Datenbanken/Zielgruppenspezifische Data-Marts aufbauen

Lufthansa: Den Wettbewerb transparent machen und agieren

21.03.1997

Die Deregulierung des europäischen Flugmarktes wird die Entwicklung hin zu einem verschärften Wettbewerb unter den Airlines zum einen weiter beschleunigen, zum anderen aber auch wesentlich unberechenbarer machen. Dies gilt insbesondere für das Nachfrageverhalten der Kunden. Neu hinzugekommene Bewertungsparameter für diesen Markt führen dazu, daß das Reaktionsspektrum auf das Marktgeschehen wesentlich breiter wird und dies bei einer gleichzeitigen Abnahme der zur Verfügung stehenden Reaktionszeit.

Deshalb hatte der Vorstand der Lufthansa bereits 1995 beschlossen, das Unternehmen frühzeitig auf die veränderten Anforderungen, die sich aus der Deregulierung des Flugmarktes ergeben, vorzubereiten. Im Rahmen des Re-Engineering-Projekts "Ertrags-Management" gab er den Auftrag, ein neues dispositives Markt- und Wettbewerber-Informationssystem (Marwin) als Data-Warehouse-Lösung aufzubauen. Um dabei das Projekt überschaubar zu halten, wurde der Implementierungsplan in drei Stufen gegliedert:

- Implementierung der Ist-Analyse

- Implementierung des Alerters (Frühwarnsystem)

- Implementierung eines Simulations-Tools ("what-if-Szenarien")

In allen drei Stufen werden einzelne Data-Marts aufgebaut beziehungsweise die bestehenden Data-Marts erweitert und unter der Systemoberfläche zusammengefaßt.

Aufgabe des Ertrags-Managements ist, eine möglichst hohe Auslastung der Flugzeuge und damit eine hohe Rendite zu erzielen. Hierzu werden vor allem die sogenannten O&D-Daten (Origin & Destination) benötigt. Mit deren Auswertung lassen sich unter anderem folgende Fragen beantworten: "Wann und wie ändern sich die Nachfragestrukturen, in welchem Zeitraum muß die Lufthansa auf bestimmte Entwicklungen im Markt reagieren, welche Aktivitäten sind aufgrund der beobachteten Marktveränderungen notwendig?" Die O&D-Daten geben bis auf das einzelne Fluggerät und den Zielort genau die Auslastung der Flugzeuge wieder. Die hierfür benötigten Kennzahlen befinden sich dabei in einer Vielzahl operativer Systeme, zum Beispiel Verkaufsabrechnung oder Buchungszahlen.

In seiner ersten Ausbaustufe sollte das System sicherstellen, daß den Mitarbeitern des Trading Floors individuelle Markt- und Wettbewerberinformationen zur Verfügung stehen.

Der Trading Floor ist eine abteilungsübergreifende Arbeitsgruppe, die sich aus Mitarbeitern der Bereiche Ertrags-Management, Pricing und Vertrieb zusammensetzt. Vor Einführung des Systems war die Informationssituation dieser Mitarbeiter unbefriedigend. So waren den Mitgliedern des Trading Floors zwar alle entscheidungsrelevanten und aktuellen Daten in den verschiedensten operativen Applikationen und Systemen vertraut. Aufgrund der sehr komplexen Systemlandschaft bei der Lufthansa (siehe Grafik) war aber ein sehr unterschiedliches und spezielles Expertenwissen erforderlich, um an die Daten aus den verschiedenen Systemen heranzukommen beziehungsweise sie auf den Papier- listen richtig zu interpretieren.

Die Schwierigkeiten, die aus dem papierbasierenden Berichtswesen resultieren, waren dabei vielfältig. Die Mitarbeiter aus dem Trading-Floor-Bereich konnten nicht direkt auf die Daten zugreifen, sondern mußten den Umweg über die DV nehmen. Da das Zusammentragen der Daten nicht durch ein systemübergreifendes Tool unterstützt und zudem von den verschiedenen zuständigen Fachbereichen individuell vorgenommen wurde, stand das Datenmaterial nur mit großer zeitlicher Verzögerung zur Verfügung - in der Regel zwei bis vier Tage später. Angesichts eines extrem dynamischen Marktes waren diese Antwortzeiten nicht mehr akzeptabel. Was der Trading Floor dagegen benötigte, waren Informationen für die zeitnahe Ist-Analyse des Marktes.

Erschwerend kam hinzu, daß die einzelnen DV-Plattformen und Datenquellen, auf der die Mitarbeiter des Trading Floors ihre Arbeit aufbauten, nicht oder nur unzureichend miteinander verknüpft sind. So wurden fehlerhafte Daten nur schwer - schlimmstenfalls gar nicht - erkannt. Beispielsweise war es nicht möglich, einheitliche beziehungsweise systemübergreifende Bewertungskriterien für die Markt- und Wettbewerbssituation der Lufthansa festzulegen. Auch redundante Daten ließen sich nur schwer identifizieren. Die Folge: Anstatt auf der Grundlage der gelieferten Daten Entscheidungen zu treffen oder Steuerungsimpulse in Gang zu setzen, diskutierte man über Herkunft und Solidität der Daten. So blieb zu wenig Zeit für die eigentliche Analyse und Informationsgewinnung.

