Mehr Leistung und mehr Leistung bei 370138 und 148 - ein Danaergeschenk

06.08.1976

Die Computerwoche erhielt einen Leserbrief mit. der Bitte, ihn anonym zu veröffentlichen. Da die Redaktion weiß, wer der Autor ist und man für die Bitte in diesem Fall Verständnis haben muß, hat CW dem Rechnung getragen und veröffentlicht ausnahmsweise einen Artikel ohne Namensangabe. Die Redaktion wertet diesen Beitrag als Anregung zur Diskussion und hofft, daß Andersdenkende in nicht-anonymen Leserbriefen Stellung nehmen werden. Zum gleichen Thema äußert sich in dieser Ausgabe Justus Wierzewski im Gastkommentar.

Die Ankündigung der neuen Modelle 370 /138 und 370/148 kam nicht unerwartet - eigentlich war sie schon einige Zeit überfällig, sind doch die Vorgängermodelle 370/135 und 3701/145 die ältesten von IBM innerhalb der Serie 370 im Markt gehaltenen Systeme und aus diesem Grund bevorzugtes Ziel der Konkurrenz. Hardwaremäßig ist nichts wesentlich Neues hinzugekommen; ein neuer und stark vergrößerter Mikroprogrammspeicher bringt eine Leistungssteigerung von etw 25-30 Prozent, ein neuer vergrößerter Hauptspeicher in Mosfet-Technologie, sowie eine Bildschirmkonsole.

Wenn IBM bei dieser Neuankündigung beim bewährten Schema geblieben wäre - ca. 30 Prozent mehr Leistung bei 5 bis 10 Prozent höherem Preis -könnte man schnell zur Tagesordnung übergehen. Aber dieses bekannte Schema, zuletzt noch bei den neu vorgestellten Modellen 370/115-2 und 370/125-2 praktiziert, ist verlassen worden, denn die neuen Modelle werden trotz erhöhter Leistung zu wesentlich niedrigeren Preisen angeboten (ca. 15% weniger bei der Miete, ca. 25% weniger beim Kauf - bezogen auf das Gesamtsystem.

Das bedeutet für den 3701/135- und (...)70/145-Benutzer bei gleichen oder sogar, niedrigeren Preisen ca. 2,5-30 Prozent mehr Leistung und mindestens eine Verdoppelung des Hauptspeichers. Damit lassen sich die zunehmenden Leistungsanforderungen der nächsten Zukunft abfangen - IBM hätte sich also selbst bei diesem Benutzerkreis höhere Miet-/Kaufeinnahmen für die nächsten Jahre blokkiert.

Da das gegen jegliche IBM-Tradition wäre, ist eine kritische Analyse der bislang verfügbaren Unterlagen angebracht, speziell im Hinblick auf die Zielrichtung der Marktstrategie.

Drei Punkte fallen auf:

1. Die Leistungssteigerung hat zwei Komponenten. Die erste erhöht die reine Rechenleistung um 25-30 Prozent. Dazu tritt eine zweite Komponente in Form der erweiterten Software-Unterstützung durch Verlagerung von häufig benutzten Software-Routinen in das Mikroprogramm, also in die Hardware, wodurch der Software-Overhead der Betriebssysteme reduziert wird. Diese erweiterte Software-Unterstützung gibt es für OS/VS1 und VM/370, nicht aber für DOS/VS, obwohl das sicherlich möglich gewesen wäre. Möglicherweise nach der fast gleichzeitig erfolgten Bekanntgabe, die Wartung der älteren Betriebssysteme OS/MFT und OS/MVT einzustellen, ein erstes Indiz, in welche Richtung die weitere Software-Entwicklung der IBM geht.

2. Die auffällige Betonung des Systemsteuerprogramms VM/370, das bisher eher ein Mauerblümchendasein gefristet hat. VM/370 wurde bereits 1972 mit Ankündigung der virtuellen Speichertechnik im System 370 angekündigt und ist ein Systemsteuerprogramm, das es gestattet, auf einer realen Maschine eine Anzahl virtueller Maschinen, ggf. unter verschiedenen Betriebssystemen, zu fahren. Wegen des großen Software-Overhead (VM/370 ist, eine, Art Hypervisor, also ein mehreren Betriebssystemen vorgeschaltetes Superbetriebssystem) und des großen Speicherbedarfs ist, VM/370 nur wenig im Einsatz.

3. Die Betonung des Konzeptes von Online-Datenbanksystemen, der Hinführung der Datenverarbeitung an den Endbenutzer sowie der Dialogprogrammierung. Gerade in diesen Verarbeitungstechniken liegen Schwächen der primär, für Stapelverarbeitung konzipierten Betriebssysteme DOS/VS und OS/VS, verglichen mit den Betriebssystemen der byteorientierten Konkurrenz, wie beispielsweise VS/9 von oder das BS 2000 von Siemens. Einen Ausweg bietet dafür offensichtlich VM 370.

