Machtbasis und Machtverteilung

12.04.1979

Machtphänomene im Interface zwischen Management und EDV-Spezialisten: Die erste Komponente der Machtbasis wird definiert als die Position in der Organisation. Die Position einer Person oder einer Gruppe wiederum ist primär bestimmt durch ihre Stellung in der Organisationshierarchie, sekundär durch ihre spezielle Lokalisation im Verhältnis zu den anderen Positionen beziehungsweise Stellen.

So sind in der klassischen funktional gegliederten Unternehmensstruktur auf der zweiten Hierarchiestufe - direkt nach der Unternehmensspitze - die Leiter der Funktionen (zum Beispiel Produktion, Einkauf, Verkauf, Finanzierung) gleichberechtigt nebeneinander, das heißt formal gleichmächtig vertreten. In der Praxis zeigt sich jedoch oft die größere Machtstellung einer bestimmten Funktionsgruppe. Neben der zweiten Komponente der Machtbasis, den persönlichen Charakteristika (im wesentlichen Intelligenz, Charme, Ausbildung, Arbeitseinsatz, Führungscharisma) des Bereichsleiters und seiner Mitarbeiter, ist für diese von der formalen abweichende Machtstruktur die tatsächliche Kontrolle über organisationale Ressourcen (Sach- und Finanzvermögen, Personen, Informationen) entscheidend.

Das Jahrzehnt von 1960 bis 1970 (Entwicklungsphase) war die Zeit, in der die Computer Eingang fanden in nahezu alle größeren Unternehmen und Verwaltungen. Diejenigen Mitarbeiter in den Organisationen, die traditionell durch ihre organisationsinternen Erfahrungen großen taktischen Vorsprung gegenüber neuen Organisationsmitgliedern besaßen, waren relativ hilflos gegenüber den neuen Fachleuten: den Systemanalytikern und Programmierern. Den ansonsten erfahrenen und versierten Managern und Angestellten fehlten die Informationen für den EDV-Bereich. Theoretisch hätten sie ihre Position durch die Beschaffung von Informationen über die EDV verbessern können. Aber in der Praxis geschah dies nicht, sehr selten oder nur unzureichend.

Die EDV-Spezialisten waren in dieser Situation die Organisationsmitglieder die sich mit dieser Unsicherheit "EDV" befaßten. Sie hatten die Aufgabe, mit ihrem Spezialwissen den Computer für die Organisation zu erschließen; sie waren zumindest für gewisse Zeit nicht ersetzbar und die EDV wurde ständig zentraler für die Organisationen. Die Analyse der Machtverteilung zeigt folglich für das erste Jahrzehnt der DV-Anwendung eine starke Machtposition der EDV-Gruppe, weil sie in hohem Maße für andere mit Unsicherheit handelte, nicht substituierbar war und eine zentrale Stellung hatte.

Als Ursachen für eine zunehmende Abhängigkeit der Fachabteilungen vom Computerpersonal werden von den Anwendern unter anderem die ihnen unbekannten Vorgänge im EDV-Zentrum und die "Tricks" bei der Programmierung angegeben, ferner die durch die EDV geschaffenen starken Interdependenzen zwischen den Abteilungen sowie die Wissensübermacht der Informationsspezialisten auf diesem Gebiet.

Unsicherheit im Gefolge der EDV-Anwendung wird insbesondere bestimmt durch den umfassenden organisatorischen Wandel. Ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor ist dabei die Frage der Zuständigkeit für den Wandel. In einer Untersuchung war die typische Antwort eines Organisationsmitgliedes: "Lines of authority have become less clear mainly because, if any changes are to be made, it is extremely hard to find a responsible person who has the authority to make the necessery change. There are many people who recommend but few who make decisions." Nahezu automatisch fällt in solch einer Situation der Instabilität der Gruppe selbstbewußter EDV-Spezialisten mehr Macht zu.

Neben dem Faktor "Befassung mit Unsicherheit" kommt - wie bereits angeführt - dem Faktor "Zentralität der EDV" besondere Bedeutung für die Machtverteilung zu. Die zentrale Verarbeitung eines Großteils der betrieblichen Daten durch die EDV gibt dieser Gruppe eine Position, in der sie außergewöhnliche Kontrolle über die Organisation ausüben kann. Während die Unsicherheit in der gegenwärtigen reiferen Phase der EDV-Anwendung zum Teil an Bedeutung verloren haben dürfte, ist die Zentralität der EDV ein aktueller Einflußfaktor in dem politischen System von Organisationen geblieben. Das zentrale EDV-System verbindet die verschiedenen Teile der Organisation, überwindet Abteilungsschranken, forciert Integration und zentrale Kontrolle, nimmt Organisationseinheiten Autonomie und läßt durch all dies bei nicht wenigen Benutzern das Gefühl aufkommen: Wir sind Gefangene des Systems.

Die der EDV-Gruppe übertragene normale Macht zeigt eine bestimmte zeitliche Bewegung. In der Hauptentwicklungsphase der EDV in Unternehmen (60er Jahre) wurden der Spezialistengruppe sehr oft weitreichende Kompetenzen übertragen und ihr Leiter direkt der Unternehmensspitze unterstellt. In der gegenwärtigen Reifephase (beginnend etwa 1968-1970) haben die EDV-Spezialisten tendenziell an formaler Macht verloren. Mangelnde Kompetenzen und damit fehlende Durchsetzungsmöglichkeiten werden von den EDV-Spezialisten beklagt. Die befragten Teilnehmer von zwei MIS-Workshops des BIFOA, Köln, stufen die Frage der organisatorischen Ebene der EDV-Leitung als wenig wichtig und den mit formalem Status direkt zusammenhängenden Aspekt einer hohen Bezahlung der Spezialisten als noch weniger wichtig ein.

Für die abnehmende formale und informale Machtposition der EDV-Gruppe sind wohl vor allem übermäßig geweckte und dann enttäuschte Erwartungen verantwortlich. Die Abbildung zeigt die zu mehr als 40 Prozent äußerst mäßige Einschätzung des Beitrages der EDV-Abteilung zur Rendite und zum Wachstum ihrer Unternehmen durch 220 Unternehmensführer/Fachressortleiter und auch durch 256 EDV-Systemspezialisten. Einen Beitrag zur abnehmenden Tendenz der Spezialistenmacht leistet auch die Tatsache, daß bei den Anwendern mehr Wissen über die EDV angesammelt wurde und dadurch "Unsicherheit" in gewissem Grade beseitigt wird, obwohl abwertende Bemerkungen von Vorstandsmitgliedern wie "die EDV, unser Spielzeug" diesen Eindruck nicht gerade bestärken.

*Leicht gekürzter und überarbeiteter Nachdruck aus "Management und EDV", von Dr. Erich A. Tertilt, Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler, Wiesbaden 1978, 327 Seiten, 58 Mark.