Infrastruktur auf Warenstrom ungenügend vorbereitet

Logistikkonzepte für Europa - Restrukturierung ist nun gefragt

25.12.1992

Die in wenigen Tagen in Kraft tretenden Maßnahmen zur Vereinheitlichung des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden nicht nur den Marktzugang in den einzelnen Ländern erleichtern, sondern auch schwierige Management-Fragen aufwerfen. Hans-Dieter Lochmann* befaßt sich mit den Anforderungen, die in den Unternehmen auf die Logistik-Verantwortlichen zukommen.

Einer der wichtigsten Aspekte bei der Organisation des europäischen Binnenmarktes ist für viele Unternehmen die Logistik des Warenverkehrs. Andersen Consulting geht davon aus, daß ein gesamteuropäisches Logistikkonzept das bei weitem größte Kostensenkungspotential für Unternehmen überhaupt bietet - sofern die Logistikfunktion ganzheitlich betrachtet und umfassend restrukturiert wird. Dabei gilt es allerdings, eine ganze Reihe von Hürden zu nehmen.

Durch das Zusammenwachsen Europas wird die Geschwindigkeit, mit der Waren zum Kunden gelangen, immer wichtiger. Mit der Umsetzung europäischer Vertriebs- und Marketingkonzepte gewinnt die europaweite Warenverfügbarkeit für Unternehmen zunehmend an Bedeutung (vgl. Abbildung 1).

Transportinfrastruktur als kritischer Faktor

Die derzeitige Transportinfrastruktur - insbesondere das Straßennetz - ist auf den steigenden Warenstrom indes nur ungenügend vorbereitet. Obgleich sich die Transitzeiten nach dem Wegfall der Grenzkontrollen verkürzen, wird die mangelhafte Transportinfrastruktur für viele Unternehmen zu einem kritischen Faktor für die rasche und pünktliche Lieferung in den 90er Jahren.

Die meisten Großprojekte zur Lösung von Infrastrukturproblemen werden erst im 21. Jahrhundert fertiggestellt sein. Vorhaben, die früher abgeschlossen sein sollen, wie etwa der Kanaltunnel zwischen England und Frankreich, werden vergleichsweise geringe Auswirkungen haben. Während die EG-Behörden eine Verlagerung der Güterströme auf die Schiene und die Binnenschiffahrt anstreben, gehen Logistikexperten von einer weiterhin dominanten Rolle des Transports über die Straße zumindest noch für dieses Jahrzehnt aus. Er wird sich in den europäischen Logistikstrategien vieler Unternehmen als kritischer Faktor erweisen.

Einen zweiten, für die europäische Logistik nicht minder wichtigen Faktor stellt die Umweltproblematik dar. In vielen europäischen Staaten, allen voran Deutschland und Skandinavien, hat sich in den letzten Jahren eine strikte Umweltschutzgesetzgebung entwickelt. Diese verfolgt unterschiedliche Ziele wie Recycling, Rücknahme verbrauchter Produkte und Rücknahme von Verpackungen und Transportpaletten.

Die aufzubauende Rücknahme-Pipeline wirft für die Logistikstrategen völlig neue Fragen auf. Vor diesem Hintergrund ist eine Steigerung der Transportkosten durch die geschlossene Logistikkette in Europa in etwa drei bis vier Jahren absehbar.

Die Deregulierung der internationalen Frachtmärkte und der Inlandsbeförderung in Europa wird zwar zunächst zu einer Verbesserung der Effizienz und der Produktivität der Transportwege führen und damit eine Stabilisierung oder gar einen Rückgang der Kosten und Preise in den nächsten zwei bis drei Jahren verursachen.

Danach jedoch erwarten Experten ein Ansteigen der Transportkosten um bis zu 15 Prozent. Als Hauptursachen hierfür sind höhere Steuern und Abgaben aufgrund restriktiverer Umweltschutzbestimmungen sowie zur Finanzierung der erforderlichen Infrastrukturmaßnahmen, insbesondere im Straßennetz, zu sehen.

