Manchmal ist der Standard zu wenig

06.12.2001
Von 
Karin Quack arbeitet als freie Autorin und Editorial Consultant vor allem zu IT-strategischen und Innovations-Themen. Zuvor war sie viele Jahre lang in leitender redaktioneller Position bei der COMPUTERWOCHE tätig.
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Es ist der ewige Streit zwischen IT-Zentrale und Anwendern: Die einen verfolgen ihr begründetes Interesse an der Standardisierung von Hard- und Software; die anderen verlangen nach schnellen, individuellen Lösungen. Die Lufthansa Technik in Hamburg (LHT) bemüht sich um einen sinnvollen Kompromiss.

Die Keimzelle lag in der Abteilung HAM WG 2. Dort wird seit 1992 flächendeckend das aus der Apple-Welt stammende, mittlerweile aber auch unter Windows und Linux lauffähige Datenbank- und Auswertungs-Tool „Filemaker“ vom gleichnamigen Anbieter eingesetzt. Heute kommen die mehr als 100 Filemaker-Anwendungen nicht nur innerhalb der 300 Mitarbeiter zählenden WG 2 zum Einsatz: Im vergangenen Jahr verzeichnete die Lufthansa Technik in Hamburg (LHT) mehr als 500 Lizenzen allein in Hamburg. Darüber hinaus ist die in Filemaker realisierte Prüfmittel-Verwaltung für den Fachbereich WG 26 auch ohne Lizenz erreichbar - mit einem Web-Browser über das Intranet.

Ohne formale Anforderungen und Wartezeiten

Maßgeblichen Anteil an der Ausbreitung von Filemaker hat Peer Raddatz. Als Projektkoordinator Rechnersysteme betreut er - neben seinen sonstigen Pflichten - alle Nutzer des Datenbankwerkzeugs innerhalb der LHT. Auf die Unterstützung der ausgegliederten IT-Service-Division Lufthansa Systems verzichtet er dabei. Er habe von dort ein Angebot eingeholt, berichtet der IT-Experte; mit 50.000 bis 60.000 Mark pro Filemaker-Server und Jahr läge der Aufwand aber erheblich höher als bei einem Betrieb in Eigenregie.

Die in der Abteilung WG 15 angesiedelte DV-Abteilung hingegen weigert sich, die Applikationen zu unterstützen, weil weder das Datenbank-Tool noch die Macintosh-Server, auf denen es läuft, dem definierten IT-Standard der LHT entsprechen. Die DV-Infrastruktur in Hamburg baut offiziell auf folgenden Säulen auf:

SAP R/3 4.0 (für den kommenden Frühling ist die Migration nach 4.6 geplant) auf Oracle,

Altsysteme, die ebenfalls auf Oracle-Basis entwickelt wurden und sukzessive auf R/3 umgestellt werden sollen,

Novell-Netware-Server,

Windows NT 4 auf der Client-Seite,

3270-Terminal-Sessions für die Altanwendungen,

ein Netz auf Token-Ring-Basis, das allmählich durch eine Highspeed-IP-Verbindung abgelöst werden soll,

Microsoft Office,

Outlook als E-Mail-Client und

Netscape 4.75 mit Acrobat Reader 5.0 für den Intra- und Internet-Zugang.

Das Publishing-System „Ragtime 5“ von B&E Software sowie „Filemaker Pro 5“ sind geduldet - aber ausdrücklich als „Abteilungslösungen“ deklariert.

Raddatz und seine Kollegen können für den Einsatz der Filemaker-Software Gründe ins Feld führen, die auch die WG-2-Führung überzeugt haben. Das Tool versetzt die Mitarbeiter in die Lage, kleine Auswertungslösungen selbst zu entwickeln - ohne formale Anforderungen, Abstimmungsaufwand und Wartezeiten. Viele dieser Lösungen werden von wenigen Mitarbeitern genutzt, erfüllen aber wichtige Aufgaben im jeweiligen Arbeitsumfeld.

Besonders gelte das, so der im Planungsbereich angesiedelte Filemaker-Spezialist Stefan Unger, für das „Koala“-Modul der Fluggeräte-Datenbank. Der putzige Name leitet sich von „Kostenanalyse und Auftragswesen“ ab. Simpel ausgedrückt, können die LHT-Werkstätten mit Hilfe dieser Anwendung abschätzen, welche Aufträge kostendeckend sind.

