Web

Ungelöste IT-Probleme verzögern Einführung

Mautprojekt: Stolpe zieht die Notbremse

08.08.2003
Verkehrsminister Stolpe will mit einer Testphase einen drohenden Fehlstart der ursprünglich für Ende August geplanten LKW-Maut verhindern. Hinweise auf zahlreiche ungelöste IT-Probleme lassen daran jedoch zweifeln.

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Mit einer zweimonatigen Testphase will Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe einen drohenden Fehlstart der ursprünglich für Ende August geplanten LKW-Maut auf deutschen Autobahnen verhindern. Das Betreiberkonsortium Toll Collect interpretiert dies als rein politische Entscheidung und beharrt weiter darauf, bis Ende des Monats ein funktionierendes System auf die Beine stellen zu können. Hinweise auf zahlreiche ungelöste IT-Probleme lassen daran jedoch zweifeln.

"Wir haben uns mit dem Betreiberkonsortium auf eine zweimonatige Einführungsphase geeinigt, in der das System von den Nutzern auf Herz und Nieren getestet werden kann", erläuterte Stolpe die geänderten Pläne in Sachen LKW-Maut. Gebühren würden erst ab dem 2. November 2003 erhoben. Ursprünglich sollten die Einnahmen aus dem neuen streckenbezogenen Mautsystem bereits ab 31. August in die Kassen des Bundesfinanzministers fließen.

Obwohl Verbände und Politiker bereits seit Wochen auf eine Verschiebung drängten, kam der Entschluss einen Monat vor dem offiziellen Start für viele überraschend. Tags zuvor hatte das Bundesverkehrsministerium noch versichert, die Pläne würden nicht geändert. "Die Maut startet am 31. August", verkündete ein Sprecher am 30. Juli. Stolpe verteidigte die irreführende Informationspolitik seines Hauses damit, dass die Verständigung über die Einführungsphase erst nach einem langen und anstrengenden Prozess erzielt worden sei. "Zuerst müssen die Eier gelegt werden, bevor man gackert."

Technik soll Ende August stehen

Für die Verantwortlichen von Toll Collect, dem für den Aufbau des Mautsystems verantwortlichen Konsortium von Daimler-Chrysler, T-Systems und dem französischen Autobahnbetreiber Cofiroute, ist die Entscheidung, das System zwei Monate zu testen, eine rein politische Angelegenheit. Projektleiter Rainer Scholz will daher von einer Verschiebung nichts hören: "Das System wird am 31. August in Betrieb gehen."

Bevor es jedoch so weit ist, muss das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) die notwendige Betriebserlaubnis erteilen. Diese hängt von den Untersuchungen eines unabhängigen Prüfinstituts ab, dessen Ergebnisse bis zum 15. August vorliegen müssen. Experten bezweifeln derweil, dass angesichts der technischen Probleme des Systems ein Start Ende August möglich sein wird. Demnach fehle es vor allem an den notwendigen On-Board-Units (OBUs). Auch die Initialisierung der Geräte bereite wegen Softwarefehlern immer wieder Probleme. Außerdem hinke das Konsortium beim Aufbau der manuellen Einbuchungsautomaten und der Kontrollbrücken seinem Zeitplan weit hinterher.

Gerade in Sachen Verfügbarkeit und Funktion der OBUs stand Toll Collect in den vergangenen Monaten immer wieder in der Kritik. Die fest im Cockpit der LKWs installierten Geräte ermitteln über das Global Positioning System (GPS) die jeweilige Position des Fahrzeugs und berechnen die auf der Autobahn gefahrene Strecke. Diese Informationen schickt die Box per SMS über eine GSM-Mobilfunkverbindung an das Rechenzentrum von Toll Collect, wo die Abrechnung mit dem jeweiligen Spediteur abgewickelt wird.

Das Problem ist nur, dass es keine OBUs gibt, moniert Markus Lühr von der WWL Spedition AG in Berlin. Er habe versucht, Geräte zu bekommen, allerdings keine verbindlichen Zusagen von Seiten Toll Collects erhalten. "Bei drei Anrufen im Servicecenter gab es drei unterschiedliche Auskünfte", berichtet der Spediteur. Volker Bade, verantwortlich für die zentrale Verkehrsorganisation bei der Schenker Deutschland AG, bestätigt diese Erfahrungen: "Es werden kaum Geräte ausgeliefert." Frage man bei Toll Collect nach, werde man mit Standardantworten abgefertigt.

