IT im Handel/Konsequenzen für die Lieferkette

Lebensmittelläden: Planen mit RFID?

08.08.2003
Der Traum vom Online-Supermarkt ist weitgehend ausgeträumt. Doch das Aufkommen der Radio Frequency Identification (RFID) nährt vielerorts die Hoffnung auf einen IT-Boom im Umfeld des Lebensmittelhandels. Auch die Zusammenarbeit in der Supply Chain steht wieder ganz oben auf der Agenda.Von Björn Eichstädt*

"Lebensmittel übers Internet", eine der scheinbar genialen Ideen der New-Economy-Ära, wurde Ende Juni 2003 vorerst zu Grabe getragen. Zu diesem Zeitpunkt stoppte mit Otto zumindest der letzte überregionale Online-Verkäufer seine Auslieferung. Die Gründe sind scheinbar einfach: "Ein Geschäftsmodell wie der Lebensmittelhandel im Internet kann im derzeitigen Umfeld nicht die nötigen Volumina erbringen", teilt Otto auf Nachfrage mit. Dabei beziehen sich die Argumente auf die üblichen Verdächtigen: Teuro, Steuererhöhungen, Arbeitslosigkeit und geringes Wirtschaftswachstum.

Nicht die Rede ist dagegen von fehlenden Infrastrukturen und technisch wenig attraktiven Modellen. Die hält Kai Schwindt, Business Unit Leader Retail and Consumer Goods bei der IDS Scheer AG, für die eigentlichen Sargträger des Online-Supermarkts: "Probleme gab es bei den frühen Ansätzen vor allem, weil Waren bei Abwesenheit des Käufers häufig mehrfach angeliefert und Kleinstmengen auf Lager gehalten werden mussten, weshalb hohe Logistikkosten entstanden." Einen Rettungsanker für den Internet-Supermarkt sieht Viktor Grinewitschus, beim Innovationszentrum "Intelligentes Haus Duisburg" als Leiter für Technologie und Produktinnovation zuständig, in den RFID-Tags, die den Lebensmittelhandel bald revolutionieren könnten: "Auf den Chips wird man künftig eine Vielzahl von Informationen speichern können, die die Einbettung des einzelnen Lebensmittels in eine ganze Servicekette ermöglichen." So halten die Betreiber des Intelligenten Hauses einen Briefkasten für denkbar, der auf Warenannahme ausgerichtet ist und mittels spezieller Leseeinheiten (Reader) die Lebensmittel erkennt, die nötige Lagertemperatur einstellt und in letzter Konsequenz irgendwann einmal auch den Kühlschrank bestückt.

Einfaches Durchschleusen von Paletten

Das sind Visionen. Die aktuellen Anwendungen tummeln sich auf abgesteckteren Spielfeldern. Etwa im Future Store von Metro, dessen Eröffnung die Diskussion um die Technik im Supermarkt vor einiger Zeit neu entfacht hat. "In diesem Modellmarkt betrachten wir bei der RFID-Technologie vor allem die Vorteile des Taggings für die Supply Chain", erzählt Christian Koch, bei SAP für das Projekt Future Store verantwortlich. So ist das Auslesen von RFIDs bei Warenein- und -ausgangskontrolle dem bisherigen Barcode weit überlegen. "Die Folie, die verschiedene Kartons auf einer Palette zusammenhält, verhinderte bisher, dass ein Barcode-Scanner zur Kontrolle der Bestückung eingesetzt werden konnte. Mit den RFIDs ist das viel einfacher. Man schiebt die Palette durch ein Gate, ähnlich der Personenkontrolle auf einem Flughafen, an dem verschiedene Leseeinheiten die Radiofrequenzsignale empfangen und registrieren. Entfernen der Folien oder gar Umpacken ist dazu nicht erforderlich."

Auch der Handel begrüßt diese Entwicklung. "In Märkten mittlerer Größe sind häufig bis zu zehn Personen nur damit beschäftigt, den Wareneingang zu überprüfen. Einfaches Durchschleusen von Paletten wäre eine erhebliche Vereinfachung", sagt Gerhard Schalla, Geschäftsführer von Globus Logistik und Service, der für die Logistik Outlets und Zentrallager der Handelsgruppe Globus verantwortlich zeichnet. Schalla veranschaulicht: "Heute steht bei der Warenerfassung jemand, der Häkchen auf Zettel macht. Bei großen Kartons funktioniert das recht schnell, aber wenn 250 verschiedene Sorten Maggi-Suppe identifiziert werden müssen, dann kostet das Zeit und ist hochgradig fehleranfällig."