Kriterien für die Auswahl

Die Wahl der für das jeweilige Unternehmen optimalen Logistikstrategie ist aus all diesen Gründen um ein Vielfaches schwerer geworden. Die Entscheidung muß Fragen nach den Standorten von Fertigungsstätten und Warenlagern, nach der besten Verteilung von Vorräten über geographisch getrennte Produktionsstätten hinweg und nach den besten Transportwegen beantworten (vgl. Abbildung 2). Zwar führt die Restrukturierung von Logistiknetzwerken oftmals zu einer Verringerung von Fertigungs- und Lagerstandorten, gleichzeitig nimmt jedoch die Komplexität der Gesamtaufgabe aufgrund steigender Transporte zu. Dennoch gibt es keinen Zweifel, daß die wohlüberlegte Realisierung europaweiter Logistikstrategien für die Unternehmen erhebliche Einsparungen mit sich bringen kann. Teilweise gehen die Logistikkosten einschließlich Transport und Lagerung um bis zu 40 oder 50 Prozent zurück. So erwartet beispielsweise ein internationaler Computerhersteller eine Reduzierung der Kosten unter Einbezug von Warenlager und Transport um 40 bis 50 Millionen Dollar in den nächsten zwei Jahren.

Ferner eröffnet die Integration Europas endlich auch die Möglichkeit zur Einführung moderner europaweiter Informationssysteme (IS). Investitionen in große IS-Projekte etwa in den Bereichen Auftrags- und Nachfrage-Management können jetzt auf einen deutlich größeren Markt verteilt werden, so daß der Einsatz modernerer und intelligenterer Technologien wirtschaftlich wird. Gleiches gilt beispielsweise für Lagerhaltungs- und Transportsysteme. Hierbei ist es ein lohnendes Ziel, Informationsverarbeitung einzusetzen, um eine engere logistische Verzahnung zu erreichen und dadurch die Lagerbestände zu reduzieren. Insbesondere angesichts des hohen Zinsniveaus in Europa ist die Verringerung der Lagerbestände für viele Unternehmen lukrativ.

Die Ziele sind lohnend, die Möglichkeiten vielfältig - in dieser Situation sind umfassende Management-Entscheidungen zu treffen. Logistik-Management stellt heute einen wesentlichen Faktor in bezug auf Kundenorientierung und Kosteneffizienz dar, so daß es zunehmend von Vorstands- beziehungsweise Geschäftsleitungsebene gesteuert wird. Das ist auch notwendig, da der unternehmensweite Ansatz im Gegensatz zum abteilungsbezogenen Blickwinkel einen erfolgskritischen Faktor darstellt. So sind beispielsweise die sorgfältige Segmentierung der Zielmärkte ebenso wie die Festlegung der geeigneten Organisationsstruktur Aufgaben für die Führungsspitze. Gleiches gilt für die Bewertung der verschiedenen Investitionsalternativen und die Festlegung der notwendigen Fertigungsprozesse sowie Transport- und Distributionskonzepte. Grundlegende Outsourcing-Fragen sind ebenso wie Aspekte des Umweltschutzes Themen für das Top-Management.

Den vielleicht wichtigsten Erfolgsfaktor stellt indes das Change Management dar. Bei ihm werden Mitarbeiter in den Wandel einbezogen sowie für die neuen Aufgaben motiviert und geschult. Diese menschliche Komponente verbindet die strategischen, organisatorischen und technologischen Aspekte.

Vielleicht am schlechtesten auf die logistische Zukunft vorbereitet sind viele Unternehmen im Bereich Informationsverarbeitung. Zwar gibt es überall einzelne leistungsfähige Systeme, jedoch läßt ihre Integration - insbesondere auch über Landesgrenzen hinweg - fast durchweg zu wünschen übrig. Die Inkompatibilitäten sind oftmals klein im Ausmaß, jedoch groß in den Auswirkungen. Ein typisches Beispiel hierfür stellen unterschiedliche Schemata für die Erfassung von Kunden- und Produktdaten in verschiedenen Ländern dar. Marktdaten werden selten so erfaßt, daß sie länderübergreifend vergleichbar sind. Konsequenterweise ist der Austausch operationaler Daten zwischen den Ländern bei vielen Unternehmen auf Ausnahmen beschränkt.

