Clever ausgetüftelte Strategien allein nützen wenig:

"Learning-by-doing" braucht Erfolgskontrolle

11.04.1986

Bei der Realisierung eines Software-Engineering-Modells ist es meist nicht damit getan, technische Details zu berücksichtigen. Faktoren wie Umstellung des eigenen Verhaltens oder Änderung der bisherigen Arbeitsweise spielen für den User eine mindestens ebenso entscheidende Rolle. Aus der Beratersicht setzt sich Ulrich Schulte * mit Fragen der Einführungsstrategie auseinander.

Nach der Einführung von Methoden und Werkzeugen machen die Anwender und das Management meistens enttäuschte Gesichter, wenn die vom Hersteller versprochenen beziehungsweise die vom Käufer erhofften Produktivitätssteigerungen ausbleiben. Die Frage lautet dann meist, ob die Tool-Anbieter übertriebene und unrealistische Versprechungen abgegeben haben und ob die Softwareentwickler nicht bereit sind, sich auf das geänderte Vorgehen einzustellen.

Die Antwort ist recht einfach. Software-Engineering-Modelle (SEM) sind keine Konfektionsware. Das Software-Engineering-Modell muß wie ein Maßanzug geschneidert werden.

Trotz aller Individualität sind immer die Kosten und die Realisierbarkeit zu beachten. Der Schneider setzt hierzu fertige und bewährte Schnittmuster ein. Beim Software-Engineering bilden Phasenkonzepte oder Vorgehensmodelle den praxiserprobten Grundstock (das "Schnittmuster"), aus dem kundenindividuell die erforderlichen Teile für das SE-Modell ausgesucht werden. Es wäre unsinnig, das Rad immer wieder neu zu erfinden.

Ganz wesentlich ist, daß das Software-Engineering-Modell kooperativ entsteht und in die Praxis eingeführt wird. Der DV-Bereich muß seine Vorstellungen äußern. Aufgabe des Beraters ist es, diese Wünsche kundenspezifisch umzusetzen.

Dabei sind im wesentlichen die folgenden Punkte zu beachten:

- Beratungsleistung bei der Modellierung

- Trainingsleistung bei der Schulung

- Projektunterstützung bei der Einführung

- Akzeptanzsicherung durch Kooperation und Autorität

- Verbindung von Methoden und Werkzeugen

- Hintergrundwissen bei der Beratung.

Um diese sechs Punkte für die kooperative Entwicklung und Einführung eines SEM richtig einschätzen zu können, muß die Bedeutung weiter erläutert werden.

Koordination und Steuerung des Vorgehens bei der Entwicklung eines SEM bilden neben der fachlichen Arbeit die wesentlichen Leistungen des Beraters.

In den meisten Fällen ist dem Kunden klar, daß in der Softwareentwicklung etwas geändert werden muß; oder aber angebotene Methoden und Werkzeuge scheinen interessant zu sein. Mit diesem Einstieg beginnt jedoch erst die eigentliche Arbeit. Es ist genau festzulegen, was geändert wird, welchen Umfang die Änderung hat, welche Methoden und Werkzeuge zur Verfügung stehen und welche dieser Mittel tatsächlich eingesetzt werden sollen. Zu Beginn ist vor allem zu klären, warum Änderungen in der Softwareentwicklung realisiert werden sollen und welche Erwartungen existieren. Die realistisch erreichbaren Möglichkeiten des SEM müssen offen dargestellt werden. Geeignete Einführungsstrategien sind zu schaffen, Stufenpläne zu diskutieren.

Die Einführung eines SEM darf nicht als reines Technikum gesehen werden. Neuerungen erfordern immer eine Verhaltensänderung der Betroffenen gegenüber ihrer alten Vorgehensweise. Die damit verbundenen Widerstände sind oft rein menschlich bedingt. Je mehr Änderungen das neue SEM gegenüber der bisherigen Arbeitsweise erfordert, desto wesentlicher wird Fingerspitzengefühl bei der Enführung des Konzeptes.

Erfahrene Trainer berücksichtigen bei Schulungen neben den technischen Inhalten gleichgewichtig menschliches und gruppendynamisches Verhalten. Bei Einführung eines neuen SEM hat es wenig Zweck am Ende der Schulung behaupten zu können, das Pensum geschafft zu haben. Es ist ganz wesentlich, daß die Anwender Zeit zur Verarbeitung des Stoffes erhalten. Der Schulungsinhalt muß sinnvoll geteilt und mit Freiräumen zur Reaktion der Teilnehmer aufgelockert werden. Diese Reaktionen sollten durch den Trainer geschickt aufgenommen, positiv umgesetzt und verarbeitet werden.