Genau registrierte Bestände bedeuten höhere Warenverfügbarkeit. Bis zum einzelnen Joghurtbecher, der eine ganz individuelle Identität bekäme, könnten RFID-Tags in Zukunft eingesetzt werden und so den Kassiervorgang noch gezielter in die Bestandserfassung einbinden. Schalla: "Mit den bisherigen Scannerkassen erfasst eine Kassiererin in der Regel nur einen einzelnen Joghurtbecher beim Kauf einer ganzen Steige. Dann wird der Preis einfach mit zwölf multipliziert. Welche Geschmacksrichtung allerdings häufig nachgefragt ist und deshalb schnell im Kühlregal fehlt, kann man so nicht erkennen." Unter derartigen Mängeln leidet natürlich auch die Kundenzufriedenheit. RFID-Tags wären hier von entscheidendem Vorteil.

Unbedingt offene Standards

Die Aufbereitung der RFID-Information ist Voraussetzung für eine sinnvolle Anwendung - dafür sorgt das technologische Rückgrat. "Es ist essenziell, dass an diesem Punkt Middleware zum Einsatz kommt, die falsch oder mehrfach ausgelesene Informationen akkumuliert, bevor diese an ein Backend-System übergeben wird", ist sich Kurt Rindle, als Principal Mobile Device Enablement & Management bei IBM für das Thema RFID verantwortlich, sicher. Allerdings, so Rindle, dürfe man nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen: "Monolithische Ansätze müssen im Handelsumfeld um jeden Preis verhindert werden. IBM setzt bei der Middleware deshalb auf offene Standards wie XML und OSGI. Die daraus resultierende Integrationsmöglichkeit ermöglicht es dann, Software von SAP, aber eben auch von J.D. Edwards und ähnliche Tools einzusetzen." Denn nur wenn jeder Zulieferer in die gesamte Infrastruktur eingebunden werden kann, vermag RFID zum umfassenden Erfolg zu werden.

Auch an das IT-Management werden die RFID-Ansätze neue Anforderungen stellen. So kann die Einbindung der Funkkomponenten nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn die Hochverfügbarkeit von Wireless-Komponenten genauso garantiert ist wie die der herkömmlichen IT-Komponenten. Peter Koslowski, Consulting Manager bei Computer Associates, sieht hier das K.o.-Kriterium: "Bisherige Funktionen wie Inventarisierung, Überwachung, Softwareverteilung und Antivirenschutz müssen direkt auf mobile Geräte übertragen und für diese bereitgestellt werden. Es ist wichtig, alle neuen Technologien als Teil der IT-Infrastruktur zu begreifen. Umfassende Supply-Chain-Lösungen berücksichtigen das heute bereits in Ansätzen." Auch in dieser Hinsicht wird der Erfolg von RFID von den schwächsten Gliedern der Kette abhängen - Zusammenarbeit von Zulieferern und Abnehmern ist hier dringend geboten.

Druck auf die Zulieferer

Der Einsatz der Radiofrequenzidentifikation wird nicht nur deshalb einen weiteren Schub für den Collaboration-Gedanken zur Folge haben, ist sich Schwindt von IDS Scheer sicher: "Mit RFID wird Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment (CPFR) als Thema nochmal einen Boom erleben. RFID wird die Prozesse der Supply Chain beschleunigen und höhere Anforderungen an den Datenaustausch zwischen Zulieferern und Händlern stellen." Dies könnte die ohnehin schon große Zustimmung zu CPFR im Handel weiter stärken. Nach einer aktuellen Studie, die der Saarbrücker Spezialist für Geschäftsprozesse im Juni veröffentlichte, halten Händler viel von CPFR. So bewerten die 156 befragten Unternehmen diesen Faktor des Supply-Chain-Instruments mit durchschnittlich 6,7 von möglichen sieben Punkten. Die Hersteller von Konsumgütern kommen im Durchschnitt zwar nur auf 5,7 Punkte, doch: "Hier wird es durch RFID eine Angleichung geben. Nicht zuletzt deshalb, weil große Handelsunternehmen ihre Zulieferer zu RFID verpflichten werden", prognostiziert Schwindt.

