Software defined Vehicle

Mercedes eröffnet Software-Fabrik in Sindelfingen

11.04.2022
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 
Mit dem Electric Software Hub hat Autobauer Mercedes-Benz am Standort Sindelfingen eine Software-Integrationsfabrik eröffnet. In das Projekt investierte der Konzern über 200 Millionen Euro.
In Sindelfingen hat Mercedes-Benz ein neues Software-Entwicklungszentrum eröffnet, das als Software-Integrationsfabrik dienen soll.
In Sindelfingen hat Mercedes-Benz ein neues Software-Entwicklungszentrum eröffnet, das als Software-Integrationsfabrik dienen soll.
Foto: Mercedes-Benz

Die Autobauer müssen sich von Blechbiegern zu Softwareschmieden weiterentwickeln und zu TEC-Companies transformieren, forderte etwa Emerging Technology Specialist Jay Latta im TechTalk von COMPUTERWOCHE und CIO. Ein Autobauer, der diesen Schritt jetzt vollzieht, ist Mercedes-Benz. Mit dem Electric Software Hub eröffneten die Schwaben am Standort Sindelfingen ein entsprechendes Software-Entwicklungszentrum, das zugleich als Software-Integrationsfabrik dienen soll.

Integrationsfabrik deshalb, weil laut Markus Schäfer, Vorstandsmitglied der Mercedes-Benz Group AG und als Chief Technology Officer verantwortlich für Entwicklung und Einkauf, künftig Hard- und Software entkoppelt seien, diese aber perfekt zusammenspielen müssten. Und dies solle der Software Hub gewährleisten, um das strategische Ziel des Unternehmens "Lead in electric drive and car software" zu realisieren. Zudem soll der Hub maßgeblich an der Entwicklung des hauseigenen Betriebssystems MB.OS mitwirken.

1.000 neue Stellen

Allein in Sindelfingen sollen rund 1.000 neue Stellen für Software-Entwicklerinnen und -Entwickler entstehen. Bis zu 2.000 weitere Stellen kommen derzeit im globalen R&D-Verbund hinzu. Mit dem Software Hub reagiert das Unternehmen eigenen Angaben zufolge zudem auf die zunehmende Digitalisierung im Fahrzeug, was ein hochkomplexer Prozess sei. Zumal die Fahrzeugentwicklung nicht mehr zu einem bestimmten Punkt abgeschlossen sei. Auch Autos in Kundenhand würden fortlaufend Software-Updates mit neuen und verbesserten Funktionen erhalten.

Um diesen komplexen Prozess zu bewältigen, setzen die Schwaben im Hub auf das Prinzip "Simultaneous Engineering und Seamless Integration". Dazu arbeiten in dem Gebäude 19 funktionsübergreifende Abteilungen zusammen. Auf acht Ebenen soll der Electric Software Hub den gesamten Elektrik-/Elektronik-Integrationsprozess der Fahrzeugentwicklung widerspiegeln. Von oben nach unten - vom Code zum Produkt - sollen Software und Hardware immer weiter ins Fahrzeug einfließen, bis sie auf den unteren Flächen in Fahrzeug-Prototypen integriert werden.

Auf acht Ebenen soll der Electric Software Hub den gesamten Elektrik-/Elektronik-Integrationsprozess der Fahrzeugentwicklung widerspiegeln.
Auf acht Ebenen soll der Electric Software Hub den gesamten Elektrik-/Elektronik-Integrationsprozess der Fahrzeugentwicklung widerspiegeln.
Foto: Mercedes-Benz

Entwicklungszeit verkürzen

In den oberen Stockwerken befinden sich die Software-Code-Erstellung und die Labore der Vor-Integration. Hier testen die Expertinnen und Experten zunächst mit virtuellen Technologien und Simulation, ob die verschiedenen Softwarekomponenten korrekt miteinander interagieren und die Fahrzeugfunktionen fehlerfrei umgesetzt werden - man spricht von Integration. Hierzu werden etwaKomponenten und Steuergeräte in einem virtuellen Fahrzeug vollautomatisiert getestet - Stichwort Hardware-in-the-Loop.

Auch in sehr frühen Phasen der Software-Entwicklung, also noch bevor die ersten Steuergeräte als Hardware vorliegen, können über spezifische Simulationsverfahren die Fahrzeugfunktionen getestet werden. Selbst die vollständige Simulation einer Erprobung im Fahrzeug sei im Electric Software Hub durch die Technologie der "Digitalen Erprobungsfahrt" möglich, heißt es bei Mercedes. Dabei wird in einer vollständig simulierten Umwelt ein virtuelles Fahrzeug in gleicher Weise bewegt und getestet, wie dies bei einer realen Fahrerprobung der Fall wäre - nur findet diese "Erprobungsfahrt" in einem Labor im sechsten Stockwerk des Electric Software Hubs statt.

Kurze Wege fördern schnelle Ergebnisse

Auf Ebene 4 befinden sich dann die fahrbaren Prototypen. Sogenannte Klausur-Flächen gruppieren sich um Besprechungsräume. So können die Teams die bei den Tests gewonnenen Daten direkt gemeinsam auswerten. Hierzu wurde das gesamte Gebäude per Glasfaser-Technologie vernetzt, um die enormen Datenmengen, die während der Tests entstehen, in kürzester Zeit auslesen zu können. Im Gebäude sind zudem die Produktionsstufe und die Anlaufabsicherung voll integriert. Mit der Elektrik-/ Elektronik- (E/E) Inbetriebnahme der Prototypen und einem Reifegrad-Managementsystem wird der gesamte Entwicklungsprozess einem stetigen Realitätscheck unterzogen. Auch den anschließenden Serien-Produktionsprozess inklusive Prüfanforderungen und -abläufe sichern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Electric Software Hub ab. Die entwicklungsseitigen Vorintegrationen arbeiten hier Hand in Hand in einem Gebäude mit dem produktionsseitigen Integrationscenter E/E zusammen, von der Komponente bis zum Fahrzeug.

Die drei unteren Ebenen des Hubs sind speziell für Labore, Werkstätten und Prüfstände ausgelegt. Dort lassen sich die vielfältigen globalen Herausforderungen abbilden, mit denen die Fahrzeuge dann später im Alltag konfrontiert sind. So erlauben Fahrzeug-Prüfstände Tests bei Temperaturen von -30 bis +50 Grad und Geschwindigkeiten von bis zu 250 km/h. Außerdem verfügt der Electric Software Hub über 250 Ladepunkte. Dabei werden die auch die weltweit unterschiedliche Ladestandards abgebildet.