Lass mich in Ruh’ mit SCM!

25.09.2001
Von 
Karin Quack arbeitet als freie Autorin und Editorial Consultant vor allem zu IT-strategischen und Innovations-Themen. Zuvor war sie viele Jahre lang in leitender redaktioneller Position bei der COMPUTERWOCHE tätig.
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) – Trotz vollmundiger Anbieterversprechen und appetitanregender Erfolgsgeschichten haben zwei von drei deutschen Unternehmen angeblich keinen Bedarf an Supply-Chain-Management- (SCM-) Lösungen. Hinter dieser Verweigerungshaltung stehen Befürchtungen unterschiedlicher Art.

„Leicht verdientes Geld liegt buchstäblich auf der Straße“, konstatierte die deutsche Niederlassung des US-Marktforschungsunternehmens Meta Group, als sie ihre Studie „Supply Chain Management & Collaboration“ ankündigte.

Nach Ansicht der Analysten könnten die Unternehmen ein Fünftel ihrer Transportkosten einsparen, würden sie – mit Hilfe firmenübergreifender Planungs- und Ausführungssysteme – ihre Bestell- und Lieferprozesse koordinieren. Insgesamt ließen sich die Kosten der Supply-Chain um die Hälfte – in Einzelfällen sogar um 80 Prozent – senken.

Die Anbieter der Supply-Chain-Management-Tools werden das gern lesen. Verkünden doch einige von ihnen – vor allem i2 Technologies und Manugistics – dieselbe Botschaft schon seit Jahren. Als Argumentationshilfe können sie mittlerweile auch eine Handvoll Kunden vorweisen, die mit Hilfe ihrer jeweiligen Softwarewerkzeuge erhebliche Wettbewerbsvorteile errungen haben.

Ein Paradebeispiel liefert der PC-Hersteller Dell. Erst die auf i2-Produkten basierende Supply-Chain-Management-Lösung dürfte es ihm ermöglicht haben, seine extrem nachfrageorientierte Built-to-order-Struktur aufzubauen, mit der er sich – zumindest vorübergehend – an die Spitze der Industrie schob.

Auch IBM spielt gern den Vorzeigekunden. Wie Robin Gordon, Principal in der PC-Division des IT-Riesen, anlässlich einer i2-Veranstaltung berichtete, spart der blaue Weltkonzern allein durch eine unternehmensübergreifende Lösung für die Beschaffung produktionsrelevanter Teile rund 276 Millionen Dollar im Jahr.

Nicht jedes Anwenderunternehmen ist bereit, exakte Summen zu nennen. Doch die Web-Page des i2-Mitbewerbers Manugistics berichtet beispielsweise über den Werkzeughersteller Black & Decker, dass er dank seiner "Power-Chain"-Initiative "signifikante Verbesserungen im Lagerumschlag" und "bemerkenswerte Einsparungen bei den Lagerkosten" erzielen konnte.

Wie unterschiedliche Glieder der Lieferkette von einer unternehmensübergreifenden Lösung profitieren können, zeigt das Beispiel des DM-Drogeriemarkts: Mit ihren wichtigsten Handelspartnern betreibt die Handelskette eine vom jeweiligen Lieferanten betreute Lagerhaltung, im Fachjargon "Vendor Managed Inventory" - oder kurz: VMI - genannt. Damit sparen die Beteiligten in der Summe sowohl Administrationsaufwand als auch Lager- und Transportkosten.

Allerdings sind derartige Vorbilder zumindest in Deutschland noch mit der Lupe zu suchen. Laut Meta Group haben nur 33 Prozent der deutschen Unternehmen eine – potenziell firmenübergreifende – SCM-Lösung im Einsatz oder zumindest in Planung. Und auch bei den Experimentierfreudigen lässt der Return on Investment oft lange auf sich warten: Hier hapert es an funktionsfähigen Schnittstellen zum ERP-System, dort muss zunächst die Qualität der eingegebenen Daten verbessert werden, und dann verweigern möglicherweise auch noch die Mitarbeiter ihre Akzeptanz. Auch solche Beispiele machen die Runde – und fördern nicht eben eine SCM-Euphorie.

Hürden gibt es viele

Ohnehin gilt es erst einmal, eine Hemmschwelle zu überwinden, wenn unternehmenskritische Daten mit den Kunden oder Lieferanten geteilt werden sollen – vor allem bei kleinen Unternehmen, die von einem größeren Partner abhängen. „Schwierig ist es, wenn ein Partner das Gefühl hat, ausgenutzt zu werden“, erläutert Frank Naujoks, Autor der Meta-Group-Studie.