Erste Zeichen für die Richtigkeit dieser Einschätzung hat Wal-Mart im Juni 2003 geliefert. Der Handelsriese kündigte an, dass er seine größten hundert Lieferanten bis 2005 auf RFID-Kurs bringen wird. Im Detail heißt das, "dass RFID-Chips auf Paletten und Umverpackungen aufgebracht werden", wie Tom Williams, Unternehmenssprecher von Wal-Mart, erklärt. Sinn und Zweck des Vorgehens sei es, die Einführung der Technologie zu beschleunigen. Williams: "Durch das forcierte Vorgehen versuchen wir, das Ei-Huhn-Problem zu lösen. Wenn die zur Zeit noch sehr teuren RFID-Chips billiger werden sollen, dann müssen sie in Masse eingesetzt werden." Wobei Masse nicht gleich Masse sein muss. Denn der von vielen Herstellern in der IT-Branche geäußerten Vorstellung, die Tags würden in wenigen Jahren auf jedem nur erdenklichen Produkt aufgebracht, erteilt Williams eine forsche Abfuhr: "Möglicherweise werden wir die individuellen Artikel niemals mit RFID-Tags ausstatten. Denn dafür würde man Milliarden über Milliarden Chips benötigen. Als Handelsunternehmen müssen wir aber immer die Kosten gegen die Vorteile abwägen. Die sehe ich allerdings nicht."

Der Preis der RFID-Tags ist einer der wunden Punkte in der Diskussion um die schöne neue Supermarktwelt. Denn die Kosten für die Chips, die zurzeit noch vollständig auf Silizium-Basis hergestellt werden, sind hoch. "Zwar gehen viele Marktbeobachter von Preisen um fünf Cent aus, aber ich halte Kosten unterhalb von 20 Cent für komplette Tags für vollkommen unrealistisch", so Wolfgang Clemens, der bei der Corporate Technology der Siemens AG ein Projekt zur Entwicklung von Tags auf Kunststoffbasis leitet. Dieser Ansatz scheint momentan die einzige Chance zu sein, jeden Artikel mit Tags auszustatten und so auch dem einzelnen Joghurt bei der Identitätsfindung behilflich zu sein. So ist geplant, dass polymerbasierte Tags künftig wie Tinte auf eine Trägerschicht aufgedruckt werden können. Clemens: "Mit Plastikchips können wir langfristig in den Ein-Cent-Bereich kommen. Allerdings sehe ich die Massentauglichkeit der Technologie nicht vor Ablauf der nächsten drei Jahre."

Pragmatismus hält Einzug

Auch andere Schwierigkeiten des RFID-Einsatzes wollen gemeistert sein. Die Praxis zeigt täglich neue Herausforderungen, wie SAP-Mann Koch aus dem Futurestore-Projekt berichten kann: "Zum Beispiel gibt es Reflexionen bei Flüssigkeiten oder unzulängliche Reichweiten der Tag-Antennen. Aber das sind vorübergehende Probleme, die wir in den Griff bekommen werden." Ganz so optimistisch sieht das IBM-Manager Rindle nicht: "RFID ist nicht die Lösung aller Probleme, sondern muss selektiv unter Berücksichtigung der physikalischen Beschränkungen der Technologie ausgewählt werden." So interagieren die informationstragenden elektromagnetischen Wellen mit verschiedenen Materialien. "Metalldosen auf einer Mischpalette verursachen beispielsweise Fehler beim Transport der Information. Auch ein Einkaufswagen aus Metall stellt ein Problem dar." Doch Physik allein wird den Vormarsch der neuen Technologie nicht aufhalten. Denn auch Einkaufswagen aus Plastik wären denkbar. Pragmatismus hält Einzug. Erste Erfahrungen sind gesammelt. Und wenn sich der Rauch um RFID als Boomthema verzogen hat, werden wohl auch neue Konzepte für den Supermarkt im Internet sprießen. Denn, so Grinewitschus vom Intelligenten Haus Duisburg: "Der RFID-Tag lebt von der Nutzung. Erst wenn er überall eingesetzt wird, wird das volle Spektrum der Möglichkeiten fassbar werden. Das beginnt zurzeit im Bereich teurer Medikamente und wird beim Joghurtbecher enden." (bi)

*Björn Eichstädt ist Autor in Tübingen.