Laut dem Vertrag mit dem Bundesverkehrsministerium ist Toll Collect verpflichtet, bis Ende August 150.000 OBUs zur Verfügung zu stellen, erläutert Projektleiter Scholz. In elf Monaten Projektdauer sei nicht mehr zu schaffen gewesen. Die Partner hätten die Boxen erst entwickeln, testen und produzieren müssen. Außerdem habe man nach den Boykottaufrufen der Speditionsbranche gegen das Mautsystem nicht mit einer derartigen Nachfrage rechnen können. Erst in den letzten Wochen sei durch die steigende Zahl der Registrierungen der wachsende Bedarf erkennbar gewesen.

Auch Stolpe gibt der Branche eine Mitschuld. So hätten Gespräche mit Speditionsverbänden vor einem halben Jahr ergeben, dass lediglich 50.000 Geräte benötigt würden. Karlheinz Schmidt, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL), weist dies scharf zurück. Es entziehe sich seiner Kenntnis, wer das Gewerbe in welcher Form befragt haben soll. Zwar habe wohl Toll Collect im Vorfeld eine Marktanalyse erhoben. Das Ergebnis dieser Untersuchung könne allerdings nur der auch von der Speditionsbranche immer wieder angemeldete Bedarf von rund 800.000 Geräten gewesen sein. Hier solle offenbar ein Sündenbock gefunden werden, wehrt sich Schmidt.

Spekulationen, es habe Probleme bei den Herstellern der OBUs, Grundig Car Intermedia und Siemens VDO, gegeben, weisen die Verantwortlichen zurück. Alle vertraglichen Verpflichtungen seien erfüllt worden, heißt es von Grundig und Siemens. Über weitere Informationen zu Liefermengen und Terminen dürfe man allerdings nichts sagen, da hier Vertraulichkeit vereinbart worden sei.

Doch nicht nur der Mangel an OBUs bereitet den Spediteuren Kopfzerbrechen. Auch beim Einbau der Geräte gibt es offenbar Probleme. So müssen die Boxen mittels einer Chipkarte, die der Spediteur nach der Registrierung seines LKWs von Toll Collect bekommt, eingerichtet werden. Auf der Karte sind alle fahrzeugrelevanten Daten gespeichert. Die von Toll Collect autorisierten Werkstätten - rund 1500 in Deutschland und 300 im grenznahen Ausland - müssen dann über einen eigens dafür in der Werkstatt installierten Rechner die Box im LKW einrichten und mit dem Rechenzentrum von Toll Collect synchronisieren.

Die Praxis sieht jedoch ganz anders aus. Spediteure berichten von mehrmonatigen Wartezeiten bei der Registrierung. Die Chipkarten wiesen oft fehlerhafte Datensätze auf, so dass die Installation der OBUs fehlschlage. Sie wisse von einem Unternehmer, der 300 Fahrzeuge registrieren lassen wollte, erzählt Barbara Rauch, Sprecherin des Deutschen Speditions- und Logistikverbands (DSLV). Der Betreffende habe nach langer Wartezeit 30 Karten bekommen. Davon hätten ganze fünf funktioniert. Ein Insider aus dem Dienstleistungsumfeld berichtet von einem italienischen Großspediteur, der entsetzt feststellen musste, dass seine gesamte Fahrzeugflotte laut den Chipkarten mit einem deutschen Nationenkennzeichen registriert sei. Außerdem komme es immer wieder zu falschen Anschriftsdaten und fehlerhaften Fahrzeuginformationen.

Mühsame Anpassung der Komponenten

Toll Collect hat für den Betrieb des Mautsystems ein Rechenzentrum mit Servern von Sun Microsystems aufgebaut. Hier sollen alle Informationen aus den Werkstätten und Fahrzeugen sowie von den Kunden in einem SAP-System zusammenlaufen. Applikationen für die Verwaltung der Fahrzeugdaten und Werkstattsysteme sowie Billing- und Customer-Relationship-Management-(CRM-)Applikationen seien während der letzten Monate in Rekordzeit entwickelt und angepasst worden, räumt Projektleiter Scholz einen gewissen Zeitdruck ein. "Die Anpassung war nicht einfach und erforderte Zeit." Man habe dabei eng mit SAP zusammengearbeitet. Das ganze System musste sich erst in einem Testlauf einspielen, berichtet er. "In diesem Probebetrieb hat es eine Fehlerbereinigung gegeben." Davon seien die Endgeräte, die Servicerechner und auch das Zentralsystem betroffen gewesen.

