Linux-Migration rettet Eigenentwicklung

14.10.2005
Von Nina Borgner 
Mann Mobilia stellt seine Individualentwicklung funktionsidentisch um.

Das Thema Kostensenkung in der IT drängt die Unternehmen zum Handeln. Doch für gravierende Änderungen fehlt vielen der Mut - auch wenn sie dadurch viel Geld sparen könnten. Noch immer stehen in deutschen Unternehmen Hunderte, wenn nicht Tausende von Großrechnern. Sie haben lange Zeit sehr gut funktioniert, dabei aber gewaltige Kosten verursacht.

Projeksteckbrief

Projektart: Funktionsidentische Migration der Warenwirtschaft von OS/390 auf Linux.

Branche: Handel, Einrichtungshaus.

Zeitrahmen: Von Februar 2004 bis Mai 2005.

Stand heute: Läuft produktiv.

Produkte: Automatisches Migrationswerkzeug "Rulaman" von Travert, Suse Linux.

Dienstleister: Travert GmbH.

Ergebnis: Jährliche Einsparungen von 442 000 Euro.

Herausforderung: Hardware und Linux-System mussten während des Projekts ausgetauscht werden.

Hier lesen Sie …

• was Mann Mobilia zur Umstellung auf Linux bewogen hat;

• weshalb sich das Unternehmen nicht von seiner Warenwirtschaft trennen wollte;

• was der Projektleiter von Standardsoftware hält;

• wo der CIO die Technik dem Menschen vorzieht;

• wodurch das Vorhaben aus dem Tritt geriet.

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*61815: Eine Linux-Migration will vorbereitet sein.

Das Karlsruher Einrichtungshaus Mann Mobilia wollte das nicht mehr hinnehmen. DV-Leiter Werner Henschel und Ralf Brauer, Leiter der Anwendungsentwicklung, haben es gewagt, sich von ihrem Großrechner zu verabschieden und auf ein Linux-System zu migrieren. Die- ser Wagemut hat sich für das Unternehmen ausgezahlt: Durch die Umstellung konnte es seine jährlichen DV-Ausgaben um 442000 Euro senken.

Als Geschäftsführung und DV-Leitung 2001 das Projekt "Senkung der Betriebskosten" aufsetzten, war noch längst nicht klar, wie es realisiert werden sollte. Das Einzelhandelsunternehmen bildete seine Bereiche Hauptverwaltung, Zentrallager und Filialen in einer klassischen Mainframe-Umgebung ab: Dazu gehörten 800 Bildschirmarbeitsplätze und ein zentraler, stark automatisierter RZ-Betrieb. Auf dem alten Großrechner des Typs IBM 9672 lief das Betriebssystem OS/390.

In der Warenwirtschaft und Teilen des Rechnungswesens nutzte Mann Mobilia ein selbst entwickeltes und auf den individuellen Bedarf optimal abgestimmtes Warenwirtschaftssystem (WWS). "Unsere Fachabteilungen waren verwöhnt durch ein stabiles System, das äußerst effizient arbeitete und zudem ein hohes Maß an Sicherheit bot", erläutert DV-Leiter Henschel. Das System hatte jedoch einen Makel: Die Betriebskosten waren viel zu hoch, die Plattform zu teuer. Allein die Lizenzgebühren für die notwendige Betriebssystem-Software lagen 2001 bei einer Million Mark im Jahr - Tendenz steigend!

Neu kaufen oder umstellen?

Abhilfe versprach das quelloffene Betriebssystem Linux. Es sollte den Wechsel auf eine preisgünstigere Hard- und Softwareplattform ermöglichen, was andererseits einen tiefen Eingriff in die Systemarchitektur darstellte. Nicht gerade erleichtert wurde das Unterfangen dadurch, dass das maßgeschneiderte WWS unbedingt erhalten bleiben sollte. Diesen Entschluss hat sich das mittelständische Familienunternehmen, das im Juli 2005 von der österreichischen Unternehmensgruppe XXXLutz übernommen wurde, keineswegs leicht gemacht. Selbstverständlich dachte man auch daran, eine neue Standardsoftware zu kaufen. SAP R/3 fiel jedoch wegen viel zu hoher Kosten schnell aus dem Rennen. Dann wurde der Markt untersucht: Wo gab es eine Software, die speziell für den Möbelbereich einsetzbar war? Parallel dazu entstand die Überlegung: Was kostet es uns eigentlich, die vorhandene Applikation zu migrieren?

Warum diese Option soviel Charme hatte, erläutert Anwendungsexperte Brauer: "Das System bietet optimale Unterstützung der Abläufe durch angepasste DV-Funktionalität, Unabhängigkeit von externen Anbietern und Beratern, schnelle Reaktionsfähigkeit bei neuen Anforderungen und Problemen, flexible Schnittstellen-Anbindung von Subsystemen und hohe Akzeptanz bei den Anwendern." In einem Satz: Die Software ist für das Unternehmen ein klarer Wettbewerbsvorteil.

