IT in der Prozßindustrie/MES für die zentrale Einwaage bei Rh'ne-Poulenc Rorer in Köln

Manufacturing Executive Systems verbinden Leitebenen

06.09.1996

Um eine Kombination von operativer Kontrolle und Flexibilität zu erreichen, haben die Industrieunternehmen in den letzten Jahren den Einsatz ihrer Computersysteme in der Produktion neu gestaltet. Hinzu kommt, daß die Produktion immer häufiger über mehrere Werke verteilt wird - auch, weil sich die Unternehmen international ausrichten. In Chemie- und Pharmaunternehmen wurden zunächst große Anstrengungen unternommen, um in der Unternehmensleitebene entsprechende kommerzielle DV-Systeme und Produktionsplanungssysteme einzuführen (im heutigen internationalisierten Sprachgebrauch werden sie als "Business Management Systems" bezeichnet). Auf der anderen Seite wurden in der Betriebs- und Prozeßleitebene Investitionen in Fertigungsleitstände, Prozeßleittechnik und in Qualitätssicherung getätigt. Es gilt jedoch, den Informations- und Materialfluß miteinander zu verknüpfen und den Produktionsprozeß transparent und bewertbar zu gestalten. Gewinnung, Bereitstellung und Nachvollziehbarkeit betrieblicher Informationen über den gesamten Produktionsprozeß sowie eine rezepturgerechte Führung stellen dabei eine Herausforderung dar.

Um Lücken zwischen der Unternehmensleit- und der Betriebs- /Prozeßleitebene zu schließen, ist die Nachfrage nach Systemen gestiegen, die sich unter dem Kürzel MES (Manufacturing Executive Systems) etabliert haben. Sie sind als Schlüssel für eine kostengünstige Produktion zu bewerten. MES verwalten und steuern dabei alle Aktivitäten und Ressourcen, die die verschiedenen Produktionsprozesse betreffen - wie Planung, Terminierung, Monitoring, Kontrolle und Produkthistorie sowie Qualitätsmanagement und laufende Verbesserung des Prozesses. Daten, die im Werk generiert werden, können über MES direkt in andere unterschiedliche Informationssysteme zur Finanzplanung oder Unternehmensplanung übertragen werden. Die Dokumentation aller Ereignisse während der Produktion ist neben der Integration der Betriebsführungskomponenten von großer Bedeutung, weil der Gesetzgeber Nachweise über die Herkunft und Qualität der Einsatzstoffe, über die Herstellung von Produkten und die korrekte Entsorgung der Reststoffe verlangt.

In der Prozeßindustrie werden Materialien verarbeitet, deren Eigenschaften und Konzentrationen von der Natur und Umwelt wesentlich beeinflußt sind. Daher ist keine Lieferung wie die andere, und keine Rohstoffcharge ist mit der anderen identisch. Erst nach umfangreichen Qualitätsprüfungen entscheiden sich die Verwendungsmöglichkeiten. Damit Produkte von immer gleicher Qualität entstehen, werden die Rezepturen und Produktionsverfahren ständig angepaßt. Dabei müssen Haltbarkeiten beachtet, konstante Lagerbedingungen gewährleistet sein und Gefahren ausgeschlossen werden. Nicht zuletzt ist auch eine Menge Erfahrung und Entscheidungskompetenz der Mitarbeiter im Betrieb notwendig, um eine gleichbleibende Produktqualität zu gewährleisten.

Der Nutzen, den man aus dem Einsatz eines MES ziehen kann, ist erheblich. Wichtig ist jedoch, daß der Prozeß nicht der DV-Lösung untergeordnet wird - umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ein manuelles System hat früher enormen Papierverbrauch verursacht. Durch ein MES kann der Verbrauch erheblich reduziert werden, beispielsweise Aufträge von 15 Seiten auf drei Seiten.

