Elektronische Marktplätze/Corporate Germany gibt auf E-Marktplätzen den Ton an

"Mädchen für alles" ohne Zukunft

01.12.2000
Im Netz rücken Unternehmen zusammen, bilden Einkaufskartelle, errichten Informationsportale nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stärker. Doch weicht die Euphorie zunehmend der Ernüchterung: Vielen Architekten von B-to-B-Startups droht Ungemach. Über die Zukunft des E-Commerce unterhielt sich Winfried Gertz* mit Stefan Rasch, Geschäftsführer der Boston Consulting Group in München und als Vice President verantwortlich für E-Commerce.

CW: Herr Rasch, Sie behaupten, wer im Internet Erfolg haben will, sei konfrontiert mit zweifacher Komplexität, dreifacher Unsicherheit, vierfacher Geschwindigkeit und fünffacher Informationsflut. Ist das nicht entmutigend?

Rausch: Keineswegs. Vielmehr ist beachtlich, wie schnell die Top-Manager der meisten Konzerne sich dem Thema "E" genähert haben. Im Herbst 1999 hatte sich in den USA das Thema "B-to-B" etabliert. Hierzulande jedoch wollte sich damals niemand intensiv damit befassen. Heute, zwölf Monate später, ist B-to-B in den Konzernen eine Selbstverständlichkeit. Viele Unternehmen haben beispielsweise bereits entschieden, ob und in welcher Form sie sich an solchen Marktplätzen beteiligen möchten.

CW: Sich dazu durchzuringen, reicht nicht. Tatsächlich ist noch wenig passiert

Rausch: Noch funktionieren die Marktplätze nicht, und die Unternehmen ziehen daraus keinen tatsächlichen Nutzen. Dennoch muss ich eine Lanze brechen für die "Old Economy", die innerhalb von zwölf Monaten eine solche Welle durch Deutschland hat schwappen lassen.

CW: Wer sind die Vorreiter, wer puscht E-Commerce nach vorn?

Rausch: Manche Branchen, zum Beispiel die Banken, sind mit ihren Produkten wesentlich stärker betroffen: Sie bieten digitalisierbare Produkte und digitalisierbare Informationen. Beispielsweise hat die Deutsche Bank mächtig aufs Tempo gedrückt. In der Medienbranche ist Bertelsmann sehr aggressiv ans Werk gegangen und in der Reisebranche die Lufthansa. Jetzt kommt die zweite Welle der Nachzügler. Nachdem die ersten Aktivitäten angestoßen worden sind, fragen sich die Vorstände: Was haben wir tatsächlich davon? Setzen wir wirklich die richtigen Prioritäten, oder verzetteln wir uns und verteilen die knappen Mitarbeiterressourcen auf zu viele Projekte?

CW: Doch dann platzte die Börsenblase, hochgesteckte Erwartungen wurden enttäuscht, und die Kurse purzeln nun unter das Emissionsniveau. Unzufriedene Aktionäre fragen Top-Manager, weshalb man unter solchen Vorzeichen so hohe Summen in den E-Commerce investieren kann.

Rausch: Die Vorstände müssen mit konkreten Projekten und klaren Zielsetzungen argumentieren. Niemand sollte sich hinstellen und sagen: E-Commerce ist wichtig, und deshalb investieren wir in den nächsten zwei Jahren eine Milliarde Mark. Besser wäre: Wir setzen uns zum Ziel, x Prozent vom Vertrieb auf einen Online-Kanal umzustellen und so x Prozent Händlermarge zu sparen und insgesamt x Prozent Einsparungsvolumen erzielen. Der Nebel hat sich gelichtet: Immer mehr Leute wissen, welches Produktivitätspotenzial mit E-Markets verknüpft ist.

CW: Aber genau das hat man sich all die Jahre auch von der klassischen IT versprochen: Kosteneinsparung und Erhöhung der Wertschöpfung. Tatsache aber ist, dass IT-Verantwortliche unter der Flut zunehmender Aufgaben klagen und dafür keine Fachkräfte finden. Neue Systeme bedeuten weniger Kompatibilität und damit zunehmende Programmierleistung zum Beispiel für Schnittstellen. Warum sollte man also jetzt ans Internet glauben?

Rausch: Weil dessen gewaltige Potenziale außer Frage stehen. Wer zum Beispiel einen Katalog im Internet abbildet, kann damit hohe Produktionskosten reduzieren und ist nicht mehr an feste Zyklen für Wareneinkauf, Preiskalkulation und Druck gebunden. Das Internet ermöglicht ein sehr zeitnahes Angebot für Kunden und erlaubt, die Menge über eine laufende Preisanpassung zu steuern. Das ist revolutionär, das gab es vorher nicht. Fluggesellschaften senken Kosten, weil sie die Provisionen der Reisebüros sparen, direkt mit Kunden in Kontakt treten und von deren Reise- und Buchungsverhalten lernen können. Solche Beispiele lassen sich in jeder Branche finden. Wichtig ist nur, bei konkreten Geschäftsideen und Nutzenpotenzialen zu beginnen und das Thema nicht von der Technologie her aufzugreifen. Erst wenn über die Geschäftsstrategie Klarheit herrscht, sollte die Technik als Unterstützung ins Spiel kommen.

