Mehr Mut zum Menschen

28.08.1987

Ulfried Maiborn Geschäftsführer sd&m - software design & management GmbH, München

Wohin man hört - dasselbe Lied: Die Softwarebranche jammert über den leergefegten Personalmarkt. Da werden die Kopfjäger ausgeschickt, gefragte Spezialisten für das um Manpower ringende Unternehmen auszugucken und einzufangen. Unsummen werden in Anzeigen gesteckt, um Bewerber zu locken und zu ködern. Kaum einer kommt auf die Idee, die Ursachen dieses Personalengpasses zu ergründen. Und noch seltener werden Versuche unternommen, die ausgetretenen Pfade der Personalsuche zu verlassen und neue Wege zu beschreiten, um Verstärkung ins Haus zu holen.

Den Stein der Weisen besitzen wir nicht, aber wir haben einen gangbaren Weg gefunden, um den Notstand zu beheben. Wir müssen mehr Mut mobilisieren: Mut bei der Auswahl unserer Mitarbeiter, mehr Vertrauen in ihre menschlichen Fähigkeiten und Werte. Wir müssen und können weit mehr wagen, als wir es bisher getan haben. Vor allem müssen wir uns Gedanken darüber machen, ob das Bild noch stimmt, das wir uns vom "idealen" Mitarbeiter machen.

Wer die Sicht auf die Schicht schnell ausgebildeter Technokraten verengt, die mit profunden Spezialkenntnissen in einer Handvoll Betriebssystemen und Programmiersprachen glänzen, steht bald im Wald. Die Informatik allein kann uns ohnehin nicht das komplette Leistungsspektrum bieten, das komplexe Problemlösungen heute erfordern.

Schwierige Softwareprojekte mit mehr als 20 Bearbeiterjahren sind mit ein paar Methoden und Tools, gehandhabt von - im übrigen schwachen - Leuten technokratischer Prägung, nicht zu bewältigen.

Was wir brauchen, sind weder die Cobol-Cracks noch die KI-Träumer, sondern die Generalisten mit der starken Persönlichkeit, denen wir in einer herausfordernden Aufgabe die Chance bieten, sich zu verwirklichen und etwas zu bewegen. Ein gründliches formales Training in einer Naturwissenschaft mathematischer Richtung ist wichtig, aber über das Wissen stellen wir menschliche Fähigkeiten, Persönlichkeit.

Gefragt sind Motivation und Dynamik, technische Neugier und Begeisterung, Abstraktionsvermögen und logisches Denken. Wenn das gegeben ist, ist es eine Freude, zu erleben, wie junge Menschen mit Selbstbewußtsein, Ideenreichtum und Einfühlungsvermögen schon nach ein, zwei Jahren Projekte machen, an die sie sich zunächst kaum herantrauten und für die sie kaum ausgebildet waren.

Warum kommt es uns auf den ganzen Menschen an? Weil Projekte vielfältige Anforderungen an den Menschen stellen. Weil gerade Softwareprojekte äußerst vielschichtig sind. Die Materie ist anders: Wir haben es nicht nur mit einer technischen Modellwelt zu tun, sondern mit der realen; und die ist höchst komplex und zutiefst menschlich.

Überall stoßen wir in unseren Projekten an Grenzen - Grenzen der Komplexität der Anwendung, der Organisation des Unternehmens, der Basissysteme, der Probleme mit großen Mengen. Dann haben wir es mit Menschen zu tun: Menschen machen Projekte, und sie machen sie für Menschen. Wir müssen den Anwender und sein Problem völlig verstehen, uns mit ihm identifizieren, seine Sorgen und Ziele zu den unseren machen. Wir müssen seine Art des Denkens, Fühlens und Arbeitens verstehen und uns ganz auf seine Persönlichkeit einstellen.

Wir brauchen Kreativität, Strukturen in Unternehmen und Systemen zu erkennen sowie das Feingefühl, Informationsflüsse und -abläufe aufzuspüren und nachzuvollziehen. Mit technischem Know-how und organisatorischem Geschick müssen wir Einfluß auf die Ablauforganisation in seinem Unternehmen gewinnen.

In diese komplexe, menschlich-technische Vielfalt eine einfache Ordnung zu bringen, ist eine Herausforderung, die nachdrücklich Menschen mit starker Persönlichkeitsprägung verlangt.

Es war ein langer, steiniger Weg bis zu dieser Erkenntnis. Heute erinnern wir uns mit Kopfschütteln an die Pionierzeit in den frühen 70ern, als der Programmierer König war. Schlecht ausgebildet oder gar nur Autodidakt, verliebt in das technische Spielzeug Computer, "beglückte" er uns mit fragwürdigen Lösungsansätzen. Jeder Programmierer ein Künstler! Unersetzlich wie er zu sein schien, waren wir seinen Kapricen ausgesetzt und von ihm abhängig. In kleinen Projekten war das nur ärgerlich, große Projekte scheiterten.

Dann schlug das Pendel kräftig in die Gegenrichtung aus. Mit Regeln und Richtlinien wurde der Künstler gebändigt. Der Informatiker erhielt eine Ausbildung und wurde im Unternehmen in das Korsett administrativer Kontrolle und Reglementierung gesteckt. Sicherheit in den Projekten galt als oberstes Ziel, Ergebnis war Projektbürokratie, Verwaltungsallmacht - ein Zustand, der bis heute negativ nachwirkt.

Für die Software-Branche gilt es, den goldenen Mittelweg zwischen Wildwuchs und Projektbürokratie zu finden. Dabei helfen uns oft schmerzliche Erfahrungen, größeres Wissen, die Sicherheit aus geglückten Projekten, eine stark verbesserte Ausbildung - Entwicklungen, die uns reifen ließen. Durch diesen Prozeß ist eine neue Generation herangewachsen mit einem bemerkenswert hohen Niveau, eine breite Basis, aus der wir schöpfen können.

Erstaunlich viele junge Menschen zeigen starkes Interesse an beruflicher Qualifikation und wollen sich fordern lassen, wenn man es versteht, ihre Begeisterung zu wecken. Auch aus anderen naturwissenschaftlichen Nachbarberufen wie Mathematik, Physik oder Betriebswirtschaft kommen Talente mit fundiertem Basisverständnis für Informationstechnik. Datenverarbeitung ist eben zu einer Selbstverständlichkeit in nahezu allen Bereichen geworden. Auf diesem Sockel läßt sich aufbauen.

Aber letzten Endes hat sich die personelle Basis deshalb verbreitert, weil wir mutiger werden konnten bei der Auswahl unserer Mitarbeiter. Denn wir sehen nicht mehr nur Zeugnisse und Diplome, sondern den ganzen Menschen. Unsere Werteordnung hat sich verändert.

Sich für den perfekt ausgebildeten, aber menschlich farblosen Informatiker oder für eine starke Persönlichkeit aus einer Nachbardisziplin zu entscheiden, ist somit für uns kein Thema mehr.