Neben höherer Flexibilität hinsichtlich Terminierung und Planung sowie der Verkürzung von Produktionszeiten minimiert ein MES die Fehlerquote in Produktion und Lagerung, beispielsweise bei der Umstellung von handgeschriebenen auf computergenerierte Etiketten. Außerdem werden Engpässe schneller erkannt und abgebaut sowie den verantwortlichen Mitarbeitern in der Produktion Grundlagen für eine erhöhte Entscheidungsunterstützung zur Verfügung gestellt. Nicht zuletzt werden durch die lückenlose Dokumentation und ein aktives Prozeßmanagement Qualitätsstandards nachweisbar.

Unternehmen entwickeln gemeinsame Lösung

Das amerikanische Softwarehaus Incode, mit Sitz in Herndon/Virginia, hat gemeinsam mit IBM und in Zusammenarbeit mit fünf international führenden Unternehmen der Prozeßindustrie, die über rund 300 Werke weltweit betreiben, 1990 die Entwicklung eines MES gestartet: "Process Operations Management System" (POMS). Ziel dieser Zusammenarbeit war unter anderem, eine kundenorientierte Lösung zu schaffen, die sich auch bei der Weiterentwicklung an Anforderungen aus der Praxis orientiert. Dieses wird durch das gemeinschaftliche Zusammenwirken von EDV- und Branchenspezialisten sichergestellt.

Das MES besteht aus einer Basis sowie aus mehreren Modulen: beispielsweise SOMS (Specification Object Management System), ECI (Equipment Controls Integration), ein Finite-Scheduler sowie ein neues Rezeptur-Management-Modul. Weiterhin sind zahlreiche fertige Anwendungsblöcke (Procedureware) verfügbar, die in das MES integriert werden können.

POMS basiert auf einer Client-Server-Technologie und steht derzeit für Windows NT, OS/2 sowie für die Unix-Plattformen AIX, HP-UX und SCO-UX zur Verfügung. Order- und Pro- cedure-Server sorgen für die Bereitstellung aller Rezeptur- und zugehörigen Auftragsinformationen. An den Order-Client werden die automatischen und manuellen Arbeitsschritte gesteuert. Sogenannte Log-Server im Netzwerk ermöglichen ein Log-Buch und ein Echtzeit- Replay.

Das System bietet durch offene Schnittstellen die Integration von Automatisierungsinseln in heterogenen Umgebungen und die Ansteuerung beliebiger Produk- tionsleitsysteme (PLS) und speicherprogrammierbarer Steuerungen (SPS). Für die Datenhaltung werden die relationalen Datenbanken IBM DB2, Oracle oder Sybase sowie unter Windows NT der ODBC-Standard unterstützt. Als Grundlage einer durchgängigen Betriebsführung dient ein Daten- und Prozeßmodell. Vorhandene Modelle können übernommen oder angepaßt werden.

1990 hat ein Konsortium aus den beteiligten Unternehmen in einer ersten Stufe die Grundlagen geschaffen. Ein Jahr später wurde das System durch ein zweites Konsortium erweitert. Außerdem wurde es validiert und FDA-zertifiziert (Prüfsiegel der amerikanischen Food and Drug Administration). Ein drittes Konsortium hat das System Ende 1993 weiterentwickelt. In diesem Jahr wurde durch ein viertes Konsortium das Rezeptur- und Management-Modul erstellt und mit Windows NT eine zusätzliche Plattform realisiert. Diese wird im Herbst verfügbar sein.

Inzwischen wird POMS von zahlreichen, überwiegend international agierenden Chemie- und Pharmaunternehmen genutzt. Dazu gehören beispielsweise Rh'ne-Poulenc, Smith-Kline-Beecham, Johnson & Johnson und Ciba Geigy.

MES auch für die zentrale Einwaage

Beim Pharmakonzern Rh'ne-Poulenc Rorer in Köln wurde auf der Basis von POMS und Procedureware ein Einwaage-Leit- und -verwaltungs- Informationssystem Pharma ("Elvis-P") für die Zentrale Einwaage realisiert. Das Netzwerk auf der Basis von Token Ring umfaßt in der jetzigen Ausbaustufe sechs Rechner, die über einen Gateway-PC mit dem Host verbunden sind. Aus dem Host-basierten PPS-System werden Auftrags-, Material- und Chargendaten geladen. Umgekehrt schickt das System Rückmeldungen aus der Produktionsstätte an das PPS-System.

