eXperience", "Dragon Medical One" und "PowerScribe One" für die Radiologieberichterstattung, basieren als SaaS-Angebote für klinische Spracherkennung auf Microsoft Azure. Darüber hinaus seien die Lösungen eng mit wichtigen Gesundheitssystemen wie beispielsweise elektronischen Gesundheitsakten integriert.

Das Nuance-Portfolio soll tief mit Microsoft-Lösungen wie Azure, Teams und Dynamics 365 integriert und kombiniert werden, hieß es. "Nuance liefert die KI-Ebene am Point of Delivery im Gesundheitswesen und ist ein Pionier bei der praktischen Anwendung von KI in Unternehmen", sagte Satya Nadella, CEO von Microsoft. KI habe gerade im Gesundheitswesen oberste technologische Priorität. "In den letzten drei Jahren hat Nuance sein Portfolio gestrafft, um sich auf die Segmente Gesundheitswesen und KI in Unternehmen zu konzentrieren", ergänzte Mark Benjamin, CEO von Nuance. "Um diese Chance zu nutzen, brauchen wir die richtige Plattform." Der Weg in die Zukunft führe eindeutig über Microsoft.

Beide Manager betonten zudem die finanziellen Vorteile des Zusammenschlusses. Benjamin erklärte, die Akquisition steigere den Wert für die eigenen Aktionäre und biete die bessere Zukunftsperspektive. Nadella verwies darauf, dass sich mit dem Deal der adressierbare Markt von Microsoft im Bereich der Gesundheitsdienstleister auf insgesamt 500 Milliarden Dollar verdoppele.

Gerade die Corona-Krise hat in den vergangenen Monaten immer wieder gezeigt, wie wichtig die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist - und auch, wie weit viele Einrichtungen noch hinterherhinken. Vor allem der ungenügende Austausch von Daten zwischen Ärzten, Krankenhäusern, Kassen und Gesundheitsämtern behinderte den Kampf gegen die Ausbreitung der Pandemie und stand zuletzt in der Kritik. Auch die vielen Schlagzeilen über gelungene Ransomware-Attacken auf Krankenhäuser machten deutlich, wie viele IT-Hausaufgaben in dieser Branche noch zu erledigen sind.