Künftige Informationssysteme, die die Unternehmen für europaweite Logistikkonzepte benötigen, gehen somit weit über herkömmliche Prognose-, Lagerhaltungs- und MRP-Systeme hinaus. Ein typisches Beispiel stellen Auftrags-Management-Systeme dar. Um den Anforderungen der Zukunft zu genügen, müssen sie in der Lage sein, verbindliche Liefertermine aufgrund von Daten der gesamten logistischen Kette von der Fertigung bis zur Auslieferung zu nennen. Der Warenfluß muß kundenspezifisch durch die gesamte Pipeline hindurch nachzuverfolgen sein. Ein typisches Leistungsmerkmal dieser neuen Systeme stellt auch die frühzeitige Alarmierung der Vertriebsmannschaft dar, wenn sich Lieferschwierigkeiten abzeichnen.

Der Schlüssel zum logistischen Erfolg liegt jedoch nicht einfach in der Installation moderner Informationssysteme. Vielmehr gilt es, die Möglichkeiten der Informationstechnologie im Rahmen eines unternehmensweiten Konzepts gezielt zu nutzen. Es ist empfehlenswert, die Potentiale durch eine umfassende Restrukturierung der Geschäftsabläufe zu erschließen.

Kein marginales Herumkorrigieren

Dabei müssen die Leistungsfaktoren Mitarbeiter, Abläufe und Technologie vollständig auf die Unternehmensstrategie ausgerichtet werden. Eine umfassende Restrukturierung ist für die meisten Unternehmen und Organisationen ein komplexes Vorhaben, das die Substanz berührt. Wichtig ist, die bisherige Geschäftsabwicklung kritisch zu betrachten und für fundamentale Änderungen bereit zu sein. Marginales Herumkorrigieren kann keine durchschlagenden Verbesserungen bringen.

Das gilt auch für die technologische Seite. Unternehmen, die den rasanten Fortschritt in der Informationstechnologie nicht ausreichend nutzen, werden sich bald am Rande ihres Marktes wiederfinden. Durch den überproportionalen Preisverfall bei kleineren Hardwareeinheiten ist die Rechenleistung in MIPS auf einer Workstation heute bereits rund 250mal preisgünstiger als auf einem Großcomputer. Das Marktforschungsunternehmen Gartner Group geht davon aus, daß sich das Verhältnis MIPS/Dollar bis zum Jahr 2000 auf den Faktor 700 zugunsten der Workstation weiter verlagern wird. Für Unternehmen und Organisationen entsteht dadurch ein ökonomischer Zwang, ihre Informationsverarbeitung auf neue, kleinere und offene Plattformen zu portieren.

Hinzu kommt die Hinwendung zu Client-Server-Architekturen. Die Grundüberlegung dabei ist, Verarbeitungsleistung lokal einzusetzen, um die Mensch-Maschine-Kommunikation zu verbessern und eine verteilte Datenhaltung zu ermöglichen. Dadurch können Benutzergruppen für die Arbeit am Computer gewonnen werden, die bisher aufgrund mangelnder Akzeptanz einfach nicht berücksichtigt wurden.

Darüber hinaus wird es möglich sein, auch weniger qualifizierte Mitarbeiter so stark, zu unterstützen, daß Kontrollaufgaben, die bei der traditionellen Abwicklung nötig waren, entfallen. Umgekehrt profitieren in zunehmendem Maße auch hochqualifizierte Mitarbeiter von intelligenten Arbeitsplätzen. So kann beispielsweise die Disposition von Lieferungen am Bildschirm-Arbeitsplatz dezentral vorgenommen werden. Dabei helfen komfortablere Eingabemöglichkeiten, die Akzeptanzschwelle zu überwinden.

Der Endbenutzer kann effizienter, kompetenter und umfassender bedient werden. Im übrigen lassen sich praktisch nur mit Client-Server-Modellen europaweit integrierte Informationssysteme aufbauen. Gerade für die länderübergreifende Kommunikation kommt der Nutzung standardisierter Schnittstellen eine herausragende Bedeutung zu.

