Thema der Woche

Marktplätze - die letzten beißen die Hunde

25.08.2000
Wolfgang Reitzle war bei BMW eine Reizfigur. Für die Automobilbranche ist es der Chef der Ford-Division Premium Automotive Group (PAG) immer noch. Seine Berechnungen, denenzufolge pro Auto Ersparnisse von rund 500 Dollar durch den gezielten Einkauf über einen virtuellen Marktplatz zu erzielen seien, werden in der Öffentlichkeit mit viel Interesse, in der Szene aber auch mit einiger Skepsis betrachtet. Autozulieferer hierzulande geben sich jedenfalls recht gelassen, geht es insbesondere um die Risiken, die ihnen durch Internet-Marktplätze drohen. Marktplätze sind denn in der Autobranche auch mehr Hype als hip.

Ganz generell wird für die virtuellen Marktplätze gelten, was auch im richtigen Leben Realität ist: Die Großen geben den Ton an, und die Kleinen müssen sehen, dass sie nicht gefressen werden. Auf die Situation der Automobilbranche übertragen: General Motors, Daimler-Chrysler und Ford geben mit ihrem im Frühjahr auf dem Genfer Autosalon vorgestellten Plan für den virtuellen Marktplatz "Covisint" die Richtung vor, und ihre Zulieferer müssen strammstehen. Unternehmen wie Bosch und Delphi Automotive Systems oder TRW sind als Zulieferer aber andererseits so groß, dass sie es sich leisten können, wiederum Marktplätze für ihre eigenen Zulieferer zu etablieren.

Der Preisdruck, der sich auf virtuellen Marktplätzen durch die per Definition gewünschte Transparenz von Nachfrage und sich unterbietenden Konkurrenten aufbaut, wird auf diese Weise an die nächste Ebene in der Lieferantenkette weitergegeben. Das große Fressen in der Nahrungskette der Automobilbranche kommentiert Christine Mühlberger denn auch ganz trocken: "Es trifft letztlich immer die Kleinen. Der, der sein Geschäft mit Normteilen macht, mit Kabeln, Steckern, Birnen, der dürfte durch die Marktplätze enorme Einbußen erleben." Mühlberger gehört zur Webasto Informationssysteme GmbH, die dem Autozulieferer Webasto AG als IT-Dienstleister zuarbeitet.

Ähnlich sieht es Alfons Kifmann von Mannesmann-Sachs, ebenfalls einer der bekannteren deutschen Autozulieferer: Ob sich die Marktplätze in der Autoindustrie als Strangulierungswerkzeug eignen, mit dem die großen Kfz-Konzerne ihre Lieferanten würgen, hänge davon ab, welche Stellung die Zulieferer hätten: "Wenn das Schwergewichte der Szene wie eben Bosch oder Delphi sind, haben sie keine Probleme. Wer aber nur Commodity-, also Allerweltsprodukte wie Filter oder Dichtungen produziert, der wird dem freien Spiel der Kräfte auf solchen Marktplätzen gnadenlos ausgeliefert sein." Und das weltweit, schiebt der Mann aus der Mannesmann-Sachs-Unternehmenskommunikation nach.

Die Reitzle-Zahlen sagen allerdings wenig darüber aus, wie die Kosteneinsparungen auf den Marktplätzen überhaupt zustande kommen. Der Branchenstar mit immer akkurat geschnittenem Menjoubärtchen ging bei seinen Berechnungen von durchschnittlichen Materialkosten von 7000 Dollar pro Auto aus. Von diesen Kosten, referiert Reitzle, würden rund 30 Prozent über die neue Internet-Plattform ausgeschrieben. Die Ersparnisse bei diesem Verfahren lägen pro Auto bei rund 500 Dollar. Allerdings kann Reitzle mit Internet-Plattform eigentlich nicht den Covisint-Marktplatz gemeint haben, denn dieser existiert bislang lediglich als Idee und nicht als digitales Forum.

