Geschlossene Systeme läßt kein Pförtner mehr durch

Management-Systeme für technische Informationen statt CAD/CAM-Inseln

04.09.1992

Wenn nur genügend Anwender hüsteln, droht den Anbietern die Grippe. Hersteller von CAD/CAM-Systemen suchen sich zu schützen, indem sie ihre Produkte mit modernen Techniken so ausrichten, daß sie in jene Konzepte passen, die bei Anwendern derzeit unter Schlagworten wie Lean Production in der Diskussion sind. CW-Redakteur Ludger Schmitz sprach mit Bradford Morley, Präsident der CAD/CAM-Division von Schlumberger Technologies, Ann Arbor, über neue Marktorientierungen auf Anbieterseite.

CW: Bei den Anwendern von C-Techniken herrscht Frustration über ausgebliebene Produktivitätssteigerungen. Woran liegt es?

Morley: Ich glaube, daß die Systeme bis heute sehr produktiv gewesen sind, aber nur in engen Bereichen. Es besteht kein Zweifel daran, daß CAD/CAM-Systeme die Konstruktion automatisiert, den Anwendern eine Menge Geld erspart und sich bezahlt gemacht haben. Aber das ist nicht alles. Die Anwender wollen heute, daß ihnen die Systeme helfen, mit ihren Angeboten schneller auf den Markt zu kommen. Und an dem Punkt sind sie frustriert.

Wir in der CAD/CAM-Industrie haben uns zu Schulden kommen lassen, daß wir den Kunden erzählt haben, wir würden ihm genau das verkaufen. Jetzt stellen unsere Anwender fest, daß sie zwar in Einzelbereichen schneller arbeiten, aber insgesamt nicht schneller am Markt sind, sondern den Japanern hinterherlaufen. Das Management, das unter dem Druck eines höchst dynamischen Weltmarktes steht, ist frustriert, weil wir nicht schnell genug mit den notwendigen Werkzeugen vorankommen. Warum? Weil solche Konzepte noch jung sind, gerade zwei, drei Jahre alt.

CW: Welche grundlegenden Veränderungen sind für eine erfolgreichere Anwendung von C-Techniken notwendig?

Morley: Das CAD/CAM-Geschäft befindet sich in einem Wandel. CAD/CAM war früher erfolgreich als ein Tool zur Automatisierung von einzelnen Aufgaben in einem seriellen Produktionsprozeß. Das ist endgültig vorbei. Die Zukunft von CAD/CAM heißt erstens Prozeßautomatisierung oder Concurrent Engineering, bei dem verschiedene Abschnitte des Produktionsprozesses simultan erfolgen.

Die zweite Perspektive heißt vernetzte Rechnersysteme. Heute haben wir vernetzte Systeme; aber die Zukunft meint mehr als Ethernet oder TCP/IP, nämlich intelligente Netze, Distributed Computing Environment. Das erlaubt den Anwendern, alle Computerleistung und Informationen von unterschiedlichen Datenbanken in einem Netzwerk zu nutzen, ohne wissen zu müssen, welche Daten wo im Netzwerk verfügbar sind. Und solche Netzverbunde gehen über die lokale Umgebung hinaus, sie sind weltweit geschaltete Systeme.

Nicht nur wir von Schlumberger, sondern auch unsere Wettbewerber gehen drittens davon aus, daß wir uns zu Anbietern von Management-Systemen für technische Informationen statt von Konstruktionssystemen, von Geometrie-Hilfsmitteln, wandeln. Zukünftige Systeme werden es dem Management erlauben, alle technischen Daten zu kontrollieren, die zusammen die Datenbasis für eine vollständige Produktentwicklung bilden. Mit anderen Worten: ein System, das den ganzen Ablauf technischer Daten vom Design bis zur Produktherstellung zu überwachen erlaubt. Bis dato müssen Menschen dafür sorgen, daß im Falle von Änderungen in einer Abteilung die Mitarbeiter in anderen darüber informiert werden. Das wird in Zukunft digitalisiert und von Managern kontrolliert.

CW: Das sind typische Forderungen aus der Konzeption der Lean Production.

Morley: Ja, Lean Production verlangt eine ausgesprochen modulare Konzeption von Entwicklung und Produktion. Sie verlangt außerdem Concurrent Engineering, die simultane Durchführung verschiedener Aufgaben, also hochintegrierte Systeme statt Insellösungen. Die Ingenieure in der Entwicklung müssen mit ihren Kollegen in der Produktion enger zusammenarbeiten. Und zwischen ihnen muß es eine tiefgehende Integration mit der Unternehmensverwaltung, dem Marketing, dem Management etc. geben.