Auf einen weiteren Hemmschuh verweist Diedrich Fick, Sales Forecast Manager bei Reckitt Benckiser; der Hersteller von Reinigungsmitteln und Pflegeprodukten gehört zu den Zulieferern, mit denen der DM-Drogeriemarkt eine VMI-Lösung auf die Beine gestellt hat.

Die gemeinsam erzielbaren Einsparungspotenziale bedingen einen Mehraufwand beim Lieferanten, so Fick. Deshalb könne das Zustandekommen ähnlicher Projekte schlicht daran scheitern, dass die Unternehmen nicht im Stande sind, sich auf für beide Seiten akzeptable Konditionen zu einigen.

Andreas Resch, Geschäftsführer und IT-Verantwortlicher des Transportlogistik-Anbieters Fiege, will zudem die technischen Probleme nur ja nicht heruntergespielt wissen. Der Integrationsaufwand sei keineswegs zu unterschätzen: Unternehmensübergreifende SCM-Anwendung bedingen einen zeitnahen Austausch geschäftsrelevanter Daten und damit eine hohe Integration bei extrem flexiblen Rahmenbedingungen. „Das ist“, so der Logistikexperte, „das schwierigste Gebiet der IT in seiner schwierigsten Ausprägung“.

Dabei ist Resch kein Ungläubiger. Mit dem Papierwarenhersteller Herlitz PBS hat er vor etwa zwei Jahren ein Projekt durchgezogen, das heute das Etikett VMI trüge und das die Computerwoche als beispielhaft einstufte (siehe CW 45/99, Seite 9: „Herlitz ist Anwender des Jahres“).

Auch Uwe Petersen hat bereits SCM-Erfahrungen gesammelt – früher als Berater, heute als Leiter IT des Versandhandels-Unternehmens Hawesko. Das auf Weine aus aller Welt spezialisierte Unternehmen beschäftigt sich seit beinahe zwei Jahren intensiv mit der Frage, wie es seine Wertschöpfungskette mit der seiner Partner verknüpfen kann. Petersen kennt also die Hürden, vor denen die Anwender zurückschrecken; und die sind nicht nur geschäftspolitischer oder technischer Natur. Im Prinzip müssten vielmehr alle Prozesse – und damit auch eine Reihe von Arbeitsplätzen – im Hinblick auf das kollaborative E-Business neu organisiert werden. Die daraus resultierende Besorgnis der Mitarbeiter werde von den Anbietern so gut wie nicht thematisiert: „Man verkauft keine Tools, wenn man Ängste schürt.“

Davon abgesehen sind die Beweggründe der SCM-Verweigerer nach Ansicht des ehemaligen Beraters meist "banal". Es habe in diesem und dem vergangenen Jahr sehr viele "Pflichtthemen" gegeben; Jahr-2000- und Euro-Umstellung, ERP-Einführung und erste Gehversuche im E-Commerce-Umfeld hätten die IT-Abteilungen mehr als ausgelastet. Ein derart "erklärungsbedürftiges" Gebiet wie das Supply-Chain-Management stehe vielerorts einfach noch nicht auf der Prioritätenliste.. Die Unternehmen fassen die SCM-Problematik, so Petersen, allenfalls dann an, wenn sie einen massiven Leidensdruck spüren. Geht es den potenziellen SCM-Anwendern also zu gut? Das wohl nicht; der Schmerz werde vielfach schon empfunden, weiß Petersen, aber dessen Ursache sei oft noch nicht erkannt.

Begriffsdefinition SCM:

Für das Trend-Wort "Supply- Chain-Management", kurz: SCM, hat die Meta Group eine Umschreibung gefunden, die sie selbst "bemerkenswert einfach" nennt: "Unter SCM versteht man die Synchronisierung von Angebot und Nachfrage bei minimalen Kosten."

SCM verknüpft, so das Marktforschungsunternehmen weiter, Supply Chain Planning (SCP) mit Supply Chain Execution (SCE). SCP umfasse Software, Prozesse und Organisiation zur Planung und Optimierung einer komplexen Wertschöpfungskette sowie der damit verbundenen Transport- und Versorgungswege. SCE diene der Überwachung und direkten Optimierung dieser Kette und der zugehörigen Wege.

Dabei spielt zunächst keine Rolle, ob die Kette über mehrere Abteilungen desselben Unternehmens oder über unterschiedliche Firmen und Konzerne gespannt ist. Erst der Begriff "Collaboration" bringt den unternehmensübergreifenden Aspekt ins Spiel: Hier geht es laut Meta Group darum, die Geschäftsprozesse der beteiligten Partner auf der Basis gemeinsamer Planungsaktivitäten und einer für alle zugänglichen Wissensdatenbank zu koordinieren - mit dem Ziel der "Verfolgung und Realisierung gemeinsamer Ziele".