Pilotversuch mit Zubehör und Schnickschnack

Mercedes-Vertrieb wagt erste Online-Schritte

17.01.1997

"Die Händler sollten verschwinden ein Händlernetz ist Zeitverschwendung." Diese These vertrat Nicholas Negroponte, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Autor des Standardwerks "Being Digital", vor etwa einem Jahr anläßlich der "Frankfurter Multimedia Tage". Negropontes Vision zufolge werden die Käufer der Zukunft von der Sichtung des Angebots bis zur Bezahlung das Internet nutzen. Der Zwischenhandel wäre damit völlig überflüssig.

Von dieser Idee hält die Mercedes-Benz AG, Stuttgart, gar nicht viel. Das beteuert zumindest Frank Appenzeller, Leiter des Fachgebiets Neue Medien im Vertrieb. Dieser Unternehmensbereich treibt quasi Grundlagenforschung für die Verkaufsaktivitäten des Automobilkonzerns. Sein Ziel besteht darin, die mittel- bis langfristigen Möglicheiten für digitale Handelskanäle zu erforschen.

Gegen den Online-Vertrieb von Neufahrzeugen spricht für Mercedes-Benz vor allem, daß er zu einer unerwünschten Preistransparenz führen würde. Bedingt durch Währungsparitäten, abweichende Ausstattung, Steuern, Zölle und Besonderheiten der Nachfrage müssen die Kunden in unterschiedlichen Ländern für dasselbe Modell jeweils einen anderen Preis zahlen. Findige Zwischenhändler machen sich diese Tatsache zunutze, indem sie die Autos dort einkaufen, wo sie wenig kosten, um sie dann in Hochpreisländern teuer weiterzuveräußern.

Appenzeller weiß, daß der Hersteller das nicht unterbinden kann. Und er räumt ein, daß sich extrem kostenbewußte Kunden die notwendigen Informationen mit wenig Aufwand selbst verschaffen können. "Die Frage ist nur, ob man das offensiv kommunizieren soll." Wenn die Preise erst einmal im Internet veröffentlicht seien, könne jeder Interessent weltweit und 24 Stunden am Tag via Knopfdruck in Erfahrung bringen, wieviel ein Mercedes-Modell in Stuttgart, New York oder Singapur kostet.

Das sollte dem Hersteller zunächst einmal gleichgültig sein. Aber die Konsequenzen, die eine Ausweitung des Graumarkts auf die Konkurrenzfähigkeit der lokalen Händler hätte, können Mercedes nicht passen. Würden die Schwaben ihre Fahrzeuge hauptsächlich online verkaufen, so bliebe den Mercedes-Niederlassungen im wesentlichen nur noch das Instandhaltungsgeschäft.

Augenscheinlich will der Automobilbauer das in hundert Jahren gewachsene Beziehungsgeflecht zwischen Produzent und Wiederverkäufer nicht zerreißen. Nach Appenzellers Darstellung sind die lokalen Händler im Geschäft mit Automobilen der Mittel- und Oberklasse unverzichtbar, weil sie die Vor-Ort-Betreuung der anspruchsvollen Kundschaft sicherstellen.

Trotzdem spielt das Fachgebiet Neue Medien im Vertrieb den Online-Handel im Geiste schon einmal durch. Immerhin kann sich der Kunde das von ihm gewünschte Automobil bereits allein und in aller Ruhe selbst zusammenstellen - mit Hilfe des World Wide Web. Die Homepage des Herstellers http://www.mercedes-benz.com verweist auf einen virtuellen Autosalon, wo ein "Online-Konfigurator" (Mercedes-Jargon) den potentiellen Autokäufer bei der Auswahl der Fahrzeugkomponenten - vom Motor bis zum Sitzbezug - unterstützt.

Dasselbe leisten die zehn über ganz Deutschland verteilten "Kioske", in Hotelfoyers oder auf Bahnhöfen installierte Informationseinheiten, die den Passanten für interaktive Abfragen zur Verfügung stehen. Anders als auf der Web-Page erfährt der Kunde dort auch, was ihn der Spaß kosten würde. Tatsächlich kaufen kann er weder hier noch dort. Wenn er bereit ist, seine Anschrift preiszugeben, erhält er lediglich eine Liste mit Mercedes-Händlern.

Appenzeller und sein Team denken aber bereits darüber nach, was möglich wäre, falls die Globalisierung der Märkte die Preisunterschiede einebnen sollte. Die Entscheidung zugunsten des Online-Vertriebs zöge einen Rattenschwanz von Integrationsproblemen nach sich. Schließlich müßten Datenbanken, Materialwirtschaft, Produktionsplanung und Buchungssysteme, eventuell sogar die Fertigungssteuerung mit der neuen Vertriebsvariante in Einklang gebracht werden.

Keine Rolle spielten diese Konsequenzen bei dem kürzlich zu Ende gegangenen Praxistest für den Ernstfall: Von Juli bis November vergangenen Jahres hatte Mercedes-Benz auf seiner Homepage den Zugang zu einer elektronischen "Mall" installiert, die den Internet-Surfern eine kleine Kollektion von Accessoires zum Kauf anbot - mit Preisauszeichnung, aber ohne Verbindung zu den unternehmensweiten IV-Systemen. Die rund zwei Dutzend Artikel reichten von der Anstecknadel für etwa fünf Mark bis zum Fahrrad für knapp 2000 Mark.

Auf diesem Weg ließen sich, so Appenzeller, auch Zielgruppen erreichen, die die Hemmschwelle vor der Tür des Mercedes-Händlers kaum jemals überwänden. Wie die Auswertung eines der Web-Page beigefügten Fragebogens ergab, fahren rund 60 Prozent der Online-Besucher keinen Mercedes. Auch der Altersdurchschnitt ist deutlich geringer als bei der traditionellen Mercedes-Klientel.

Bezahlt haben die Pilotkunden noch konventionell - per Nachnahme. Bislang war den Mercedes-"Vertriebsforschern" die Online-Kasse noch zu unsicher. Aber wie sie selbst einräumen, wäre beispielsweise das Digicash-Verfahren der Deutschen Bank durchaus eine vertrauenserweckende Alternative.

Wie viele Web-Surfer tatsächlich von dem befristeten Angebot Gebrauch gemacht haben und wieviel Umsatz sie dem Unternehmen dadurch verschafften, will Appenzeller nicht verraten. Gern teilt er aber mit, daß sich per Internet sogar ein Kunde für das teure Fahrrad gefunden habe. Und unter dem Strich sei der Aufwand durch die Einnahmen mehr als aufgewogen worden.

Derzeit arbeitet das Neue-Medien-Team daran, die gewonnenen Erkenntnisse in ein Konzept zu gießen. Mit einem breiteren und besser gegliederten Produktspektrum wollen die Stuttgarter dann die Bühne des Electronic Commerce betreten.