Wie Unternehmen versuchen, Führung zu messen

Manager auf dem Prüfstand

27.09.2002
MÜNCHEN (am) - Leistung und soziales Verhalten zu beurteilen war bisher Privileg des Chefs. In immer mehr Firmen müssen sich nun Führungskräfte der Bewertung durch Mitarbeiter und Kollegen stellen. Allerdings bleibt diese meist ohne Folgen.

"Führungskräfte müssen führen, konsequent sein, auch unangenehme Entscheidungen treffen. Wenn sie schon durch permanente Beurteilungen von oben infantilisiert und verunsichert werden, so sollten sie nicht auch noch auf Teufel komm raus ihren Mitarbeitern gefallen wollen", wettert Management-Guru Reinhard Sprenger in seinem Buch "Aufstand des Individuums" über die 360-Grad-Beurteilung. Dass immer mehr Firmen auch ihre Führungskräfte von Mitarbeitern, Kollegen, Vorgesetzten und Kunden im Rahmen einer anonymen Befragung bewerten lassen, lehnt Sprenger ab. Das sei nur ein weiteres Mittel, um Führungskräfte zu überwachen und zu disziplinieren. Durch den Druck, es allen recht machen zu wollen, würden die Manager letztlich in ihren Entscheidungen gelähmt.

Bisher sehen die meisten Firmen die 360-Grad-Bewertung aber nicht als Beurteilung im engeren Sinn. "Nur wenige Unternehmen ziehen daraus auch Konsequenzen", so die Erfahrung von Peter Krumbach-Mollenhauer, Mitglied der Geschäftsleitung bei Harvey Nash im Bereich HR-Consulting. Mit gutem Grund, findet der Berater, denn die Führungskräfte befinden sich stets in einem Dilemma zwischen Effizienz und Moral: So könnten sie ihre Mitarbeiter etwa nicht immer im vollen Umfang informieren, da sie an Anordnungen ihrer Vorgesetzten gebunden sind. "Die Bottom-up-Befragung kann nur ein zusätzliches Instrument sein", so Krumbach.

Hilfestellung zum Besserwerden

So sieht das auch der IT-Dienstleister GE Compunet. Seit 2001 ist dort ein Web-gestütztes 360-Grad-Feedback im Einsatz, das im vergangenen Jahr 75 Prozent der Führungskräfte erhielten. "Es nimmt eine Art Rückmeldungsfunktion wahr, auf deren Basis der Beurteilte mit Mitarbeitern und Vorgesetzten an seiner Entwicklung arbeiten soll", erläutert Mirko Appel, Personalleiter von GE Compunet Deutschland. "Wir wollen der Führungskraft die Chance geben, ohne Angst vor Konsequenzen an den Development Needs zu arbeiten. Es ist eine Hilfestellung zum Besserwerden."

Allerdings ist die Bewertung nur der erste Schritt, dem ein zweiter, oft schwieriger folgen soll: Es gilt, die Ergebnisse mit Vorgesetzten und Mitarbeitern zu besprechen. "Ein solches Instrument kann nur funktionieren, wenn eine offene Lern- und Feedback-Kultur herrscht, Probleme angesprochen werden und die Betroffenen bereit sind, die Ergebnisse zu akzeptieren und sich zu ändern", sagt Appel.

Genau hier setzt auch der IT-Hersteller Sun Microsystems an, dessen Mitarbeiter im Mai zum ersten Mal ihre Vorgesetzten in Punkten wie Mitarbeitermotivation und Führungsverhalten beurteilten: "Wir wollen Führung messbar machen und vor allem die Gesprächskultur im Unternehmen fördern", so Personalchef Michael Wagenknecht. Jeder Manager ist verpflichtet, die Ergebnisse mit seinem Team zu diskutieren. Wagenknecht ist sich bewusst, wie schwer das gerade bei den kritischen Punkten fällt. Die Führungskräfte können sich aber vorher von der Personalabteilung oder einem Coach beraten lassen, wie sie in dem Gespräch agieren sollten.

"Wie sieht ein Manager aus, der optimal kommuniziert?" Mit dieser allgemeinen Frage brach Martin Häring das Eis. Der Marketing-Direktor von Sun fragte seine Mitarbeiter bewusst nicht nach den Gründen, warum er in Sachen Kommunikation schlechter abgeschnitten hatte. Zu groß wäre die Gefahr, dass die Mitarbeiter, die vorher ihr Urteil im Schutz der anonymen Befragung abgaben, sich dazu nicht offen äußern und man zu keiner Lösung findet. Dank der unspezifischen Frage sprudelten aber die Ideen, so dass sich Häring und seine Mitarbeiter auf zusätzliche Kommunikationswege wie ein 14-tägiges Abteilungs-Meeting oder einen Marketing-Newsletter einigten.