Die entscheidende konzeptionelle Schwäche des traditionellen Reportings aber lag darin, daß die Daten nicht nach den O&D-Gesichtspunkten aufbereitet waren. Die Strukturierung nach O&D-Gesichtspunkten ist aber für jeden Mitarbeiter des Trading Floors von besonderer Bedeutung, da nur durch die präzise Aufschlüsselung der Flüge, nach Destination, Uhrzeit, Wochentag etc. eine Bewertung des Marktes möglich ist. Über OLAP-Tools erlaubt das Marwin-System jetzt den schnellen Drill-Down von Kennzahlen auf aggregierter Ebene wie zum Beispiel der Nordamerikaroute bis hinunter auf Einzel- flugebene (wie zum Beispiel Flugnummer LH1234).

Mit der Einführung der SAS-basierten Marktbeobachtungsanwendung entfällt das bisherige mühselige manuelle Zusammenführen der Informationen aus den verschiedenen Systemen und stellt unter anderem automatisch folgende Informationen zur Verfügung:

- Marktanalysen, wie beispielsweise Marktvolumen, -wachstum, -anteile der Lufthansa,

- Wettbewerbsanalysen wie Marktanteile und -anteilsentwicklungen auf O&D-Basis nach Verkaufsmärkten, OAL-Flugplänen beziehungsweise -produkten (OAL = other Airline),

- Bewertung von Potentialbedienung und abgewiesener Nachfrage,

- Prognose der Buchungsverläufe und des Kundenverhaltens sowie

- Anwendung und Nutzung von Tarifen.

Steuerungsmaßnahmen waren kontraproduktiv

Bislang reagierte jede Abteilung isoliert auf eine Veränderung der sie betreffenden Kennzahlen. Das führte unter Umständen dazu, daß die Steuerungsmaßnahmen einer bestimmten Abteilung kontraproduktiv zu denen einer anderen waren, da es nicht nur an einer ausreichenden Kommunikationsbasis, sondern auch an Transparenz mangelte. Jede Abteilung verfügte über ihr spezielles Inselwissen, das anderen Bereichen nicht zugänglich war. Nicht zuletzt mit der Einführung des neuen Systems wurden diese organisatorischen Schwachstellen beseitigt, so daß die Lufthansa jetzt über eine ganzheitliche Sicht auf ihren Markt und über einheitliche Entscheidungsgrundlagen verfügt.

Nach der erfolgreichen Implementierung der Ist-Analyse wird bis Ende März ein zweites Data-Mart ergänzt, der sogenannte Alerter. Dieses Frühwarnsystem scannt sämtliche Daten der verschiedenen Systeme nach Kennzahlenveränderungen ab und stellt diese, sofern notwendig, der Anwendung zur Verfügung. Traffic-Lighting-Systeme informieren täglich und anwenderindividuell über kritische Situationen und Marktentwicklungen, beispielsweise bei Nachfrageveränderungen, wenn auf einer bestimmten Route eine konkurrierende Airline steigende Nachfrage zu verzeichnen hat oder ein Mitbewerber eine O&D-Verbindung nicht mehr bedient.

Die Mitarbeiter aus dem Trading Floor-Bereich können jetzt sehr schnell Gegenmaßnahmen ergreifen und beispielsweise Kapazitäten reduzieren oder günstigere Tarife anbieten, um abgewanderte Fluggäste wieder zu gewinnen. Anstatt mit Zeitverzögerung nur zu reagieren, agiert die Lufthansa jetzt. Mit dem Wegfall des manuellen Datenscannings hat sich auch das manuelle Marktscanning erledigt. Dies läuft nun alles automatisiert ab, so daß den Anwendern wesentlich mehr Zeit zur Analyse und strategischer Steuerung bleibt.

Als drittes Data-Mart ist geplant, an das Marwin-System ein Simulations-Tool zu koppeln, mit dem der Trading Floor "what-if-Szenarien" durchführen kann. So werden beispielsweise Marktveränderungen in der Zukunft simuliert und verschiedene Reaktionsmodelle der Lufthansa auf ihre Effizienz hin getestet. Die Lufthansa weiß so schon heute, welche Aktionen bei bestimmten Marktveränderungen in den nächsten Jahren kurzfristig und schnell vorgenommen werden können. Das Ziel ist klar: Die Lufthansa möchte in Zukunft das Marktgeschehen bestimmen und nicht von ihm beherrscht werden.

