Merrill Lynch nimmt Markt für lokale Netze unter die Lupe:

LAN-Umsatz 1985 über 5 Milliarden Dollar

20.01.1984

LEIMEN (hr) - Hochentwickelte Industriegesellschaften sind unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß das Aufkommen grundsätzlich neuer Marktsegmente, die sowohl ein breites Angebot an neuen Produkten und Dienstleistungen als auch umfangreiche Marketing-Möglichkeiten bieten, außerordentlich schwierig ist. Bei lokalen Netzwerken (LAN = Local Area Network) scheint es sich allerdings um eine solche Ausnahme zu handeln. Diese Auffassung vertritt das Brokerhaus Merrill Lynch in einer jüngst veröffentlichen Studie über Chancen und Risiken dieses neuen Industriezweiges.

Das Potential für ein rasches Wachstum der im "LAN-Gewerbe" engagierten Unternehmen werde erst richtig deutlich, wenn man die verschiedenen Einzelmärkte einmal ausführlich betrachtet, kommentiert der Broker seine insgesamt positive Einstellung. Allein im Bereich der Personal Computer und Arbeitsplatzrechner scheint die heutige Installationsbasis sowie der prognostizierte Zuwachs für die nächsten zwei bis fünf Jahre genügend Reserven für eine starke Nachfrage nach "Verbindungs-Möglichkeiten" zu generieren. Dabei stellt dieses Segment nur eine Komponente des LAN-Marktes dar. Der Bedarf an Kopplungs- und Kommunikations-Hard-und -Software für Mikro- und Minicomputer, für Mainframes und Textverarbeitungsanlagen, für externeSpeicher und sonstige Peripheriegeräte gibt einen riesigen Markt ab, dessen Dimensionen heute noch nicht einmal überblickt werden können.

LAN als Mittel zum Zweck

Neben den beachtlichen Wachstumsmöglichkeiten, die der LAN-Markt vor allem für kleinere, unabhängige Anbieter von lokalen Netzen und entsprechenden Komponenten bereit hält, besteht nach Ansicht von Merrill Lynch jedoch auch ein beträchtliches Risiko für die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Firmen. Hier sollte in erster Linie an ein mögliches Eintreten der großen, "integrierten" Unternehmen, wie IBM und AT&T, die sowohl Rechner als auch Kommunikationseinrichtungen fertigen und anbieten, gedacht werden.

Für diese Großunternehmen sei die LAN-Technologie zwar heute noch vielfach lediglich Mittel zum Zweck, das heiße zur Absatzförderung anderer Produkte. Die Netzwerk-Kompatibilität werde nämlich von seiten der Anwender bei Kaufentscheidungen zunehmend in den Vordergrund gestellt. Die Büroautomation - mit ihrem Schlagwort der "ganzen Welt am Schreibtisch" - ziele in die gleiche Richtung. Man dürfe allerdings nicht davon ausgehen, daß die Netzwerk-Technologie auch morgen oder übermorgen keine direkte eigenständige Rolle im Angebotsspektrum und bei der Marketing-Strategie der EDV-Giganten spielen wird. Unter Umständen könnten sie nämlich versucht sein, den Zugang zu ihren Netzen zu beschränken, um so größeren kommerziellen Nutzen aus funktionalen Verbesserungen der neuen Technologie ziehen zu können.

Offene, herstellerunabhängige Netze würden dagegen zumindest teilweise den Wettbewerbsvorteil der marktbeherrschenden Anbieter neutralisieren und den eigenen Kundenstamm der Konkurrenz zugänglich machen. In einem vonständig offenen Netz können zum Beispiel Terminals und Workstations beliebiger Provenienz mit einem bereits installierten Großrechner kommunizieren. Damit verlagert sich der Wettbewerb auf die Geräteebene. Bei umfassenden Konzepten zur Systemintegration im Büro- und Industriebereich verlieren Großanbieter, die bisher besonders auf die Breite und Ausgewogenheit sowie auf die interne Kompatibilität ihrer Produktpalette hinweisen konnten, dann unter Umständen diesen Vorteil. Der Anwender wird jene Geräte, die ihm für seinen ganz spezifischen Einsatz das beste Kosten/Leistungs-Verhältnis bieten können, an das Netz anhängen.