Dieses sich herauskristallisierende Konzept der 370/138 und 3701/148 als VM/370-Maschinen bietet für den Benutzer folgende Vorteile:

1. Programmentwicklung und -pflege im Dialog durch das im VM/370 integrierte Conversational Monitor System CMS.

2. Die Möglichkeit, verschiedene Betriebssysteme auf der gleichen Anlage zur gleichen Zeit einzusetzen und damit den Übergang von DOS/VS auf OS/VS1 zu erleichtern.

3. Durch die Möglichkeit, mehrere virtuelle Maschinen auf einer realen Maschine zu fahren, klare Trennung der virtuellen Bereiche und damit Schutz der einzelnen Benutzerkategorien gegeneinander.

4. Theoretisch eine Erhöhung der Anzahl von Partitionen bei parallelem Betrieb mehrerer virtueller Maschinen.

Für einen heutigen DOS/VS-Benutzer, ergeben sich aus dieser IBM-Strategie bei Übergang auf eine 370/138 bzw. 370/148 folgende Konsequenzen:

1. Der Einsatz von VM/370 bringt zunächst einen erhöhten Speicherbedarf von ca. 200 K Bytes für VM/370 allein.

2. Dazu kommt der Speicherbedarf für verschiedene virtuelle Maschinen. Hierbei ist wichtig. daß für jede virtuelle Maschine der gesamte Speicherbedarf des Herkunftssystems anfällt, einschließlich des Speicherbedarfs des jeweiligen Betreibssystems.

3. Das Steuerungskonzept vom VM/370 dürfte das Antwortzeitverhalten beziehungsweise den Durchsatz bei DB/DC-Anwendungen (CICS, DL/1) wesentlich verschlechtern. Zur Kompensation wird man in der Regel dafür eine eigene virtuelle Maschine vorsehen müssen.

4. Der Einsatz von VM/7370 ist besonders wegen der Möglichkeiten der Dialogproammierung zu rechtfertigen. Pro Dialogterminal sind unter CMS mindestens 32K B vorzusehen.

Für den Benutzer einer 370/135 mit 512K Bytes unter DOS/VS und Einsatz von CICS gilt heute etwa folgende Speicheraufteilung:

DOS/VS + POWER ca. 90K Bytes

CICS/VS ca. 200K Bytes

Partition 1 ca. 12OK Bytes

Partition 2 ca. 100K Bytes

ca. 512K Bytes

Die gleiche Anwendung unter VM/370 mit Trennung der CICS/VS-Maschine von der Batch-Maschine ergibt folgende Speicheraufteilung:

VM/370 ca. 200K Bytes

CICS/VS ( + DOS/VS) ca. 290K Bytes

DOS/VS + 2 Partitionen ca. 310K Bytes

ca. 800K Bytes

Bei der Maximal-Ausbaustufe von 1024K Bytes bei der 370/138 bleiben noch ca. 220K Bytes für den Einsatz von CMS, was etwa dem Speicherbedarf für 6 Terminalbenutzer entspricht.

Trotz Reduzierung des Overheads durch in das Mikroprogramm verlagerte Steuerfunktionen (erweiterte SCP-Untersützung) stellt VM/370 ein zusätzliches Betriebssystem dar, das zusätzliche Rechenleistung benötigt und aufgrund des Steuerungskonzeptes die Multiprogramming-Eigenschaften der einzelnen virtuellen Maschinen beeinträchtigt. Bei Einsatz von VM/370 ist daher, trotz der Leistungssteigerung der neuen Modelle, für der Produktionsbetrieb wohl kaum mit einem höheren Durchsatz zu rechnen.

Wie am vorstehenden Beispiel gezeigt, dürfte der weitaus überwiegende Teil des auf den ersten Blick kostenlos angebotenen Speichers zur Aufnahme der zusätzlich erforderlichen IBM-Software benötigt werden. Ein Benutzer, der IBM-Strategie mit VM/370 folgt, wird vermutlich nicht mehr Leistung und nicht mehr Speicher verfügbar haben, als vorher auch - ein Konzept, das frappierend an die seinerzeitige Einführung der virtuellen Speichertechnik bei IBM erinnert. Auch da versprach man ja dem Benutzer eine Reduzierung des Realspeicherbedarfs - die Erfahrung hat dann rasch das Gegenteil gezeigt.

Der Schluß liegt nahe, daß IBM mit der Strategie, die neuen Modelle

möglichst unter VM/370 zu betrieben. Unzulänglichkeiten seiner heutigen Betriebssysteme auf Kosten von Rechenleistung Speicherkapazität des Benutzers mildert - wie seinerzeit bei Einführung der virtuellen Speichertechnik.

Einem Benutzer der 370/138 bzw. 370/148 werden in diesem Konzept

funktionelle Erweiterungen (wie die Dialogprogrammierung ) geboten;

braucht er mehr Leistung, wird er dafür auch die entsprechenden. (höheren) Kosten aufzubringen haben, denn auch mit Ankündigung der 370/138 und 370/148, gilt noch die Abwandlung des Bibelspruchs: "... die IBM hat gegeben, die IBM hat aber auch gleich wieder genommen."