Innerhalb der Data-Warehouse-Strategie der Lufthansa ist Marwin nicht die einzige Data-Mart-Anwendung. Schon während der Implementierungsphase wurde ein zweites Projekt mit Namen "Beat" aufgesetzt. Beat steht für Business Enviroment Analysis Tool und beinhaltet die DV-gestützte, unternehmensweite Vertriebsplanung und -steuerung für die weltweit rund 130 Verkaufsagenten der Lufthansa. Als Ergänzung zu dem Marktbeobachtungssystem ist das Analyse-Tool eine dezentrale Data-Mart-Anwendung, die in der letzten Ausbaustufe über eine Standleitung direkten Zugriff auf die zentralen Vertriebs- und Marketing-Daten in Frankfurt haben wird. Beide Systeme sind ineinander verzahnt, das heißt sie stellen der anderen Anwendung jeweils die eigenen Informationen zur Verfügung und umgekehrt. Die Anwendung erlaubt unter anderem erstmals die

- Ausrichtung lokaler Marketing-Maßnahmen an unternehmensweiten Vertriebszielen und überregionalen Marketing-Maßnahmen,

- inhaltliche Konsistenz der Planungselemente,

- Reisestrom,

- Vertriebskanal,

- Kunde sowie den

- weltweit koordinierten Einsatz der Marketing-Budgets.

Sie löst das alte - mit den bekannten Problemen behaftete - Papierberichtswesen ab. Das Data-Mart-Projekt Beat wurde aufgesetzt, weil die Lufthansa bislang relativ wenige und auch nur zeitverzögerte Informationen aus den internationalen Märkten zur Verfügung gestellt bekam. Auch besteht das Problem, daß die Lufthansa zu langsam auf Veränderungen im Markt reagierte, da die benötigten Daten per Datenträger an die Zentrale geschickt und manuell eingegeben werden mußten. Weitere Data-Mart-Projekte befinden sich derzeit in der Planungs- beziehungsweise Realisierungsphase. Ein Schwerpunkt dabei ist die Analyse der verwendeten Fluggeräte mit dem Ziel des optimierten Einsatzes.

Nach einer Evaluierungsphase entschloß sich die Lufthansa, das Data-Warehouse mit Orlando II von SAS Institute als Mainline-Produkt zu realisieren. Ausschlaggebend war neben der Performance die Benutzeroberfläche, die jeder Mitarbeiter, unabhängig von der Plattform, auf der er arbeitet, einsetzen kann. Die Auswertungen können auch auf Vorstandsebene eingesetzt werden.

Ohne Offenheit und Performance geht nichts

Nicht zuletzt benötigte die Lufthansa auch eine Software, die plattformübergreifend auf heterogene DV-Systeme zugreifen kann. So wurden in der ersten Stufe von Marwin drei Datenquellen aus unterschiedlichen Systemen integriert:

- Ertrags-Management mit Daten über Buchungen, Kapazitäten, Buchungsprognosen, Flugpläne etc. stehen in verschiedenen DB/2-Tabellen auf einem IBM-Mainframe zur Verfügung.

- Pricing mit Daten über Tarife und Preise (Lufthansa und Mitbewerber), Wechselkurse und Preiselastizität befinden sich in einer Oracle-Datenbank auf einem Unix-Server.

- Marketing mit Daten über Agentennachfrage nach Lufthansa- beziehungsweise Mitbewerberangeboten, Marktvolumen (Agentenverkäufe) oder Marktanteile. Weitere Datenquellen werden mit der funktionalen Erweiterung von Marwin nach und nach eingebunden.

Bei der Implementierung entschied sich die Lufthansa, gemäß der "think big, start small"-Philosophie vorzugehen. Den Weg, keine unternehmensweite Big-Bang-Lösung zu wählen, wurde dabei bewußt gegangen. Anstatt gleich ein unternehmensweites Data-Warehouse für 50 000 Mitarbeiter aufzubauen, entschied man sich dafür, Data-Mart um Data-Mart aufzubauen. Ziel ist es, zielgruppenspezifische Data-Marts zu generieren und die Anwendungen sehr schnell den Usern zur Verfügung zu stellen. So konnten bereits im September 1996 - nach nur 60 Tagen - die ersten Anwender mit Marwin arbeiten, während die zuständige Projektgruppe die Anwendung parallel weiterentwickelte und dabei die Verbesserungsvorschläge nach und nach mit berücksichtigte.

Der modulare Aufbau macht es möglich, die einzelnen Data-Marts in ihren endgültigen Ausbaustufen unter einer Oberfläche zusammenzuführen und in eine unternehmensweite Data-Warehouse-Lösung zu integrieren. Dieses Vorgehen macht den Aufbau eines Data-Warehouse zu einem überschaubaren Projekt. So können Erfahrungen aus der ersten Implementierung für Nachfolgeprojekte verwendet werden..

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Buchstäblich wettbewerbsentscheidend soll der Einsatz des Tools "Marwin" auf der Basis von Data-Marts für die Lufthansa werden. Wettbewerberbeobachtung und Abstimmung der Tarifierung auf Kundenbedürfnisse und Markt sollten mehr Effizienz und Präzision bekommen. Marwin verschafft dem Unternehmen jetzt eine ganzheitliche Sicht des Marktes und endlich "one version of the truth".

*Michael Wöhler leitete Redesign Ertrags-Management bei der Deutschen Lufthansa AG in Frankfurt und ist derzeit als Business Consultant bei der Lufthansa Systems GmbHtätig.