Virtual-Reality-Anwendungen/Besser als Tagträume: Trainings im virtuellen Raum

Mehr Konzentration und Spaß beim VR-Lernen fördern Erfolg

10.05.1996

Motivation ist, das zeigt die Erfahrung, vor allem beim Lernen schon die halbe Miete. Und hier sieht Bowen Loftin vom Virtual Environment Training Laboratory der University of Houston einen der enormen Vorteile der Ausbildung mit Hilfe von Virtual Reality: "Wenn man in ein herkömmliches Klassenzimmer geht, sind die meisten Studenten von Spielereien, Tagträumen oder anderen Dingen abgelenkt. VR fordert die ganze Konzentration und macht zudem Spaß."

Die Universität von Houston beschäftigt sich seit Mai 1995 intensiv mit den Möglichkeiten der künstlichen Realität in der Ausbildung. Allerdings wurden die Grundlagen für das Labor schon Ende der 50er Jahre gelegt 1958 erhielt die NASA vom amerikanischen Kongreß den Auftrag, Wege herauszuarbeiten, wie die Technologie der NASA landesweit verbreitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden könne. Dieser Auftrag bildet inhaltlich die Grundlagen für die fortgeschrittenen Aktivitäten der US-Forscher in diesem Wissenschaftsbereich.

Unter der Prämisse der breiten Streuung des Wissens ist der Nutzen der Arbeit des universitären Labors aus Houston nicht nur akademischer Natur. Die Öl- und Gasindustrie der Region profitiert von Anfang an mit von den Ergebnissen und ist an der praktischen Umsetzung maßgeblich beteiligt. Die virtuelle Realität eignet sich hervorragend, um Methoden der Öl- und Gasexploration zu trainieren.

Ein anderer Lehrstuhl der Uni befaßt sich mit VR-Ausbildung im Hinblick auf Design und Struktur von Molekülen, ein weiterer entwickelt betriebswirtschaftliche Modelle und prüft die Auswirkungen von Gesetzen auf die Konjunktur per Virtualität.

Bei diesen Projekten steht nicht nur die Effizienz des Lernens zur Debatte - auch die Kurve des Vergessens fällt langsamer. So gelten vor allem die volle Aufmerksamkeit des Lernenden im virtuellen Raum und seine Einbeziehung in das Programm als sehr förderlich für das Langzeit-Behalten. Darüber hinaus schafft künstliche Realität eine multisensorische Erfahrung aus Gesehenem, Gehörtem und Erfühltem. Zudem scheint die Möglichkeit der Veränderung des Blickwinkels gänzlich andere Sichtweisen und Erfahrungen sowie das Verständnis für Zusammenhänge zu steigern.

Platznehmen oder auf der VR-Bühne agieren

Aktivitäten zum virtuellen Lernen finden sich auch an anderen Forschungsstätten jenseits des großen Teichs. So gingen das Advanced Technology Center des Luft-und-Raumfahrt-Unternehmens Lockheed Martin Missiles & Space sowie das Institut für Verhaltensforschung und Technologie der USC University of Southern California eine Kooperation zur Entwicklung virtueller Lernverfahren ein. In dem gemeinsamen Trainingsstudio wird mit Head-mounted Displays, 3D-Mäusen und Datenhandschuhen gearbeitet.

Der virtuelle Raum für die Trainierenden ist in eine Bühne und einen Zuschauerraum aufgeteilt. Die Studenten können entweder dort Platz nehmen und das Geschehen passiv verfolgen oder sich auf die Bühne begeben, auf der die Simulationen dann aktiv durchgeführt werden.

Das USC/ISI-Labor fokussiert seine Aktivitäten auf die Entwicklung kognitiver Modelle, bei denen die Auszubildenden Aufgaben in einem definierten Trainingsumfeld erledigen. Parallel dazu arbeiten die Wissenschaftler aber auch an sogenannten intelligenten VR-Tutoren, die die Arbeiten der Trainees überwachen und ihnen an geeigneter Stelle Hilfe anbieten.