CW: Wie paßt sich Schlumberger dieser Forderung an, über den Prozeß der Konstruktion und Fertigung hinauszugehen?

Morley: Zunächst einmal muß jedes System von Personen aus unterschiedlichen Bereichen eines Unternehmens einfach anzuwenden sein. Man darf kein Ingenieur oder DV-Experte sein müssen, um sich über den Stand der Entwicklungsarbeiten an einem Produkt zu informieren oder in das Design einzugreifen.

Der nächste Schritt ist das unternehmensweite Daten-Management-System, das unser Produkt Bravoframe bietet. Wir sehen unsere Stärke in der Verwaltung, Verteilung und Überwachung von Daten. Es gibt dem Management die Möglichkeit, in jedes laufende Projekt einzugreifen. Wir verstehen uns nicht als eine CAD/CAM-Firma, sondern als ein Unternehmen für das Management technischer

Informationen.

CW: Teilt Ihr unternehmensweites Daten-Management-System die Design-Änderungen durch eine Abteilung allen anderen betroffenen Abteilungen automatisch mit?

Morley: Das DV-System registriert eine Modifizierung am Design als Änderung der Datei. Es weist dann alle anderen Nutzer dieser Datei auf eine Änderung hin, führt aber weder auf, was sich geändert hat, noch ist es in der Lage, notwendige Folgeänderungen in den anderen Bereichen automatisch durchzuführen. Der Grund für diese Einschränkungen besteht darin, daß unternehmensweite Daten-Management-Systeme noch sehr jung sind. Aber diese Systeme sind zukunftsträchtig, weil sie Anwendern wirkliche Vorteile bringen.

CW: Bei zahlreichen Prozessen arbeiten allerdings dutzende Unternehmen zusammen, die alle unterschiedliche DV-Systeme und Konstruktionssoftware verwenden. Wenn es da bei einer Firma Änderungen gibt, bedeutet das buchstäblich DV zu Fuß: mit der neuen Zeichnung in der Hand zur nächsten Firma.

Morley: Ja, was mit einem unternehmensweiten Daten-Management-System innerhalb der Grenzen einer Firma gelingt, klappt bei heterogenen Systemen nicht so einfach, günstigstenfalls lassen sich Daten per Modem übertragen. Aber das ist noch nicht die Interoperabilität zwischen verschiedenen Systemen, die wir gerne sehen würden. Die Daten müssen vom Konstrukteur zum Fertiger eines Produkts, das können zwei verschiedene Unternehmen sein, elektronisch übergeben werden, auch wenn beide Seiten unterschiedliche Systeme verwenden. Standards für die Übernahme fremder Unternehmensdaten sind nicht genug entwickelt.

CW: Wie offen ist man denn bei Schlumberger, was die Integrationsmöglichkeit von Modulen anderer Anbieter betrifft?

Morley: Auf Wunsch führen wir die entsprechenden Modifizierungen oder Erweiterungen an Fremdmodulen durch. Unser System ist bei seiner Entwicklung Mitte der 80er Jahre so angelegt worden, daß verschiedene Module auf Zwischenschichten aufsetzen, über die in Stufen und Gruppen schließlich auf einen Kern zugegriffen wird. Dazu braucht man exakt definierte Schnittstellen. Wenn wir nun ein fremdes Modul integrieren wollen, müssen wir es lediglich in die Lage versetzen, ein bestimmtes Interface zu adressieren. Wir glauben, damit das flexibelste System in der Industrie zu haben.

CW: Ergibt sich durch eine alle Bereiche eines Unternehmens durchdringende Lean Production die Notwendigkeit für die Anbieter, auch Softwaremodule für die Anforderungen in all diesen Teilbereichen im Portfolio zu haben?

Morley: Schlumberger bietet Datenverwaltung, die Interfaces und mechanische Designautomatisierungs-Werkzeuge. Wir habe, nicht vor, auch andere Features - etwa zur Marktanalyse - anzubieten. Ich glaube an die Notwendigkeit, sich auf Dinge zu konzentrieren und zu wissen, was man besser nicht macht. Aber dann muß man ein offenes System haben. Denn wir haben zur Kenntnis zu nehmen, daß wir Teil einer viel größeren Welt sind und unsere Mechanikprodukte in eine Firma passen müssen, die sich auch noch um Elektronik, Produktionssteuerung etc. kümmert.

