Hirnforscher Hüther im Interview

Macht macht nicht satt

25.12.2012
Von Sven Ohnstedt

Was man nur in der Gemeinschaft lernen kann

CW: Ist es nicht ein bisschen viel verlangt, dass wir uns alle gegenseitig lieben sollen?

HÜTHER:In der Tat. Daher die andere: individualisierte Gemeinschaften. Wir können eine Form von Beziehung herstellen, in der wir gemeinsam für etwas unterwegs sind, also in der jeder Einzelne feststellt, dass er gebraucht wird, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Weil in gemeinsamer Arbeit etwas entstehen soll, dass der Einzelne alleine nicht vollbringen könnte. Aber er trägt auf seine besondere Weise zum Gelingen bei – es kommt auf ihn an. Denken Sie an einen Chor oder auch an ein Schauspiel. Hier werden die gemeinsamen Leistungen sichtbar. In Unternehmen sollte es eigentlich auch so sein.

CW: Aber was ist daran abwegig, einfach gedankenlos zu handeln, also ohne Inspiration oder den unbedingten Willen, etwas gestalten zu wollen?

HÜTHER: Wir machen viele Dinge ohnmächtig, weil es auch so funktioniert. Wir machen das aus dem Bauch heraus, weil es sich halt so entwickelt hat. Manches davon ist ja auch richtig.

CW: Und was davon ist falsch?

HÜTHER: Um Ihnen das an einem Beispiel zu erklären: Früher musste ich gemeinsam mit meiner Familie im Wald nach Holz suchen. Da war jedes Kind wichtig, es war gemeinsame Arbeit. Und wir freuten uns alle gemeinsam darüber, dass die Stube am Abend warm war. Man erlebt, wie wichtig es ist, dass man seine Eigenheiten und Bedürfnisse auch mal zurückstellen muss, weil man gemeinsam für etwas unterwegs ist – ich nenne das Shared Attention. Mittlerweile wissen wir: Man erwirbt auf diese Weise sogenannte Metakompetenzen, also die Fähigkeiten, seine Handlungen zu planen, die Folgen von seinen Handlungen abzuschätzen oder auch sich in andere Menschen einzufühlen. Dazu gehört ebenfalls, seine Impulse zu kontrollieren und auch mal Frust aushalten zu können.

CW: Können diese Fähigkeiten ausschließlich in solchen Gemeinschaften erlernt werden?

HÜTHER: Sie lassen sich nicht unterrichten. Man erwirbt sie in Situationen, in denen man, um es platt zu sagen, den Nutzen von solchen Fähigkeiten erlebt. Das funktioniert aber eben einzig, wenn man mit anderen für irgendein gemeinsames Ziel unterwegs ist. Zumindest in der Vergangenheit hat dies auch immer funktioniert.

CW: Wieso sollte es künftig nicht mehr funktionieren?

HÜTHER: Weil gerade die erste Generation von Menschen groß wird, die weder Not noch Elend, Feinde oder Bedrohung erleben. Sie erfahren es gar nicht mehr, wie es ist, gemeinsam arbeiten zu müssen. Dem entsprechend bilden sie ihre Fähigkeiten auch nicht mehr aus. Wir bekommen dadurch eine Symptomatik, die wir Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, nennen.

CW: Unsere Kinder werden also krank?

HÜTHER: Gott sei Dank, dass uns das passiert!

CW: Wie bitte?

HÜTHER: Wie sollten wir jemals erkennen, dass wir durch die Art und Weise, wie wir unser Leben gestaltet haben, gerade dabei sind, uns etwas zu berauben, dass wir dafür brauchen, um weiterhin Menschen zu bleiben? Dadurch, dass man etwas falsch macht, bekommt man die Gelegenheit, es im Anschluss bewusst zu verändern – es selbst zu gestalten. Darum geht es! Es geht nicht darum, dass wir alles richtig machen. Es geht darum, dass wir lernen, was wir eigentlich alles brauchen, damit wir werden können, was in uns angelegt ist.

CW: Sie neigen zur Philosophie…

HÜTHER:Sie können ja gar nicht anders als zu fragen, wie es weitergehen soll.

CW: Sind Sie nicht Gehirnforscher?