Es gibt weitere Gründe, an den optimistischen Zahlen des ehemaligen BMW-Managers zu zweifeln. So hat die Unternehmensberatung Roland Berger in einer gemeinsam mit der Deutschen Bank erarbeiteten Studie vor zu großer Euphorie in der Automobilbranche und vor dem Glauben gewarnt, das Business-to-Business-Geschäft könne sich für die Auto-Großkonzerne zu einer Goldgrube entwickeln. Kernaussage: Marktplätze sind nur ein und nicht der entscheidende Faktor für effizienteres Wirtschaften im B-to-B-Geschäft. Ihre Untersuchung deckt sich mit den Aussagen aus der Zuliefererindustrie.

Berater und Banker stellen fest, dass insbesondere in der Automobilindustrie übertriebene Hoffnungen bezüglich zu erwartender riesiger Kosteneinsparungen beim Einsatz von B-to-B-Technologien geweckt wurden. Ein Großteil der Hochrechnungen sei "schlicht viel zu optimistisch". Aussagen wie die, pro Fahrzeug ließen sich bis zu 3700 Dollar sparen, oder Kassandrarufe, Zulieferer gerieten mit B-to-B-Marktplätzen auf die Verliererstraße, seien nicht nachvollziehbar.

Roland Berger und die Deutsche Bank kommen in ihrer Untersuchung, die sich die gesamte Kette vom Autokonzern bis zum Kleinlieferanten vornimmt, zu verschiedenen Aussagen darüber, wie sich Marktplätze und das B-to-B-Geschäft auf die Autoindustrie auswirken werden: E-Business und Marktplätze seien eine Evolution und keine Revolution, Einsparungspotenziale von mehreren tausend Dollar mithin unrealistisch. Weitere Feststellung: Die zu erwartenden Kostenreduktionen variieren je nach geografischer Region. Und sie resultieren - anders als landläufig angenommen - bei weitem nicht nur aus geänderten und kosteneffizienteren Einkaufspraktiken, wie sie durch Marktplätze per Definition vorgesehen sind. Vielmehr lassen sie sich aus allen Geschäftsprozessen schöpfen.

Nicht uninteressant für Produzenten auch aus der IT-Branche dürfte die Feststellung sein, dass Build-to-order-Produktionsmechanismen durchaus nicht das Allheilmittel für die gesamte Industrie darstellen.

Wesentliche Bereiche für Einsparoptionen sehen Roland Berger und die Deutsche Bank in den verschiedenen Prozessablaufbereichen Produktentwicklung, bei der Materialbeschaffung und in der Produktion sowie der Logistik. Die höchsten Potenziale dürften bei den OEMs und den Tier-1-Lieferanten zu vermelden sein. Angenehm für uns alle: Diese Ersparnisse werden fast vollständig an die Kunden weitergereicht - so jedenfalls die Erkenntnisse von Roland Berger und der Deutschen Bank.

Interessant sind die Ergebnisse der Untersuchung insofern, als hier wie gesagt auch ein Vergleich verschiedener Regionen angestellt wird. Die durch B-to-B-Prozesse möglichen Einsparmöglichkeiten belaufen sich demnach in den USA auf 1200, in Europa auf 639 und in Japan auf 540 Dollar. Kifmann von Mannesmann-Sachs kommentiert diese Ergebnisse mit den in Japan effizientesten Prozessketten.

Bei möglichen Kostenreduktionen von 639 Dollar in Europa pro Auto entfallen nach der Untersuchung von Roland Berger und der Deutschen Bank übrigens nur 73 Dollar auf den günstigen Einkauf von Material, 62 Dollar lassen sich durch effiziente Beschaffungsprozesse, immerhin 103 Dollar aber im Bereich Produktentwicklung einsparen (siehe Grafik).