CW: Sie weisen mit Nachdruck darauf hin, dass E-Commerce unmittelbar den Handel treffen wird. Der wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, seine Funktion als Berater des Kunden am Point-of-Sale zu verlieren. Wer gewinnt: Offline oder Online?

Rausch: Am Ende gibt es nur eine Welt: eine Online/Offline-Welt. Die Herausforderung für den Handel heißt "Multi-Channel-Management". Das Netz können wir nicht mehr wegdiskutieren, die Frage lautet vielmehr: Wie können wir Online und Offline sinnvoll miteinander verbinden?

CW: E-Commerce ist weit mehr als eine "verlängerte Ladentheke". Akteure, die bisher eher im Schatten der Verkäufer standen, wie die Einkäufer, gewinnen zunehmend an Einfluss. Das größere Marktpotenzial des E-Commerce konzentriert sich auf das Geschäft zwischen den Unternehmen. In Ihrer Studie ("Rennsaison: B2B E-Commerce in Deutschland") sprechen Sie von einem Horizont von fünf bis zehn Jahren, bis solche Marktplätze in voller Blüte sind. Hat sich bis dahin nicht ohnehin alles wieder verändert?

Rausch: Anfang dieses Jahres wurden viele Marktplätze angekündigt: Covisint in der Automobilindustrie, Aeroxchange in der Flugzeugindustrie, Omnexus in der Chemieindustrie. Schaut man sich aber den Status quo der Projekte an, hat sich noch wenig bewegt. Schon das erste Jahr zeigt, dass alles wesentlich länger dauert, als man ursprünglich erwartet hatte. Unternehmen müssen erst definieren, wo ein Marktplatz tatsächlich Nutzen stiften kann. Es ist nicht einfach, die verschiedenen Interessen eines Konsortiums unter einen Hut zu kriegen. Genauso mühsam ist es, die richtigen Mitarbeiter und Technologiepartner zu finden.

CW: Welche Hürden stehen im Weg?

Rausch: Zum Beispiel einheitliche Produktstandards. Nehmen wir einen Marktplatz für Flugzeugteile: Airlines unterhalten auf den Flughäfen nicht mehr eigene Ersatzteillager für Triebwerke, sondern organisieren das gemeinsam mit anderen Airlines und sparen so erhebliche Kapital- und Lagerkosten. So weit die Theorie. Aber: Jedes Triebwerk hat seine eigene Spezifikation und kann deshalb nicht ohne weiteres zwischen den Airlines ausgetauscht werden. Auch in der Automobilindustrie gibt es noch keinen einheitlichen Informationsstandard zwischen den Lieferanten und Vorlieferanten.

CW: Das klingt nicht gerade optimistisch.

Rausch: Denken Sie an ERP-Systeme. Es hat Jahre gedauert, bis sie eingeführt wurden. Nun geht es um Supply-Chain-Management (SCM), also um gemeinsame Einsicht in Lagerbestände, Planungsstadien und Phasen der Auftragsabwicklung. Bis diese Systeme integriert sind, werden Jahre vergehen. Man muss rechtliche Barrieren ausräumen und Auflagen der Aufsichtsbehörden folgen. Marktplätze nehmen viel Zeit in Anspruch.

CW: Welche psychologischen Effekte provoziert das?

Rausch: Einige Unternehmen werden ungeduldig, wenn sie den erhofften Nutzen nicht so schnell wie erhofft realisieren können. Es ist abzusehen, dass man wieder direkt mit dem Lieferanten kooperiert. Nimmt man allein die Einkaufsfunktion, ist es relativ einfach, elektronische Beschaffungswerkzeuge zwischen Lieferanten und Unternehmen ohne Umwege über einen Marktplatz einzusetzen. Zum Beispiel Online-Auktionen, Online-Katalogsysteme oder Ausschreibungsverfahren.

CW: Reine Vermittlungsplätze wie SAPs mysap.com seien langfristig nicht tragfähig, sagt Harald Summa vom deutschen Internet-Verband eco. Schließen Sie sich dieser Kritik an?

Rausch: Weil man sehr genau auf die Bedürfnisse einer Branche eingehen muss, um echten Nutzen zu erzielen, werden sich allgemeine Vermittlungsmarktplätze sicherlich nicht durchsetzen, sondern allein vertikale. Nehmen Sie ein Stahlgeschäft zwischen Deutschland und Südamerika - ein hochkomplexer Prozess. Man muss Akkreditierungsverfahren, Zoll- sowie Ein- und Ausfuhrbestimmungen ebenso genau kennen wie die jeweilige Speditionslandschaft. Da kann nicht einfach ein Studententeam kommen und behaupten, wir machen jetzt mal einen Marktplatz für den Stahlhandel zwischen Deutschland und Südamerika.