Der Meister kann die übertragenen Aufträge zunächst auf die einzelnen Wiegekabinen verteilen. Weiterhin hat er die Möglichkeit, feste Chargenzuordnungen vorzunehmen, Waagenklassen für einzelne Wiegepositionen festzulegen, Aufträge zu stornieren oder abzubrechen sowie Auftragsdaten zu ändern, wenn der Herstelleiter ihn dazu ermächtigt. Die Einwaagefunktionen von Elvis unterstützen den Bediener anschließend bei der Einwaage und erlauben eine lückenlose Dokumentation aller Aktivitäten. Die Anwendung stellt sicher, daß nur sauberes und für den Einsatz qualifiziertes Equipment verwendet wird. Durch Scannen der Gebindelabel wird garantiert, daß das richtige Material zum Einsatz gelangt. Außerdem prüft das System bei jedem Einsatzstoff den aktuellen Chargenstatus.

Nach Abschluß der Einwaage wird ein Gebindelabel mit allen pharmazeutisch relevanten Daten erzeugt. Anschließend erfolgt eine Vollständigkeitsprüfung aller eingewogenen Gebinde des Auftrags, und das System erstellt automatisch ein Einwaageprotokoll, das alle relevanten Daten sowie aufgetretene Ausnahmen dokumentiert. Neben den Funktionen für Einwaage und Einwaagemanagement wird weiter die Dokumentation der Reinigung sowie die Überprüfung und Kalibrierung der Waagen realisiert. POMS unterstützt die Durchsetzung der Good Manufacturing Practices (GMP), Vorgaben der amerikanischen FDA und der EG, die insbesondere in der pharmazeutischen Industrie eingehalten werden müssen. Außerdem erlaubt das System ein NAMUR-gerechtes Rezepturmanagement (bezogen auf: Normungsausschuß für Meß- und Regelungstechnik). Diese Vorgaben werden durch den integrierten Recipe-Manager unterstützt. Change Management, Versionskontrolle und Freigabeverwaltung sind ebenfalls Bestandteile des Systems. Rezepturobjekte werden in den Workflow vorhandener Systeme (Nova Manage, Documentum, Lotus Notes) eingebettet und von der Rezepturerstellung über die Freigabe, Bereitstellung in der Produktion bis zur betrieblichen und technischen Führung kontrolliert.

Die Anbindung an die Prozeßebene erfolgt über das Modul "Equipment Controls Integra- tion" (ECI). Dies ist ein kooperatives Element im gesamten Betriebsführungssystem. Abläufe und ECI-Aktionen werden dadurch transparent.

Die Fein- und Umplanung von Aufträgen sowie die Optimierung der Produktionsabläufe übernimmt der integrierte Leitstand. Eine unmittelbare Einflußnahme auf den Produktionsprozeß wird durch die direkte Erfassung von Produktions-, Maschinen- und Qualitätsdaten mit direktem Soll-Ist-Abgleich erlaubt. Ein integriertes Analyse- Modul bietet die statistische Auswertung der Online-Daten.

Angeklickt

Fünf Unternehmen mit weltweit 300 Werken haben sich schon 1990 zusammengetan, um eine einheitliche Lösung für die Integration von Betriebsführungssystemen in die unterschiedlichen Leitebenen zu entwickeln. IBM und das US-Softwarehaus In- code sind mit von der Partie. Das inzwischen installierbare System ist von der amerikanischen Food and Drug Administration zertifiziert. In diesen Jahr wurde das Rezeptur- und Management-Modul fertiggestellt und mit NT eine zusätzliche Plattform realisiert.

*Ulrich Hövel ist DV-Koordinator bei der Pharmazeutischen Produktion der Rh'ne-Poulenc Rorer in Köln.