Die Wissenschaftler an diesem Institut führen derzeit zwei Projekte zusammen, um hieraus das Programm "Steve" zu entwickeln (Simulated Training Experts for Virtual Environments): das Projekt "Soar" der University of Southern California und "Jack", eine Software, die eine menschliche Modellfigur in eine interaktive, dreidimensionale Umgebung stellt. "Jack" beispielsweise kann surfen. Dieses Programm beinhaltet:

-Kontrollen des Verhaltens,

-die Animation von Aufgaben,

-die Analyse der Sicht des Modells,

-Detektoren zur Kollisionserkennung und -vermeidung sowie

-viele Tools mehr, um breiteste Anwendungen mit dem künstlichen Menschen zu ermöglichen.

Bei Soar handelt es sich um einen multidisziplinären Ansatz zur Entwicklung eines integrierten Modells intelligenten Verhaltens, das als System künstlicher Intelligenz eingesetzt werden kann. Es soll aber gleichzeitig auch dazu beitragen, eine brauchbare, allgemein akzeptierte Theorie des menschlichen Denkprozesses zu liefern. In Einzelprojekte aufgeteilt, befassen sich die Wissenschaftler mit der Entwicklung intelligenter Tutorensysteme für Simulationsumgebungen und integrierter Lernverfahren. "Jack" wurde am Center for Human Modelling and Simulation der Universität von Pennsylvania erstellt.

Bei allen Anstrengungen, die Möglichkeiten der virtuellen Realität in verschiedenen Disziplinen einzusetzen, darf nicht vergessen werden, daß militärische Entwicklungen immer noch ein wichtiger Motor des Fortschritts sind. Allerdings sind die Universitäten und Behörden sich in den Vereinigten Staaten wohl deutlich darüber im klaren, daß die militärisch erforschten Ergebnisse auch dem zivilen Bereich zugänglich gemacht werden sollten. So läuft an der University of Southern California auch das VET-Programm (Virtual Environments for Training), das vom Department of Defense angeregt wurde und vom Office of the Naval Research (ONR) finanziert wird.

In einem Unterprojekt, dem Virtual Environments in Technical Training (VETT), befaßt sich das ebenfalls involvierte Armstrong Laboratory´s Human Resources Directorate bereits seit 1992 mit der Frage, inwieweit Menschen in virtuellen Umgebungen ausgebildet werden können und wie sich diese Trainingsmethoden auf die Erfordernisse der realen Welt umsetzen lassen. Die positiven Ergebnisse führten bereits zu ersten Produkten.

Der "Vista Viewer" beispielsweise entstammt dieser Forschung. Das Softwarepaket besteht aus einem Toolkit intelligenter Agenten oder Tutoren sowie verschiedenen Werkzeugen zur Entwicklung und Unterstützung von Instruktionsanweisungen in künstlichen Umgebungen.

Dem VR-Entwickler werden Szenarien aus Zuschauerraum, Bühne und einem Kontrollraum vorgegeben, die es quasi mit Leben zu füllen gilt. Alle Simulationen finden später auf der bereits erwähnten Bühne statt die Tools hierzu sind im Kontrollraum verfügbar - und in der Entwicklungsphase setzt der Ingenieur schlicht virtuelle Studenten in den Zuschauerraum.

Erst wenn echte Vertreter der Spezies Mensch mit dem Programm in Interaktion treten, verändert sich das Umfeld. Die Studenten nehmen im Zuschauerraum Platz, der Kontrollraum ist ihnen dann nicht mehr zugänglich.

In zwei Prototypen ist der "Vista Viewer" bereits aktiv. Es handelt sich hierbei um eine orbitale Anwendung, in der die Studenten die Steuerung von Satelliten im Orbit erlernen können. Die zweite Anwendung ist erdgebundener und beinhaltet das Training zur Luftraumkontrolle (Air Traffic Control = ATC). Hier werden der Funkverkehr, die Raumzuordnung von Flugzeugen und deren Differenzierung virtuell erlernt.