CW: Welche Rolle spielen dann horizontale Marktplätze?

Rausch: Diejenigen, die mehrere Branchen bedienen können, etwa mit Büroartikeln oder mit Reise- und Abwicklungs-Services, werden als Plugin-Lösung in vertikale Marktplätze integriert. Dieser Prozess ist bereits jetzt in vollem Gange. Marktplätze als "Mädchen für alles" haben keine Zukunft.

CW: Nach einer jüngsten Studie der Gartner Group steht die europäische Internet-Wirtschaft vor einer großen Zukunft. Die treibenden Kräfte sind stärker als die hemmenden Kräfte. Können Sie das unterschreiben?

Rausch: In der Öffentlichkeit hat die Euphorie eher abgenommen, zumal man sich stark auf börsennotierte B-to-C-Unternehmen konzentrierte. Tatsächlich aber hat "Corporate Germany" den B-to-B-Ball aufgenommen und nach vorne getrieben. Das ist die wahre Veränderung, nur nicht so sichtbar und auch nicht so sexy. Nun ist die große Kugel ins Rollen gekommen, während viele der früh hochgestiegenen Luftballons geplatzt sind.

CW: In ihrer Studie heißt es, viele Startups, die Marktplätze aufgebaut haben, werden bald aufgrund defizitärer Geschäftsmodelle aus dem Rennen fallen. Wer überleben will, braucht demnach einen starken Partner. Wo können sich Start-ups mit ihren Marktplätzen überhaupt noch behaupten?

Rausch: In den meisten Branchen werden etablierte Unternehmen das Geschehen bestimmen. Sie wissen am besten, wie ihre Branche tickt, weil sie langjährige Lieferanten- und Kundenbeziehungen unterhalten, vertrauensbildende Marken besitzen und über etablierte Logistikprozesse verfügen. Es gibt nur wenige Branchen, wo man einen neutralen Dritten benötigt, der sich als Mittler einschaltet. Angebot und Nachfrage müssen sehr fragmentiert sein, wie etwa bei Büroartikeln. Anders sieht es in der Automobilindustrie aus: Ein großer Automobilhersteller würde es keinem Startup überlassen, mit seinen Lieferanten Handel zu betreiben. Es ergibt keinen Sinn, einen Dritten dazwischenzusetzen, der bei jeder Transaktion etwas abschöpft.

CW: Wo könnte es denn funktionieren?

Rausch: Zum Beispiel beim Krankenhausbedarf. Auch hier gibt es viele Hersteller und ein unübersichtliches Angebot. Doch dass sich plötzlich alle Kliniken dieser Welt zusammensetzen werden, um einen Marktplatz zu eröffnen, halte ich für unwahrscheinlich.

CW: Wie die Uni Frankfurt in einer Studie ermittelt hat, werden auf den Marktplätzen tatsächlich kaum Geschäfte gemacht. Die Wissenschaftler erwarten, dass man bald wieder auf Post, Telefon und Fax zurückgreift und sich vom Internet abwendet. Wird nicht zu viel über Chancen und zu wenig über Realität gesprochen?

Rausch: Ich bin fest davon überzeugt, dass das Internet als neue Technologie die Welt verändern wird. Genauso wie es die Dampfmaschine, das Telefon oder der Computer getan haben. Hinzu kommt, dass die Kommunikationskosten weiter sinken und die Globalisierung zunimmt.

Auch wenn nicht alles so schnell geht - die Vernetzung der Welt können wir nicht mehr wegdiskutieren.

CW: Was wird die Marktplätze von morgen auszeichnen?

Rausch: Man muss Marktplätze so gestalten, dass sie für Einkäufer und Verkäufer von Nutzen sind. Schon heute geht es nicht mehr darum, dass der Einkäufer seine Einkaufspreise runterdrücken kann, sondern welche Vorteile durch echtes Supply-Chain-Management (SCM) möglich sind - also Einkäufer und Lieferanten gemeinsam profitieren.

CW: Wie ist es denn um SCM bestellt?

Rausch: Viele Unternehmen setzen SCM bereits intensiv ein, elektronische Marktplätze noch nicht. Hier stehen einfache Einkaufsfunktionen im Vordergrund, eine übergreifende Kooperation findet noch nicht statt. Anders ausgedrückt: Wir sind noch bei Release 1.0.

*Winfried Gertz ist freier Journalist in München.

Abb: Weniger als die Hälfte der Marktplätze sind bisher transaktionsfähig. Quelle: BCG B2B-E-Commerce-Studie für Deutschland, August 2000