"Maßschneidern spart Overhead"

06.06.1975

Mit Hermann Meier, Leiter DV des ICI-Faserwerks in Östringen, sprach CW-Redakteur Christoph Heitz

Hermann Meier (46) ist Leiter der Datenverarbeitung im Faserwerk der ICI (International Chemical Industries) in Östringen bei Heidelberg. Im DV-Geschäft ist der "Senkrechtstarter" erst seit 1966. Sein Chef fragte ihn damals, ob er nicht auch mal einen Programmierkurs besuchen wolle.

Im Jahre 1969 begannen bei ICI die Arbeiten für ein integriertes Realzeit-System, das heute Materialwirtschaft, Finanzbuchhaltung, und Rechnungskontrolle umfaßt.

Herzstück ist ein mit dem Softwarehaus SAP, Mannheim zusammen entwickeltes Datenbanksystem (siehe auch Seite 9). Das Verfahren läuft seit 1972 auf einer IBM 370/135. In Östringen verteidigt man heute noch die Entscheidung, sich bei der Frage "Make or buy?", für die Eigenentwicklung entschieden zu haben.

- Als Leiter der Datenverarbeitung bei ICI in Östringen haben Sie vor einigen Jahren die Entscheidung getroffen, ein Datenbanksystem für die Finanzbuchhaltung und Materialwirtschaft in Eigeninitiative zu entwickeln. Was waren die Gründe dafür, daß man auf Standard-Systeme verzichtete und selber anfing zu entwickeln?

Unser erstes Realtime System, wenn man es so nennen darf, war die Auftragsabwicklung. Die ersten Ideen dazu wurden im Jahre 1968 entwickelt. Es wurde dann 1971 realisiert. Dabei gab es die Restriktion, daß die Kernspeichergröße mit 128 K vorgegeben war. Zu jener Zeit gab es kein System auf dem Markt, das weniger Hauptspeicher als 128 K brauchte.

- Das war also keine prinzipielle Entscheidung des "Selber-Machen-Wollens". Aber es gab doch andere Datenbanksysteme auf dem Markt - ich denke zum Beispiel an Adabas.

Sicher war Adabas auf dem Markt, aber ich glaube sicher zu sein, daß die Mindestanforderung bei 150 K Hauptspeicher liegt. Ich bin weiterhin der Ansicht, daß Adabas ein sehr gutes Datenbankteil ist, wir aber glauben, daß es nicht effizient ist, wenn es im Realtimeverkehr eingesetzt wird. Im Vordergrund stand die Forderung, ein Realtimesystem zu schaffen.

- Eine Eigenentwicklung, wie Sie sie gemacht haben, ist doch zweifelsohne sehr teuer. Hätte sich da nicht angeboten, die Konfiguration aufzustocken, anstatt selbst zu stricken?

Das System, das wir hier entwickelt haben, hat von den Kosten her ein erträgliches Maß nicht überschritten. Diese Entscheidung war richtig, weil wir die Maschine nicht aufgestockt haben, und in Betracht ziehen müssen, daß zusätzlich zu den Hardwarekosten noch die Kosten eines Softwarepackages entstanden wären.

- Ein solches System, wie Sie es entwickelt haben, ist aber nicht fertig, wenn es einmal lauffähig ist. Erfahrungsgemäß tritt zumindest in der Anfangsphase hoher Wartungsaufwand auf. Sind die Wartungskosten für ein solches hausgeschneidertes System nicht sehr hoch?

Ich glaube, man sollte definieren, was unter Wartungsaufwand zu verstehen ist. Natürlich hat jedes System, wenn es eingeführt wird noch einige Fehler, aber die sind zu finden und zu bereinigen. Bei uns war es so, daß wir ungefähr zwei oder drei Monate noch nach Fehlern gesucht haben und sie auch gefunden haben. Aber in der Zwischenzeit lief das System weiter. Wartungsbelastung in dem Sinne trat nicht auf. Natürlich gibt es Verbesserungen oder Änderungen, aber die spielen sich alle auf der Anwenderseite ab und nicht auf der Datenbankseite. Auch wenn ich IMS oder Adabas habe, habe ich Wartungsaufwand dahingehend, daß entweder bestehende Anwendungen geändert werden oder neue hinzukommen. Um nochmal auf das "Haus-geschneiderte" zurückzukommen: Das Paket wurde mittlerweile in Deutschland und in der Schweiz, so viel ich weiß, 24mal verkauft. Dieses ist sicher kein hausgeschneidertes System mehr, obwohl es hier entwickelt wurde.

- Sie sind also Pilotkunde gewesen für diese Anwendung. Oder hat es sich aus der Zusammenarbeit zwischen Ihnen und dem Softwarehaus SAP erst nachträglich so ergeben, daß die bei Ihnen gemachten Erfahrungen und die ganze Entwicklung inzwischen vom Softwarehaus vermarktet werden können.

Die vertraglichen Vereinbarungen sahen diese Möglichkeit von vorneherein vor, natürlich nur dann, wenn diese Entwicklung auch erfolgreich beendet wurde.

- Sie haben die Entwicklung begonnen, als das IBM-System 370 noch nicht auf dem Markt war, fahren aber heute auf einer 370/135. Auf welche Weise geschah der Übergang beim Wechsel der Konfiguration? Unser erstes System, die Auftragsabwicklung, wurde auf der /360 entwickelt. Es lief auch bereits auf der /360, während das System für die Materialwirtschaft entwickelt wurde. Für die Buchhaltung wurde gleich die 370 avisiert. Wir haben die erweiterten Hardware-Möglichkeiten der /370 auf der /360 durch Software simuliert, außerdem auch die angekündigten 3270-Bildschirme auf den damals im Hause installierten 2260. Damit war ein optimaler Übergang von der /360 auf die /370 gewährleistet, und es traten keine Schwierigkeiten auf.

- War es nicht ein großes Risiko, so viele Anwendungsbereiche einer Industrieunternehmung auf einmal anzugehen und zu realisieren?

Wir haben bei unserem Auftragsabwicklungssystem gesehen, daß die Integration Vorteile bringt. Wir haben auch gesehen, daß Schwierigkeiten entstehen, wenn ein Realtimesystem auf der einen Seite besteht und ein Batch-Verfahren auf der anderen Seite. Materialwirtschaft, Finanzbuchhaltung oder Rechnungsprüfung waren jeweils für sich alleine nur Insellösungen. Nur ein integriertes System, das von der Bestellung bis zur Zahlung einen geschlossenen Ablauf bildet, kann größten wirtschaftlichen Nutzen bringen. Natürlich war es ein Risiko, alles gleichzeitig anzufassen. Aber dieses Risiko war durch unseren Vorläufer "Auftragsabwicklung" kalkulierbar. Zudem hatten wir mit SAP ein Softwarehaus, mit dem wir - man kann schon sagen - befreundet sind. Ohne diese Leute wäre ich dieses Risiko nicht eingegangen.