Wider die funktionale Diktatur

Darüber hinaus ist der Chef-Anwendungsentwickler naturgemäß kein Verfechter der Software von der Stange. Vielmehr sagt er mit Überzeugung: "Die Entscheidung für eine Standardsoftware entsteht oft aus reiner Feigheit." Wer zum selben Ergebnis komme wie alle anderen, der mache sich nun einmal nicht angreifbar - "auch wenn zeitlicher Projektverlauf, tatsächliche Kosten und realisierte Ergebnisse in vielen Projekten eine andere Sprache sprechen". In Brauers Augen hat die Individualentwicklung gegenüber der Software von der Stange einen entscheidenden Vorteil: "Wir müssen uns nicht der funktionalen Diktatur der Standardsoftware beugen."

Es sollte also migriert werden. Eine Bestandsaufnahme verdeutlichte die Komplexität der Aufgabe: Sie förderte unter anderem 1225 Dialog- und 1045 Batchprogramme zutage - alle in Cobol geschrieben - sowie 2656 Copybooks, 556 Siron-Programme, 672 VSAM-Dateien und 150 Datenbanktabellen. Für die Migration selbst lagen mehrere Angebote vor - darunter das eines großen Dienstleisters, der die Daten seiner Kunden in Indien per Hand umstellen lässt. DV-Leiter Henschel verwarf diese Option kategorisch als "viel zu teuer". Unabhängig vom Preis lehnt er eine manuelle Umstellung per se ab, wegen der "unkalkulierbaren Risiken, die kein Unternehmen eingehen sollte - egal, was der Anbieter verspricht".

Werksvertrag mit Festpreis

Stattdessen entschied sich Mann Mobilia für ein Angebot der Travert GmbH. Das in Frankfurt an der Oder ansässige Unternehmen offerierte eine Migration zum Festpreis auf Werkvertragsbasis. Die Kosten waren nicht nur niedriger als bei den Mitbewerbern, sondern vor allem kalkulierbar.

Aber Henschels Entscheidung muss auch im Zusammenhang mit seiner Abneigung gegen eine manuelle Migration gesehen werden. Denn Travert versprach eine automatisierte Umstellung des WWS - mit Hilfe des eigenen Produkts "Rulaman". Dazu der Mann-Mobilia-CIO: "Wenn ich tausend Programme durch den Konverter laufen lasse, weiß ich, wie sie hinterher aussehen, aber was ist, wenn ich 1000 Menschen daran lasse?"

Henschel und Brauer waren sich ihrer Sache sicher. Den Zuschlag erhielt Travert erst, nachdem sie einen Proof of Concept mit Anwendungen der Kernprozesse vorgenommen hatten. "Dabei haben wir gesehen, dass der Programmcode nach der Konversion genauso aussieht wie vorher", so die beiden DV-Spezialisten. Sie nahmen auch in Kauf, dass trotz der weitgehend maschinellen Umstellung noch manueller Aufwand verbleiben würde - vor allem im Testbereich und in der RZ-Automatisierung.

Billige Hardware schlägt teure

Im Februar 2004 fiel der Startschuss für die Umstellung auf z/Linux, im folgenden August begann das Migrationsteam mit den Integrationstests. Die eigentliche Übertragung war also bereits abgeschlossen, als im Oktober plötzlich Probleme auftauchten.

Travert-Gründer und -Chef Ernst Schierholz erinnert sich: "Bei den Umstellungsarbeiten stellten wir fest, dass die neue z/800, die das Unternehmen gerade für eine sechsstellige Summe gekauft hatte, unter z/Linux keine Leistung brachte." Sobald sich mehrere Linux-Systeme den Prozessor teilen mussten, knickte die Rechnerleistung ein. "Schon beim dritten User hat die Maschine gestreikt", bestätigt Henschel.

Für dieses Malheur konnte der CIO keine Verantwortung übernehmen: "Wir hatten zwar die technische Machbarkeit geprüft, aber ob die Rechnerleistung ausreichen würde, konnten wir vorab nicht testen", erläutert er, "hier mussten wir uns auf die Berechnungen der Hardwarelieferanten verlassen, die unser System und das Transaktionsvolumen kannten."

Raus aus dem Teufelskreis

Die Probleme mit der Maschine warfen den bis dahin straffen Projektplan um: Noch im Dezember entschied das Team, die IBM-Hardware mit z/Linux einzutauschen - gegen eine Intel-basierende Maschine mit Suse Linux. Auf diesem System wurden die Programme zum Laufen gebracht. Heute ersetzt ein handelsüblicher Server für 5000 Euro den ehemaligen Großrechner. Im Februar 2005 begannen die neuen Integrationstest, und im Mai wurde die Produktion aufgenommen.

Für Henschel und Brauer hat sich die Risikobereitschaft gelohnt. Sie sind aus dem Teufelskreis ausgebrochen, in dem sich viele IT-Leiter heute noch bewegen: Großrechnerprobleme werden mit dem Kauf eines neuen Großrechners gelöst, Probleme der Großrechnersoftware mit dem Kauf neuer Großrechnersoftware. Dass bei der Umstellung auf Linux die funktionsoptimierte Anwendungssoftware erhalten blieb, ist für das Unternehmen ein Glücksfall.

Der User merkt nichts

Die rund 1400 Mitarbeiter des Einrichtungshauses haben die Migration kaum bemerkt. "Sie haben am Morgen nach der Scharfschaltung ihren Bildschirm eingeschaltet, einmal ihre IP-Adresse neu eingegeben - und das war’s", konstatiert Henschel, "für den Benutzer sieht das System eins zu eins so aus wie vorher." (qua)