HÜTHER: Sie müssen wissen, dass man ein Gehirn gar nicht verändern kann. Sie können einzig die Erfahrungsräume verändern, in denen die Menschen ihre Gehirne ausbilden. Es gibt Hirnforscher, die damit zufrieden sind, wenn sie herausfinden, wie das Gehirn funktioniert. Ich gehöre zu denjenigen, die durch ihre wissenschaftlichen Arbeiten und Erfahrungen gemerkt haben, dass an einem Gehirn auch noch ein Körper hängt. Ich kann jedenfalls nur dann Gehirnforschung betreiben, wenn ich auch den Körper betrachte.

CW: Was hat ein menschlicher Körper mit besagten Erfahrungsräumen zu tun?

HÜTHER: Alles, was ich im Gehirn messen kann, hängt immer auch davon ab, wie es der Person gerade geht und wie sie beschaffen ist. Andererseits schlägt sich jeder Effekt, den man im Gehirn auslöst, im Körper nieder. Das kennt übrigens jeder: Wenn man Angst hat, dann wird einem plötzlich die Brust eng, der Atem stockt und die Knie werden weich – lauter körperliche Merkmale.

CW: Psyche und Physis gehören demnach zusammen.

HÜTHER: Ja. Im Grunde ist es nicht zulässig, im Gehirn nach irgendwas zu suchen, wenn man dabei nicht auch den Erfahrungshintergrund betrachtet. Alle Vernetzungen, die im Gehirn entstehen, werden durch Erfahrungen geformt, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht – sei es in seiner Familie, in der Schule, in seinem Kulturkreis oder seinen Beziehungen.

CW: Aber wie entsteht Bewusstsein darüber, was wir, so sagten Sie es gerade, tatsächlich brauchen?

HÜTHER: Das ist es ja gerade, was uns in der Forschung interessiert: Wie kann sich etwas im Gehirn verändern? Die Frage nach Lernprozessen, nach Change Management ist für alle Teile der Gesellschaft von Bedeutung.

CW: Wenn der Körper in der Gehirnforschung tatsächlich so wichtig ist, wieso existieren dann noch vermeintlich rückständige Forschungszweige?

HÜTHER: Jede akademische Teildisziplin möchte sich etablieren. Folglich schützt sie sich erst einmal selbst, indem sie sich sowohl einschließt als auch abgrenzt. Es geht also zunächst um Definitionen und Organisationsstrukturen. Sie können wissenschaftliche Erkenntnis aber nicht aufhalten. Das müssen auch Wissenschaftler einsehen. Dies führt zwangsläufig dazu, dass sie die zum eigenen Schutz aufgebauten Grenzen niederreißen müssen – keineswegs eine banale Aufgabe! Es scheint sogar eine Gesetzmäßigkeit zu sein, nach der sich Differenzierungsprozesse grundsätzlich ereignen: Erst sucht man sein Heil in der Abgrenzung, um später zu erkennen, dass man doch Teil eines größeren Ganzen ist. Auf menschlicher Ebene nennen wir ebendies eine neue Stufe des Bewusstseins.

CW: Wieso gehen Sie mit Ihren gewonnenen Erkenntnissen eigentlich an die Öffentlichkeit?

HÜTHER: Jedes Kind kommt mit viel mehr Vernetzungen zu Welt, als zum Schluss übrigbleiben. Ich entwickle daraus einen Impuls, um den Leuten zu sagen: Da geht noch was! Es hat gesellschaftliche Relevanz. Wissenschaft, die nur der Wissenschaft zuliebe betreiben oder entwickelt wird, hat ein großes Problem: Ihr fehlt das Korrektiv. Künstlern geht es mitunter ganz ähnlich. Wer holt einen zurück, wenn man sich verlaufen hat? Die Praxis und die gesellschaftliche Wirklichkeit sind deswegen wichtig, um die Wissenschaft daran prüfen zu können – wenn nicht gar: müssen. Wenn ich Erkenntnisse habe, die in keiner Weise zu Erfahrungen passen, muss ich mich doch fragen, ob ich Phänomene untersuche oder auf dem falschen Weg bin.

Gerald Hüther leitet die Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim/Heidelberg. Sein aktuelles Buch „Jedes Kind ist hoch begabt" erschien im Knaus-Verlag.