Daneben haben Arbeiten an "Vivids" (Virtual Interactive Intelligent Tutoring System Development Shell) gerade begonnen erste Ergebnisse werden für das nächste Jahr erwartet. Vivids basiert auf den Ergebnissen des "Vista Viewer", ist aber konkret auf die Entwicklung intelligenter Tutorensysteme ausgelegt. Ziel des Projekts ist es, auf PC-Basis Möglichkeiten zu schaffen, kosteneffiziente VE-basierende Ausbildungsprogramme zu erstellen. Erster Abnehmer wird übrigens das Department of Defense sein.

Auch die Industrie befaßt sich intensiv mit den Möglichkeiten virtuellen Trainings. Im Calvin Center for Continuing Education von Motorola in Schaumburg, Illinois, sammelten die Wissenschaftler der Motorola Universities erste Erfahrungen mit der Ausbildung ihrer Mitarbeiter an virtuellen Systemen. "Die Trainees fühlen sich ungehemmter bei virtuellen Trainingssitzungen", erklärt Aaron Agrawal, Direktor des Technologieausbildungszentrums.

Ungehemmter in den Trainingssitzungen

Agrawal sieht vor allem auch im Zeitfaktor einen immensen Vorteil dieser neuen Verfahren: "VR kann in kleineren Zeiteinheiten eingesetzt werden und erfordert nicht mehr den Acht-Stunden-Turnus." Zudem müssen die Klassen nicht mehr die bislang übliche Größe aufweisen, um effektiv ausgelastet zu sein.

Die Motorola Universities setzen Lehrgänge mit künstlicher Realität vor allem in der Ausbildung für die Fertigung ein. Hier sei das reale Material sehr teuer.

Im Calvin Center führten die Motorola-Wissenschaftler bereits im Oktober 1994 einen Test mit drei Gruppen durch: Zwei lernten in einer virtuellen Umgebung, eine Testgruppe nutzte herkömmliche Verfahren. Der Test umfaßte das Hochfahren der Maschine, die Konfigurierung, den Fertigungsprozeß und das Herunterfahren des Systems. Als Testsysteme waren Roboterarbeitsplätze von Seiko eingesetzt. Das VR-Modell zu diesem Test wurde von Adams Consulting mit Software von Superscape entwickelt. Die benötigten VR-Helme stammten von General Reality, die Navigationssysteme von Polhemus.

Das Ergebnis zeigte nach Mitteilung der Projektleitung eindeutig, daß die VR-Gruppen mindestens genausogut, in manchen Fällen sogar besser abschnitten als die traditionell ausgebildeten Probanden.

Und so rechnet sich eine VR-Trainingseinheit schnell: Sie verschlingt zwar je nach Komplexität eine Investitionssumme von mindestens 30000 Dollar. Doch läßt sich ein solches VR-System beliebig oft einsetzen, über Telekommunikation sogar weltweit, und es werden weniger Trainer benötigt. Ein weiterer Vorteil: Auch ältere Mitarbeiter akzeptieren diese Methode schneller. Ihnen schaut beim Üben dann nämlich kein Youngster mehr arrogant über die Schulter, wenn sie einen Durchgang öfter als ein- oder zweimal laufen lassen.

Kurz & bündig

Mal profitiert die Ölindustrie davon, mal "nur" Studenten, grundsätzlich jedoch bringt VR in der Aus- und Weiterbildung viel, das jedenfalls legen die zahlreichen und recht unterschiedlich angelegten Projekte nahe, die an US-amerikanischen Universitäten laufen. Zwar verschlingen VR-Trainingseinheiten - je nach Komplexität - Investitionssummen ab 30000 Dollar, doch führen die häufigen Einsatzmöglichkeiten schnell in die schwarzen Zahlen.

*Horst-Joachim Hoffmann ist freier Fachjournalist in München.