Voraussetzung für die erfolgreiche Realisierung europäischer Client-Server-Verarbeitungssysteme im Logistikbereich, aber nicht nur dort, ist die Entwicklung unternehmensweiter Datenmodelle. Solange Unternehmen mit verteilten Datenbestäden arbeiten, bei denen die zeitaktuelle Integrität nicht gewährleistet ist, sind länderübergreifende IT-Lösungen nicht zu realisieren. Die technologischen Grundlagen für die europaweite Datenhaltung bei jederzeitiger Sicherung der Datenintegrität stehen heute in Form moderner verteilter Datenbanksysteme, zur Verfügung. Es liegt jetzt bei den Unternehmen, ihre Informationssysteme soweit umzustellen, daß ein einziges Repository die Kontrollfunktion für alle Datenbestände innehat - gegebenenfalls in Form eines Meta-Repository. Die Meta-Implementierung ist besonders geeignet, wenn die bislang getätigten IT-Investitionen geschützt werden sollen, was zumeist eine generelle Forderung darstellt, die bei allen Maßnahmen zu berücksichtigen ist.

Nutzung von Objekttechnologie

Ist die länderübergreifende Datenintegrität gewährleistet und steht ein unternehmensweites Datenmodell zur Verfügung, besteht der nächste Schritt in der Anpassung der Applikationen. Bevor neue Anwendungen in größerem Umfang eingesetzt werden, sollten zunächst einmal die bestehenden Anwendungen in eine Vorgehensweise wie etwa Method/1 eingefunden werden.

Dies ist die einzige Möglichkeit, existierende Applikationen wartbar und weiterentwickelbar zu machen. Method/1 als Bestandteil der integrierten CASE-Umgebung Foundation ist eine computergestützte Vorgehensweise, die Projekt-Management und Systemdesigner Schritt für Schritt durch die Systementwicklung führt. Bei vernetzten Umgebungen, bei denen auch Kunden - zum Beispiel ein Händlernetz - und Lieferanten elektronisch eingebunden sind, ist auch auf den Investitionsschutz dieser Gruppen zu achten. Das kann beispielsweise bedeuten, daß die bisherigen Applikationen zwar mit einer zusätzlichen grafischen Oberfläche versehen werden, jedoch auch weiterhin mit herkömmlichen zeichenorientierten Terminals bedienbar bleiben. Voraussetzung für diese Verbindung über unterschiedliche Technologiegenerationen hinweg, die typisch ist für die IT-Fortentwicklung in Großunternehmen, ist eine darauf ausgerichtete Anwendungsarchitektur. Die beste Vorgehensweise, um die damit verbundenen Softwareprobleme in den Griff zu bekommen, besteht in der Nutzung von Objekttechnologie soweit irgend möglich.

Leicht zeitversetzt zur Fortentwicklung bestehender Anwendungen findet zumeist die Entwicklung neuer Applikationen statt. Diese sollten konsequent auf neuen Technologien aufbauen, soweit sich hieraus Vorteile ergeben. Ein typisches Beispiel hierfür stellt der Einsatz von Funkterminals und Funknetzwerken in Lagerhäusern dar, um der Problematik sich bewegender Fahrzeuge und Personen Rechnung zu tragen. Mittels Funk läßt sich die zeitaktuelle Datenintegrität des Gesamtlagerbestandes gewährleisten, da die - teilweise automatischen - Eingaben von den Fahrzeugen und Terminals direkt in die zentrale Datenbank übernommen werden können. Für die gesamte Lagerdisposition, bietet sich heute der Einsatz von Expertensystemen an. Es ist abzusehen, daß Fuzzy-Logic-Systeme in Kürze in diesem Bereich zur Anwendung kommen werden.

Wie die Beispiele zeigen, fordert der Wandel auf der Markt- und Technologieseite fundamentale Antworten heraus, die bewährte Geschäftspraktiken und Technologieplattformen in Frage stellen. Dabei gilt es, und das erschwert die Aufgabe erheblich, bestehende Investitionen der in der Logistikkette beteiligten Partner so weit wie möglich zu schützen.

Langfristig werden in Europa - und nicht nur dort - nur Unternehmen und Organisationen erfolgreich sein, die sich dieser Herausforderung mit einer umfassenden Restrukturierung stellen.