Unternehmen benötigen den Integrationsfachmann

Leiter Fertigungsanwendungen IBM Deutschland GmbH, Industrie und Technik, Hannover

03.11.1989

Der Integrationsfachmann soll CIM einführen, "Computer Integrated Manufacturing". Für sehr viele Unternehmen ist CIM gleichbedeutend mit ICM, "Integrate Computer in Manufacturing", also einfach gesagt, setze im Fertigungsbetrieb Computer ein. Und so ist dann die Aufgabe des Integrationsfachmannes einfach beschrieben.

Er ist ein Informatiker, der nun statt einer Anwendung zur optimalen Auswertung der Personalstatistik eine Anwendung zur Bereitstellung von NC-Daten für flexible Fertigungssysteme schreibt. Denn mehr sei CIM ja nicht. Was heute mit der Hand, dem Lochstreifen und dem Bleistift gemacht wird, erledigt morgen der Roboter, das LAN und der Drucker. Wäre diese Auslegung der Aufgabenstellung richtig, ständen wir wieder einmal vor dem Problem, nicht ausreichend Informatiker für die Industrie zu finden. Aber zumindest wäre kein neues Problem entstanden.

Oder doch. Ein Beispiel aus der Praxis zum Nachdenken: Bei der vorher geschilderten Tätigkeit des Integrationsinformatikers wäre mit Sicherheit auch der bisher von zirka 28 Funktionen im Unternehmen bearbeitete Reklamationsvorgang programmtechnisch optimiert in Software gegossen worden. Die von den Kunden bisher immer bemängelte Bearbeitungszeit einer Reklamation von zirka 28 mal 1,5 = 42 Arbeitstagen, unter Vernachlässigung der bisweilen irgendwo zwischen den 28 Funktionen verloren gehenden Vorgänge, würde sich drastisch auf zirka 28 mal 0,75 = 21 Arbeitstage reduzieren lassen: 50 Prozent Reduzierung! Wirtschaftlichkeitsrechnung für den Controller ist dann nur noch Formalismus.

Dieses Beispiel beinhaltet nur einen kleinen, wenn auch entscheidenden Feiner.

Von den an der Reklamation beteiligten 28 Funktionen waren nach einer Analyse des Geschäftsprozesses "Reklamation" und der Neudefinition eines optimierten Ablaufes 21 nicht mehr am Prozeß beteiligt. Sie waren durch, in den meisten Fällen nicht mehr nachvollziehbare, historische Zuständigkeiten am Prozeß beteiligt. Und dienten nicht zur Wertschöpfung, sondern ausschließlich zur Verlängerung der Bearbeitungszeit. Dieses praktische Beispiel zeigt für mich den eigentlichen Beginn der Arbeit des Integrationsfachmannes.

Seine Aufgabe darf es nicht sein, bestehende Verfahren in einem Unternehmen durch Software miteinander zu verbinden und Prozesse in Software abzubilden. Seine Aufgabe ist es vielmehr, die Prozesse eines Unternehmens zu verstehen, zu optimieren und dann erst mit den geeigneten Hilfsmitteln von Hardware und Software als CIM System zu verwirklichen. Diese Auslegung beinhaltet auch die Aufgabe für die Unternehmensleitung, Ziele und Strategie zu definieren.

Ohne diese ist der Integrationsfachmann bei der Optimierung der Prozesse aussichtslos den Strömungen der einzelnen Beteiligten ausgeliefert. Hier wird CIM also eindeutig zur Managementaufgabe. Das Anforderungsprofil des Integrationsfachmannes spiegelt die Aufgabenstellung wider. Er ist zum Beispiel der informatikorientierte Konstrukteur.

Für ihn ist nicht allein die Erledigung der Konstruktionsaufgabe Kriterium bei der Auswahl des CAD-Systems, sondern auch die Integrationsfähigkeit des Systems als Grundlage für die Zusammenarbeit mit den Produktionsfunktionen bei der Erstellung von Stücklisten, NC-Programmen und fertigungsgerechten Konstruktionen. Auf der anderen Seite ist er in der Lage, den Einsatz von Datenbanken als Wissensbasis für die durch wachsende Herausforderung bestimmte Arbeit des Konstrukteurs zu beschreiben und optimal zu realisieren.