CW: Noch vor wenigen Jahren hat kaum einer in der CAD/CAM-Szene von offenen Systemen geredet.

Morley: In der Tat war vor einiger Zeit CAD/CAM eine sehr proprietäre Angelegenheit, bei der sogar herstellereigene Hardware vertrieben wurde. Es ist heute eher exotisch, wenn man im CAD/CAM-Geschäft eigene Hardware verkaufen will. Es besteht jetzt ein klarer Trend zu offenen Systemen im CAD/CAM-Bereich. Die Integration heterogener Systeme verlangt offene Systeme. Am Markt gibt es eine gewaltige Nachfrage, die uns in dieser Richtung vorantreibt.

Wer heute ein geschlossenes System für eine proprietäre Hardwareplattform anbietet, kommt beim Kunden kaum mehr am Pförtner vorbei. Alle größeren CAD-Anbieter unterstützen Schnittstellenstandards, sie sind entscheidend für das Geschäft. Was auch sonst? Mir hat noch kein Anwender erklärt, er bevorzuge geschlossene Systeme. Die Aktien eines Anwenders, der derlei sagt, sollte man schleunigst verkaufen.

CW: Woran liegt es, daß kaum ein Anwender seine Systeme zur computergestützten Konstruktion und Fertigung in vollem Umfang nutzt?

Morley: Entwicklungsingenieure, die mit einer CAD-Workstation arbeiten, verbringen nur etwa 30 Prozent ihrer Arbeitszeit an diesen Systemen und verbrauchen den Rest der Zeit zur Kommunikation und Koordination mit Kollegen. Wenn Entwickler ihr System nur zu einem Drittel gebrauchen, sind sie nicht genügend an die Anwendung gewohnt, sie nutzen es nicht effektiv. Deshalb müssen wir es einfacher machen, das System schneller wieder zu erlernen. Deswegen haben wir uns für Benutzeroberflächen unter OSF/Motif entschieden.

Der Kern eines CAD/CAM-Systems wird sich außerdem in den nächsten drei bis fünf Jahren zu einem System entwickeln, das die Konstruktionsvorhaben begreift, so daß ein teuer ausgebildeter Ingenieur an seiner CAD-Workstation nicht mehr Geometrie betreiben muß. Systeme werden Designvorhaben wie das Zeichnen einer Parallele durch einen bestimmten Punkt einfacher begreifen und automatisch durchführen.

CW: Allerdings bringt eine Benutzeroberfläche wie OSF/Motif auch nur ein gewisses Aussehen, noch nicht aber eine halbwegs einheitliche Anwendungsmethodik bei unterschiedliche Systemen.

Morley: Wir versuchen, in unseren Produkten bestimmte Anwendungsgrundlagen zu vereinheitlichen. Allerdings gibt es für die Harmonisierung der Systeme unterschiedlicher Hersteller nicht mehr als den Style Guide der OSF zur Standardisierung der Benutzerführung. Wir hoffen, daß sich die OSF zu einem Vehikel entwickelt, das die CAD/CAM-Gemeinde zu Standardisierungen bei der Anwendung bewegen kann. Aber gerade einige große Anbieter haben daran kein Interesse, weil eine Anwenderoberfläche auch eine Methode sein kann, Kunden an sich zu binden. Vielleicht wird so etwas ja einmal als proprietär verschrieen sein - dann würde keiner mehr bei denen kaufen.

CW: Versprechen Sie sich von objektorientierter Programmierung Vorteile für CAD/CAM-Software?

Morley: Unser Kernprodukt Bravo3 ist zu zwei Dritteln in PL/1 geschrieben, der Rest in C und C + +. Wir schreiben es zur Zeit komplett in C um. Alle künftigen Erweiterungen zu Bravo3 werden in C + + entwickelt. Diese Sprache wird unsere zukünftige Entwicklungsumgebung. In unserem Geschäftsbereich bringt C + + eine neue Dimension von Produktivität. Der Grund ist die Objektorientierung. Wir gehen mit Objekten um, Geometrien sind Objekte.

Auch andere Anbieter setzen auf C + + , das ist ein ganz klarer Trend. Aus zwei Gründen: Erstens ist C + + für unser Geschäft eine sehr produktive Umgebung. Zweitens sind C und C + + so populär geworden, daß der erste Compiler zu einer neuen Workstation ein C-Compiler ist. Wenn man also seine Software für die jüngste Hardware anbieten will, muß man auf C beziehungsweise C + + wechseln.