Einfluss auf Leistungsbeurteilung

Gleichzeitig ist die Mitarbeiterbeurteilung für Häring auch eine gute Grundlage, um die Leistung der Manager, die an ihn berichten, in einem größeren Zusammenhang zu sehen: "Wenn sich die Meinung der Mitarbeiter mit meiner eigenen als Vorgesetztem deckt, ist es für die betroffene Führungskraft nicht mehr so leicht, für einen Kritikpunkt 1000 Entschuldigungen zu finden." Bei Sun gehen die Ergebnisse des "Performance Feedback", in dem die Mitarbeiter das Führungsverhalten bewerten, in die Leistungsbeurteilung der Führungskraft mit ein und können Gehaltserhöhungen oder die Vergabe von Stock Options beeinflussen. Auch bei der Besetzung künftiger Führungspositionen wird zu den Ergebnissen aus dem Assessment Center die Beurteilung durch die Mitarbeiter hinzugezogen, die künftig zwei Mal im Jahr stattfindet. Hilfe, um aufgezeigte Schwächen zu bewältigen, bekommen die beurteilten Manager bei Sun auch in Schulungen oder von Coaches. "Wenn dann keine Lösung in Sicht ist, ist auch eine Versetzung in eine andere Abteilung denkbar", so Wagenknecht.

Allerdings tauchten beim ersten Durchgang im Mai auch Kritikpunkte auf, für die die einzelne Führungskraft nicht verantwortlich sein kann. "Mit der Weiterentwicklung waren viele Mitarbeiter nicht so zufrieden", gibt Wagenknecht zu. Dieses Ergebnis überraschte den Sun-Manager nicht, da angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage seit vergangenem Jahr die Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb des Unternehmens begrenzt sind.

Uneinsichtige Führungskräfte

Dass sich trotz Mitarbeiterbefragung nichts ändert, ist in den Augen von Personalberater Krumbach-Mollenhauer die größte Gefahr. Leicht kann die Motivation, die die Mitarbeiter empfanden, weil ihre Meinung gefragt war, in Frustration umschlagen. Uneinsichtige Vorgesetzte reagieren zudem oft mit einer Konflikt- und Abwehrhaltung auf die Ergebnisse, so dass Probleme zwischen Mitarbeitern und Führungskraft erst durch die Feedbacks entstehen. Darum empfiehlt Krumbach-Mollenhauer einen Moderator hinzuziehen: "Es ist besser, dass ein Moderator der Führungskraft die Ergebnisse erläutert, als wenn sie der Beurteilte einfach nur schriftlich bekommt." Auch das anschließende Gespräch mit den Mitarbeitern könnte der Moderator lenken.

Bei der Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton, deren Mitarbeiter einmal im Jahr nach dem 360-Grad-Prinzip beurteilt werden, übernimmt der Mentor diese Rolle. Zunächst führt ein gleich gestellter oder vorgesetzter Kollege etwa zehn Interviews mit Kollegen, Vorgesetzten und Mitarbeitern und fasst die Ergebnisse in einem Bericht zusammen, den wiederum ein Komitee aus Kollegen auf der nächsthöheren Stufe und Vertretern der Personalabteilung diskutiert. Die Ergebnisse gehen dann Berichterstatter und Mentor mit dem Beurteilten durch.

Ein zeitaufwändiges Verfahren, wie Angelika Sonnenschein, Director of Human Resources, zugibt. Umso höher sind die Erwartungen, dass die Beurteilten an ihren Defiziten auch arbeiten: "Die Ergebnisse können auch auf Bonus und die Karriereentwicklung Einfluss haben. Schließlich gilt bei uns das Prinzip ''grow oder go''. Wenn sich keine Lösung abzeichnet, müssen wir gemeinsam überlegen, ob der Betreffende nicht besser in einer anderen Position bei einer anderen Firma aufgehoben wäre."

360-Grad-Feedback

Im Unterschied zur Bottom-up-Befragung, die nur die Meinung der Mitarbeiter über ihren Vorgesetzten widerspiegelt, wird das 360-Grad-Feedback an möglichst vielen Stellen des Unternehmens eingeholt. Neben Mitarbeitern beurteilen auch Vorgesetzte, gleichrangige Kollegen und Kunden das Verhalten der Führungskraft, die sich außerdem selbst einschätzen soll. Zum Grundprinzip gehört, dass die Befragten freiwillig und anonym ihre Meinung äußern. Führungskräfte sollen ein Gespür dafür bekommen, wie andere sie sehen.