Mittlerweile funktioniere alles reibungslos, versichert Scholz. Die Zulieferer fertigten 6000 OBUs pro Tag. 3000 Geräte würden täglich in den Werkstätten eingebaut. Bis Ende August soll diese Rate auf 5000 Boxen täglich steigen. Um das zu erreichen, bestehe aber noch Optimierungsbedarf, relativiert der Manager im gleichen Atemzug. Das bestätigen Nachfragen bei Servicewerkstätten. So sei die Versorgung mit Geräten immer noch verbesserungswürdig, berichtet ein Mitarbeiter der Fahrzeugwerke Lueg in Gelsenkirchen. Bei der Simon Gruber GmbH in Ottobrunn bei München ist die Versorgungslage mit OBUs dagegen gut. Dass die verfügbaren Geräte allerdings nicht eingebaut sind, liege daran, dass der Servicerechner erst seit Ende Juli freigeschaltet ist, kritisiert ein Mechaniker. Die Informationspolitik von Seiten Toll Collects sei in diesem Punkt nicht gerade glücklich gewesen.

Software krankt an Schnittstellen-Problemen

Insider berichten indes, dass Toll Collect bereits seit Monaten mit Softwareproblemen kämpft. Vor allem die Schnittstellen des Systems würden den IT-Verantwortlichen zu schaffen machen. So laufen beispielsweise die Daten der manuellen Einbuchungsautomaten über das Rechenzentrum der Firma Ages. Das Unternehmen, das noch bis Ende August die bisher rein terminbezogen berechnete Maut eintreibt, hatte sich ebenfalls um das Projekt des streckenbezogenen Mautsystems beworben. Nach mehrmonatigen Querelen und Klagen hatten sich die Ages-Verantwortlichen im Herbst letzten Jahres zum Rückzug bereit erklärt, wenn Toll Collect sie am Projekt beteilige.

Ages betreibt für die Anbindung des manuellen Buchungsystems mit rund 3500 Automaten ein Rechenzentrum mit ausfallsicheren Nonstop-Servern von Hewlett-Packard. Darauf läuft ein Billing-System der Firma Atos Origin. Außerdem übernimmt Ages die Abrechnung mit Flottenkarten-Dienstleistern wie DKV und UTA. Toll Collect habe dabei offenbar die Treue der Spediteure zu ihren Flottenkartenbetreibern unterschätzt, berichten Insider. Demnach würden rund 80 Prozent der Spediteure weiter auf ihre gewohnte Kartenabrechnung setzen, statt direkt über Toll Collect abzurechnen. Toll Collect habe dagegen nur mit einem Anteil von rund 20 Prozent gerechnet. Probleme gebe es mit den unterschiedlichen Abrechnungsmodi. So arbeite das SAP-System ähnlich wie die Telekom-Abrechnung mit einer monatlichen Rechnungsstellung. Dagegen rechneten die Kartendienstleister zweimal im Monat mit ihren Kunden ab und benötigten folglich einen anderen Datenrhythmus. Ob und wie diese

Korrelationsprobleme zwischen den Datenzentren gelöst sind, ist bislang nicht absehbar.

Schwierigkeiten gibt es auch mit den manuellen Einbuchungsautomaten selbst. Über 3500 Geräte sollten bis Ende August an Tankstellen und Rasthöfen stehen. Von diesem Ziel scheinen die Toll-Collect-Verantwortlichen allerdings weit entfernt. So berichten Tankstellenpächter, sie hätten zwar bereits den notwendigen Platz dafür geschaffen. Wann der Automat komme, wüssten sie aber nicht. Andere Pächter sind noch gar nicht darüber informiert, dass in ihrer Station ein Gerät aufgestellt werden soll.