Plug-in für die R/3-Anbindung

Laut Raddatz fordern viele LHT-Kunden Festpreisverträge für die Wartung ihrer Maschinen und Teile. Die Kosten für eine Reparatur lägen bisweilen bei mehreren tausend Euro und tendierten auch innerhalb eines Produkttyps zu erheblichen Schwankungen. Sie auf Einzelposten herunterbrechen und verfolgen zu können sei für die LHT unmittelbar wettbewerbsrelevant: „Das erst versetzt uns in die Lage, fundierte Angebote zu erstellen.“

Die Fluggeräte-Datenbank führt Informationen aus unterschiedlichen operativen Systemen zusammen. Dazu zählen:

Stammdaten über 85.000 Flugzeugteile aus Oracle-Altsystemen,

technische Daten der Instandhaltungsaufträge (ebenfalls aus Oracle-Quellen),

Auftragsdaten aus SAP R/3

und bereichsinterne Daten, die nur in Filemaker erfasst sind, beispielsweise Dokumentationen über Engineering-Entscheidungen und Gerätefotos.

Um die ERP-Software anzubinden, hat ein „C“-Spezialist eigens für das Projekt ein R/3-Plug-in entwickelt. Auch in der SAP-Umgebung gibt es Werkzeuge, mit denen sich Daten analysieren und auswerten lassen - von dedizierten Reporting-Tools bis hin zum „Business Warehouse“. Sie werden in der WG 2 aber nur genutzt, um die Fluggeräte-Datenbank zu füttern.

Warum die LHT-Ingenieure zusätzlich ein selbst entwickeltes Analysewerkzeug benötigen, begründet Unger vierfach:

Die Fluggeräte-Datenbank bildet spezifische Engineering-Aufgaben ab. Dazu müsste der SAP-Standard verändert werden. Das ist oft unwirtschaftlich, wenn es sich nur um einen kleinen User-Kreis handelt.

Da die R/3-Implementierung nicht mit allen Altsystemen kommunizieren kann, müssten zunächst Schnittstellen geschaffen werden.

Massenabfragen innerhalb des SAP-Systems ließen sich nur nachts bewerkstelligen. Die Ingenieure können aber oft nicht warten.

Direkt aus R/3 heraus ließen sich die Daten nicht intelligent weiterverarbeiten.

Also haben der Planungsexperte und seine Kollegen entschieden, „R/3 zu ergänzen, nicht etwa zu ersetzen“. Sie laden Datenmaterial aus dem SAP-System herunter, halten es redundant vor und bearbeiten es mit Filemaker-Anwendungen. Änderungen an den SAP-Daten werden online zurückgeschrieben. Einmal in der Woche erfolgt ein Abgleich des Gesamtbestands. Daneben sind Online-Abfragen auf die operationalen Daten möglich.

Nebeneffekt der dezentralen Anwendungsentwicklung: Die Ingenieure behalten die Kontrolle über ihre Anwendungen, und sie müssen sich nicht jedesmal an die DV-Abteilung wenden, wenn sie neue Anwendungen oder Änderungen für existierende benötigen.

Kehrseite der Medaille: Der Support bleibt an Raddatz, Unger und drei weiteren Kollegen hängen. Derzeit lässt sich diese Aufgabe noch bewältigen, aber die Nachfrage nach den maßgeschneiderten Lösungen wächst. Deshalb wäre es Raddatz recht, wenn Filemaker in den IT-Standard der LHT aufgenommen würde - mit möglichen administrativen Nebenwirkungen.

Kennzahlen

Mit rund 2,25 Milliarden Euro lag der Umsatzerlös der 1994 gegründeten Lufthansa Technik AG (LHT) im vergangenen Jahr um fast ein Viertel höher als 1999. Die Einnahmen wurden je zur Hälfte innerhalb und außerhalb des Lufthansa-Konzerns erzielt: Reparatur- und Überholungsarbeiten leistet die Lufthansa Technik nicht nur für die Kranich-Flotte, sondern auch für das Fluggerät von mehr als 100 Fremdkunden.

Daneben verdient sie ein hübsches Zubrot mit dem „XXL-Class“-Angebot: Im Auftrag wohlhabender Privatleute oder statusbewusster Unternehmen stattet sie am Stammsitz Hamburg mittlere und größere Verkehrsmaschinen (ab Boeing 737) mit jedem erdenklichen Luxus aus. Die weltweite Mitarbeiterzahl von 10 550 blieb gegenüber dem Vorjahr (rund 10.300) bis dato fast unverändert; etwa 6000 Leute sind allein in Hamburg beschäftigt. Entsprechend üppig fiel das Ergebnis der betrieblichen Tätigkeit aus: 77,7 Millionen Euro blieben unter dem Strich übrig - mehr als doppelt so viel wie 1999.