Insbesondere in der Produktentwicklung kommt Zulieferern und Autokonzernen dabei die Internet-Technologie zugute, die einen praktisch ungebrochenen 24-Stunden-Echtzeitdatenfluss zwischen den beiden Partnern noch leichter macht. Außerdem würden die durch das Internet gegebenen verbesserten Kommunikationsoptionen und ein wesentlich schnelleres Feedback zwischen Herstellern und Endkunden die Möglichkeit schaffen, bessere Autos zu entwickeln, die sich strikt an den Bedürfnissen der Konsumenten ausrichten. Diese Faktoren sind für die Neuordnung der Geschäftsprozesse von größerer Bedeutung als die Etablierung von Marktplätzen, auf denen dann nach den Vorstellungen der Autokonzerne zwischen den Lieferanten ein Catch-as-catch-can zum Vorteil von GM, Daimler-Chrysler, Ford etc. stattfinden soll.

In der Tat bestätigen alle von der COMPUTERWOCHE befragten Zulieferunternehmen die große Bedeutung der Entwicklungskooperation mit den Autokonzernen - die wegen der engen Beziehungen zwischen den Partnern nicht durch Marktplatzprozesse ersetzt werden können. Exemplarisch hierzu die Aussage von Kifmann von Mannesmann-Sachs: überwiegend sei sein Unternehmen im Auftrag seiner großen Kunden mit langjährigen Entwicklungsarbeiten beschäftigt: "In diesem Geschäft können Sie Marktplatzsysteme vergessen." Denn hier würden beidseits Vereinbarungen getroffen, die höchster Vertraulichkeit unterliegen.

So entwickelt Mannesmann-Sachs im Auftrag von BMW für die neue 7er-Serie bestimmte Fahrwerksysteme innerhalb von zwei bis drei Jahren. Diese Systeme müssen entworfen, getestet und schließlich auf den Markt geworfen werden. Für solche Prozesse kommen Marktplätze nicht einmal zur Geschäftsanbahnung in Frage. Sind sich die Partner erst einmal über einen solchen Auftrag einig geworden, findet ein B-to-B-Geschäft in der Folge und in der heute gewohnten Form auch nicht mehr statt. Kifmann: "Immer wenn Ingenieur- und Entwicklungsarbeiten nötig sind, kann es kein sinnvolles B-to-B-Modell der jetzt in der Öffentlichkeit propagierten Art mehr geben - und auch nicht mit Konstruktionen wie virtuellen Marktplätzen."

Christiane Mühlberger von Webasto, Spezialist für Auto- und Schiebedächer, pflichtet ihm bei: "Unser Geschäft mit den Autokonzernen läuft anders.

Diese kommen zum Zulieferer, schauen sich dessen Fertigung an - und dann sagen sie dem Zulieferer, was er für einen Preis machen darf. Da haben wir Lieferanten nicht viel Spielraum bei der Preisgestaltung."

Solche Aussagen machen deutlich, wo mit E-Business-Verfahren in der nahen Zukunft effizienter zu wirtschaften, Kosten einzudämmen sind - weniger mit Werkzeugen wie virtuellen Marktplätzen, sondern viel mehr mit effizienten Prozessabläufen. "Dass es immer um Einsparpotenziale geht, liegt ja auf der Hand und ist auch erklärte Absicht aller Beteiligten. Im Wesentlichen aber geht es auch bei Marktplätzen um Prozessvereinfachungen und -beschleunigungen und darum, Entscheidungsprozesse zu simplifizieren und transparenter werden zu lassen", sagt auch Martin Lober von Bosch.

Deckungsgleich mit den Erwartungen und Erfahrungen der Praktiker machen Roland Berger und die Deutsche Bank in ihrer Untersuchung einen weiteren Bereich in der gesamten Wertschöpfungskette aus, in dem erhebliche Kostenersparnisse möglich sein werden: Produktion und Logistik. Wer die Konsumentennachfrage nicht nur trefflich vorhersagen kann, sondern diese Information auch schnell in entsprechende Produkte einfließen lasse, wer hierzu eine schnelle Kommunikation und einen effizienten Datenaustausch zwischen den Backbone-Systemen von Autokonzernen und Zulieferern realisiere, der gehöre in Zukunft zu den Gewinnern.

