Leserbriefe/Noch viel zu tun

11.08.1995

Betrifft den Beitrag von Christian Helfrich in CW Nr. 27 vom 7. Juli 1995, Seite 13: "R/3 in der Kritik - Paradigma der Integration behindert Anwender"

Der CW-Redaktion und dem Autor herzlichen Dank fuer den intelligenten und anregenden Artikel. Ausgehend von diesem Beitrag moechte ich auf den direkten Zusammenhang zwischen Integration und Komplexitaet hinweisen.

Komplexitaet und die sie erzeugende Integration verursachen Kosten. Letztendlich werden die Komplexitaetskosten in der Summe den gesamten Integrationsnutzen uebersteigen. Die in unseren Informationssystemen aufgetuermten Datengebirge fuehren nicht mehr zu hoeherer Entscheidungsqualitaet, sondern fast schon zu Entscheidungsunfaehigkeit. Die funktionale Maechtigkeit bekannter Standardsoftware ist fuer den Endbenutzer keine Erleichterung mehr, sondern eher eine Last, die seine Produktivitaet behindert. Die Entwicklungs- und Einfuehrungszeiten neuer Anwendungssysteme drohen die Nutzungsdauer zu uebersteigen. Existierende Anwendungssysteme sind nicht mehr wartbar, weil Aenderungen die Systeme in nicht vorhersehbarem Mass destabilisieren. Veraltete Anwendungen werden nicht "verschrottet", weil die Auswirkungen auf benachbarte Systeme unkalkulierbar geworden sind. Benutzer realisieren auf ihren PCs Schattenanwendungen, weil sie die vorhandenen Legacy- Systeme als ungeeignet, unverstaendlich und schwerfaellig empfinden.

Dass trotzdem die von C. Helfrich diskutierte "Flucht in die Systeme" anhaelt, ist eigentlich paradox, jedoch erklaerbar. Sie resultiert naemlich - man moege mir die Nestbeschmutzung verzeihen - aus der Illusion von IV- und Fachbereichsvertretern, man koenne durch EDV-Systeme die schwierigen organisatorischen Aufgaben der Ablauf- und Prozessgestaltung substituieren. Besonders Standardsoftware verfuehrt hier zu einem an Fahrlaessigkeit grenzenden Optimismus.

Wir sollten auf der Anwenderseite endlich beginnen, Computerprogramme als Maschinen zu betrachten, die ingenieurmaessig eingesetzt und betrieben werden. Das gilt auch und gerade fuer Standardsoftware. Es geht naemlich in der Praxis nicht darum, die IV zu perfektionieren, sondern in den Organisationen die Prozesse ganzheitlich zu optimieren. Softwaremaschinen koennen dabei eine wertvolle Hilfe sein. Sie ersetzen jedoch weder die fachliche Konzeption noch die organisatorische Gestaltung der Prozesse. Dies sind ureigene Aufgaben des verantwortlichen Prozess-Managers und nicht delegierbar. Die IV-Experten sind hierbei (beratende) Fachingenieure und Dienstleister.

Wenn man nun davon ausgeht, dass die Unterstuetzung der Prozessoptimierung wesentliche Aufgabe von IV-Systemen ist, erklaert sich die von C. Helfrich (zu Recht) angeprangerte Behinderung der Anwender durch ueberzogene Integration folgendermassen. Prozesse muessen dynamisch, das heisst zeitraumbezogen optimiert werden. Bei der Implementierung herkoemmlicher, hochintegrierter Anwendungssysteme wird jedoch eher statisch, also zeitpunktbezogen optimiert. Durch die Komplexitaet dieser Systeme werden spaetere Nachbesserungen erschwert, tendenziell sogar verhindert. Fuer die Praxis heisst das, dass wir uns vom hochintegrierten "Dinosaurier" verabschieden sollten und zu modularen und offenen (!) Anwendungen in der Form von flexibel kombinier- und austauschbaren "Baukasten"-Systemen gelangen muessen. Auf diesem Weg ist noch viel zu tun.

Dr. Martin Kuetz, 65779 Kelkheim