Für die meisten Spediteure ist die manuelle Einbuchung jedoch keine Alternative. "Dann kann ich gleich Konkurs anmelden", verwahrt sich der Berliner Spediteur Lühr. Bei verschiedenen Be- und Entladestationen müssten sich die Fahrer für jede Einzelstrecke neu einbuchen. "Das müssen Irre gewesen sein, die sich das ausgedacht haben", beschwert sich ein anderer Speditionsmitarbeiter. Da viele Touren wegen Sperrungen und Staus oft kurzfristig geändert werden, müssen die Fahrer bei jeder Neudisposition das nächste Maut-Terminal anfahren, um die alte Strecke zu stornieren und neu zu buchen. Auch die Buchung via Internet sei keine Lösung. Jede Spedition müsste dafür eigens einen oder mehr Mitarbeiter abstellen, die ständig mit den Fahrern Kontakt halten und die entsprechenden Buchungen vornehmen. Angesichts des Kostendrucks, der auf der Branche lastet, könnten sich das die wenigsten leisten, argumentieren die Branchenverbände.

Wegen des OBU-Mangels und der zu erwartenden Verzögerungen bei der manuellen Einbuchung drohten viele Spediteure in den vergangenen Wochen, ihre Fahrzeuge schwarz fahren zu lassen. Um gegen solche Mautpreller vorzugehen, baut Toll Collect zusammen mit dem BAG ein flächendeckendes Kontrollsystem auf den Autobahnen auf. Dazu zählen neben mobilen Kontrollteams, die IT-gestützt überprüfen sollen, ob sich die Fahrer korrekt eingebucht haben, ein Netz von neu aufgestellten automatischen Kontrollbrücken. Diese erfassen die Fahrzeuge mit Hilfe eines Video-Überwachungssystems. Arbeitet der LKW mit einer OBU, wird per Infrarotsignal geprüft, ob das Gerät eingeschaltet ist und korrekt funktioniert. Bei Fahrzeugen ohne OBU wird das Kennzeichen erfasst und mit den Daten im Zentralsystem abgeglichen. Hat sich der Fahrer korrekt eingebucht, sollen die Daten sofort wieder gelöscht werden. Ist das nicht der Fall, werden die Dienststellen des BAG informiert.

Das System, das von der Firma Vitronic entwickelt wurde, arbeitet laut Firmenchef Norbert Stein so effektiv, dass sich zwei LKWs pro Sekunde erfassen lassen. Eine manuelle Nachbearbeitung der Videodaten sei nur in geringem Umfang notwendig. Von den angekündigten 300 Brücken werden Scholz zufolge bis zum Starttermin Ende August allerdings nur rund 120 einsatzbereit. Bis November sollen es 150 sein. Das komplette Überwachungssystem mit 300 Anlagen will Toll Collect bis Februar 2004 fertig stellen. Dann werden die LKWs im Durchschnitt alle 40 Kilometer eine Kontrollbrücke passieren. Ob das System so effizient funktioniert, wie das die Verantwortlichen beschreiben, bezweifeln Experten. So berichtet Jürg Uhlmann, Mautexperte der Firma Fela, die in der Schweiz ein vergleichbares System eingerichtet hat, man habe dieses zunächst zwei Jahre getestet. Erst dann habe man die notwendige Effizienz der Kontrolle garantieren können. Im Hinblick auf die Probleme im Backend-System sei

der Zeitplan der Deutschen geradezu verwegen.

Die Zeit für Lösungen wird knapp

Ob sich die technischen Probleme bis zum November ausräumen lassen, bleibt abzuwarten. Stolpe jedenfalls zeigt sich optimistisch. Trotz aller Hinweise, die man sehr ernst nehme, sei er sicher, dass die Technik funktionieren wird. Experten zweifeln indes an einer effizienten Testphase. So sei kaum damit zu rechnen, dass sich die Fahrer angesichts des Termindrucks ohne Zwang an den Maut-Terminals anmelden. Scholz will dafür eigens Anreize schaffen. Wie das aussehen wird, vermochte er jedoch nicht zu sagen. Daher fürchten viele Branchenvertreter trotz der Probephase Anfang November chaotische Zustände - ähnlich wie in Jülich vor wenigen Wochen. Die Spedition Bünten schickte dort ihre sechs LKWs zum nächsten Terminal, um die manuelle Mautbuchung zu testen. Innerhalb weniger Minuten war die Tankstelle blockiert. Sollten sich diese Szenen wiederholen, drohte der Pächter: "Dann ziehe ich den Stecker." (ba)