Er ist der maschinenbautechnisch bewanderte Betriebswirt. Kosten sieht er nicht mehr als die systemmäßig erfaßten, negativen Begleitumstände des Produktionsbereiches. Er sieht sie vielmehr als Meßinstrument, dessen Erfassung und Darstellung bei allen am Prozeß beteiligten wesentliches Element für die Optimierung der Vorgänge sein könnte. Als Bindeglied zwischen Produktion und Entwicklung gibt er dem Konstrukteur die Möglichkeit einer Kostenbewertung seiner Konstruktion auf der Basis aktueller Produktionskosten.

Der diesen Profilen genügende Integrationsfachmann ist das, was die mit dem CIM-Gedanken spielenden Unternehmen benötigen.

Dieser Fachmann kann bei richtig definierter Strategie und bekannten Zielen der Unternehmensleitung einen Großteil der mit CIM verbundenen Kopfschmerzen nehmen. Er ist Partner der im Unternehmen betroffenen Funktionen bei der Optimierung der Prozesse, Definition der Konzepte und deren Realisierung, immer mit dem Blick auf die vom Anwender gewünschte Problemlösung einerseits, und die Einfügung in das vom ganzen Unternehmen verfolgte Konzept andererseits. Er ist Partner der Anbieter in diesem Marktbereich mit dem Verständnis für die Belange des Unternehmens und die Möglichkeiten des vom Anbieter vorgeschlagenen Systems. Aber auch Herausforderer der Anbieter, wenn es darum geht, unabhängig von Hardware und Softwareprospekten die ganzheitliche Lösung zu verlangen.

Die Aufgabenstellung des Integrationsfachmannes ist klar, das Anforderungsprofil auch. Bleibt nur die Frage, woher bekommen wir ihn (sie)?

Und hier entsteht das eigentliche Problem. Eigentlich muß dieser Fachmann ja aus dem eigenen Betrieb kommen, um die vorhandenen Verfahren und Prozesse zu kennen und beurteilen zu können. Andererseits soll er natürlich das State-of-the-art-Wissen des Hochschulabgängers haben, um mit modernen Methoden und Verfahren die gestellten Aufgaben zu bewältigen. Beide Quellen sind bisher nicht sehr ergiebig. Die eigenen Mitarbeiter bedürfen einer intensiven Schulung in den für die Integrationsarbeit wichtigen Verfahren - nicht nur der Datenverarbeitung. Hochschul- und Fachhochschulabsolventen haben bisher nur an wenigen Universitäten die Möglichkeit, Studiengänge mit integrativem Charakter zu belegen, zum Beispiel im CIM-Labor der Universität Hannover. In beiden Fällen sind sowohl Unternehmen und Universitäten, als auch Mitarbeiter und Studenten gefordert, diese Situation möglichst schnell zu verbessern.

Ob CIM oder nicht CIM, für den modernen Industriebetrieb zeigen sich schon lange Herausforderungen an die Weiterentwicklung des internen Wissenspotentials, denen nicht durch einige wenige Managementlehrgänge begegnet werden kann.

Unternehmen und Institutionen sind gefordert, ihre Aktivitäten gemeinsam mit gleicher Zielrichtung zu strukturieren, Beispiel wieder das CIM-Labor der Universität Hannover.

Aber auch Mitarbeiter müssen Weiterbildung als Teil der Freizeitaktivitäten betrachten, um am Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig zu bleiben, Weiterbildung im eigenen Interesse.

Last but not least die Studenten: Sicher haben alle Verständnis für den enormen Drang nach guten Abschlußnoten, allerdings nicht in Fächern, die für die spätere berufliche Laufbahn nutzlos sind. Die Möglichkeit der Gestaltung von Lehrplänen, Besuch von Vorlesungen außerhalb des eigenen Studienganges und die Wahrnehmung von Praktika in Unternehmen ermöglichen auch heute dem Studenten eine gute Vorbereitung auf den Beruf des Integrationsfachmannes. Wesentlich ist auch hier die Eigeninitiative, auch wenn die gewählte Studienrichtung mehr Aufwand erfordert, als das "Studienmodell des geringsten Widerstandes". Die Stellenangebote und Aussagen der Unternehmen zeigen, daß hier hervorragende Möglichkeiten des beruflichen Einsatzes bestehen. Die wenigen ausgebildeten Integrationsfachleute sind heute bereits häufig vollkommen für Projekte auf lange Sicht ausgebucht.

Fazit: Ja, wir brauchen den Integrationsfachmann, Allerdings soll er wirklich in der Lage sein zu integrieren. Und dazu müssen alle Beteiligten noch einigen Aufwand treiben, um das gesteckte Ziel der CIM-Realität zu erreichen.