Wie wichtig dieses Argument ist, bezeugt Andreas Fahrion vom Sitzhersteller Recaro GmbH. Auch er gehört zu denjenigen in der Zuliefererszene, die dem Marktplatz-Thema mit Gelassenheit begegnen. Recaro sei wie viele andere aus der Branche auf das Entwicklungsprojektgeschäft konzentriert, das sich für Marktplätze denkbar schlecht eigne: "Wir sind stark im Just-in-Time-Geschäft, bei dem es auf längerfristige Lieferantenbeziehungen ankommt." Anstatt ihre eigenen Zulieferer auf Marktplätzen gegeneinander auszuspielen, organisiert Recaro so genannte Lieferanten-Entwicklungsprogramme. Ergebnis dieser Weiterbildungsmaßnahmen mit den Partnern soll sein, Wege für optimierte Geschäftsabläufe zu finden.

Die Entwicklungsprozesse würden ständig verkürzt, weswegen sein Unternehmen in der Produktion immer schneller auf die Anforderungen der Autokonzerne reagieren müsse. "Wir müssen zu einem Stichtag eine bestimmte Charge von Sitzen in einer bestimmten Farbe liefern. Da können wir nicht mit ständig wechselnden Zulieferern arbeiten, auf deren Angebote aus dem Internet wir warten." Es sei auch unzumutbar, dem Partner heute zu sagen, dass er nicht im Geschäft ist und ihm morgen zu sagen, "Jetzt bist du wieder im Boot". "Wir brauchen verlässliche Geschäftsbeziehungen. Je mehr Zulieferer da ins Spiel kommen", so Fahrion, "desto risikoreicher wird unser Geschäft, und deshalb ist es für uns momentan nicht denkbar, massiv auf Marktplätzen zu operieren."

In die gleiche Kerbe schlägt ein bekannter Tachohersteller, als er über Reitzles Rechenbeispiel reflektiert. Den Ford-Manager treibe lediglich die Minimierung seiner Vertriebskosten um. In diesem Konzept ginge es vor allem darum, den Kunden in die Lage zu versetzen, sein Auto selbst zu konfigurieren. Was bedeutet das für Zulieferer? "Wir müssen dann noch schneller reagieren können. Und letztlich heißt das: mehr Kosten durch höhere Investitionen in Technologien, um angeforderte Komponenten oder Systeme schneller ausliefern zu können." Das mittelständische Unternehmen rechnet mit einem zusätzlichen jährlichen Aufwand von 300000 bis 400000 Euro, um den Fitness-Parcours E-Business-Marktplatz zu bewältigen. Sein Trost: Die gesamten Geschäftsabläufe dürften effizienter und die Kosten in Zukunft hierfür deshalb erheblich geringer ausfallen.

Eins ist im Prinzip allen Zulieferern klar, und Lober von Bosch befindet sich da im Einklang mit seiner Zunftkollegin Mühlberger von Webasto: "Man muss da mitmachen. Man kann nicht erst jahrelang warten und sich ansehen, welche Erfahrungen andere mit Marktplätzen machen. Insbesondere als technologiebewusstes Unternehmen muss man angesichts der neuen Technologien und Möglichkeiten, im Internet Geschäftsprozesse zu verändern, vorne mitspielen."

Mühlberger macht da gleichfalls gute Miene zum Spiel der Autokonzerne: "Ein Zulieferer kann sich nicht wehren, der muss sich an einem Marktplatz beteiligen. Auch als Anbieter hochkomplexer Systeme für Autokonzerne könnte es sich etwa Webasto kaum leisten, bei Covisint nicht mitzumachen. Die Verpflichtungen zwischen Autokonzern und Zulieferer sind so groß, dass uns der Autokonzern ganz genau sagt, was wir machen können und was nicht."

Jan-Bernd Meyer

jbmeyer@computerwoche.de

Abb: Beschaffungskosten sind bei weitem nicht der einzige Posten in der Prozesskette, bei dem in Zukunft Ausgaben minimiert werden können. Quelle: Roland Berger & Partners; Deutsche Bank Alex.Brown