Neben der fachlichen Kompetenz des Trainers und seinen Fähigkeiten zur Lenkung des gruppendynamischen Verhaltens sind Präsentations- und Arbeitstechniken für den Erfolg der Schulung ebenfalls sehr wesentlich.

Ein geübter Trainer vermittelt den Schulungsstoff zur Einführung eines SEM gleichermaßen motivierend und akzeptanzfördernd. Die Zusammenarbeit mit einem Co-Trainer des Kunden hat in der Praxis zu weiterer Akzeptanzsteigerung geführt.

Mit der Konzeption, der Installation und der Schulung des SEM wird wesentliche Arbeit geleistet. Die Anwendung des SEM in der täglichen Praxis ist damit aber noch nicht sichergestellt.

Um das SEM zum Laufen zu bringen, ist am Anfang kontinuierliche Betreuung erforderlich, die im Laufe der Zeit immer mehr reduziert werden kann. Geeignete Pilotprojekte sind auszuwählen. Der Schneeball-Effekt muß gesteuert und überwacht werden. Learning-by-doing ist ein bewährtes Hilfsmittel, das aber eine Erfolgskontrolle erfordert. Die genannten Aufgaben können effektiv von einem Berater übernommen werden, da er sich hauptamtlich um sie kümmern kann. Darüber hinaus wird der Rückfluß der Erfahrungen in das SEM koordiniert und sichergestellt.

Endziel muß selbstverständlich die Autonomie der SEM-User sein. Aber diese ist nicht sofort zu erreichen, weil immer wieder Feineinstellungen und Korrekturen erforderlich sind. Auch wenn bei der Softwareentwicklung von ingenieurmäßigem Vorgehen gesprochen wird, kann eine Software-Fertigungsstraße nicht nur auf dem Reißbrett entworfen werden.

In der Praxis scheitern viele SEM an der Motivation der Mitarbeiter, die das Modell einsetzen sollen. Zur Sicherung der Akzeptanz müssen einerseits fachliche Kompetenz von außen und kundenspezifisches Wissen von innen vereinigt werden.

Der externe Berater stellt gegenüber dem Anwender die Autorität dar, die aus fachlicher Sicht weiß, welche Lösungen für das SEM am geeignetsten sind. Der Vorgesetzte der User ist die personalverantwortliche Autorität, die die firmenspezifische Notwendigkeit des SEM den Mitarbeitern deutlich macht.

Diese Einflußgrößen auf die Akzeptanz müssen bei der Entwicklung und Einführung eines SEM durch Kooperation vereinigt werden. Drei Punkte müssen dem SEM-Benutzer zur Motivation klar sein:

- Das Konzept beruht auf fachlicher Kompetenz

- Die firmenspezifischen Anforderungen und Randbedingungen wurden berücksichtigt.

- Das SEM wird von den Vorgesetzten gewünscht und mitgetragen.

Die Erfahrung zeigt immer wieder, daß ein Werkzeug ohne methodische Einbettung nicht genügend Nutzen bringt. Mit solchen Werkzeugen wird höchstens das alte Vorgehen beschleunigt. Ziel eines SEM sind aber weitgehende Verbesserungen. Dabei geht es nicht nur um Schnelligkeit, sondern auch um die Qualität des Vorgehens und der Ergebnisse. Insbesondere müssen die Anforderungen der Wartung einfließen.

Umgekehrt berücksichtigt der Einsatz von Methoden ohne Werkzeugunterstützung ebenfalls nur einen Teilaspekt. Die Softwareentwicklung wird zwar besser, aber nicht schneller.

Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Einsatz von erprobten Standard-Vorgehensmodellen zu. In solche Phasen- und Managementkonzepte können Methoden und Werkzeuge kundenspezifisch eingearbeitet werden.

Eine wesentliche Beraterleistung besteht darin, eine optimale Verbindung aus Methoden und Werkzeugen für den Kunden zu schaffen. Methodisches Know-how und Marktkenntnisse müssen in einer Hand vereint sein, um für das SEM eine gute und brauchbare Lösung zu entwickeln.

Software-Engineering-Modelle müssen die Aufgaben und die verfügbaren Ressourcen des DV-Bereiches möglichst vollständig berücksichtigen. In kaum einem Unternehmen wird Software heute noch vollständig selber entwickelt. DB/DC-Systeme, Programmgeneratoren, Sprachen der vierten Generation und Standardsoftware werden eingesetzt. Diese Randbedingungen müssen bei der Entwicklung eines SEM berücksichtigt werden.

* Ulrich Schulte ist Softwareberater bei der ADV/Orga F. A. Meyer AG, Wilhelmshaven.