OEM-Geschäft nimmt zu

Nach Ansicht von Merrill Lynch werden sich daher die Marktführer voraussichtlich auf die größeren Ertragschancen beim Absatz von Geräten konzentrieren und möglicherweise Netzwerk-Alternativen anbieten, die die Einbindung von Fremdgeräten zumindest im Funktionsspektrum beschränken. In dem Ausmaß, in dem private Netze installiert werden, wurden auch das OEM-Geschäft und die daraus resultierenden Umsätze bei Gateways und Koppelungseinrichtungen, die für den Anschluß privater an öffentliche Netze gebraucht werden, zunehmen.

Merrill Lynch gibt weiter zu bedenken, daß derzeit nur IBM die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, ein modernes integriertes LAN-Konzept, das sowohl von der Hardware als auch von der Software die hochgesteckten Erwartungen der Anwender befriedigen könne, zu entwickeln und anzubieten. Was AT&T betreffe, so werde das Unternehmen wohl versuchen, im Datenverkehr eine ebenso dominierende Rolle zu spielen wie bisher im Telefonbereich. Daher sei damit zu rechnen daß von AT&T angebotene lokale Netze eher durch offene Strukturen geprägt sein werden. Eine weite Verbreitung von AT&T-Netzwerken würde dann automatisch spezialisierten Anbietern umfangreiche Marktchancen bieten.

Auch Chancen für unabhängige Anbieter

Mit der Schaffung lokaler Netzwerke wird das Bedürfnis eines Marktes befriedigt, der sich bereits seit geraumer Zeit auf der Suche nach einer neuen Technologie befindet. Die langfristigen fundamentalen Faktoren stellen sich infolgedessen äußerst positiv dar: Bis 1985 sollte der LAN-Markt nach Ansicht des amerikanischen Brokers die Marke von fünf Milliarden Dollar überschritten haben. Mit anderen Worten, selbst wenn IBM und AT&T wesentliche Marktanteile an sich ziehen können, bleiben den unabhängigen Anbietern noch beachtliche Gewinnmöglichkeiten.

Für die weitere Entwicklung dieses Industriezweiges wird die Schaffung von international anerkannten Standards von größter Bedeutung sein. Derzeit haben Ethernet und die IBM Token-Passing-Kommunikations-Protokolle wohl die größeren Chancen, zur Standard-Architektur von lokalen Netzen zu werden. Neben den oben erwähnten negativen Aspekten, die für kleinere Anbieter mit dem Eintritt der EDV-Größen in den LAN-Markt verbunden sind, könnte die erwartete Einführung eines IBM-LANs auch das Wachstum und die Produktakzeptanz verbessern und somit die Chancen nicht nur nicht verringern, sondern im Gegenteil beträchtlich steigern.

Sowohl unter mittel- als auch unter langfristigen Gesichtspunkten bewertet Merrill Lynch Corvus Systems besonders positiv. Das Unternehmen hat in den letzten Jahren eine gewaltige Metamorphose erlebt: Die Hauptgeschäftstätigkeit hat sich von Massenspeichermedien, die im Geschäftsjahr 1981 fast 80 Prozent des Umsatzes ausmachten, auf Netzwerkprodukte verlagert. 1984 sollen diese Geräte und Dienstleistungen ihrerseits rund 80 Prozent der Geschäftstätigkeit darstellen. Corvus wird daher zunehmend als dediziertes "Netzwerk-Unternehmen" betrachtet.

Ungermann-Bass kann derzeit auf die umfangreichste und wohl auch flexibelste Produktpalette im LAN-Bereich hinweisen. Die frühzeitige Anpassung an Ethernet und an die IBM-Protokolle werde für rasch wachsende Chancen sorgen, wenn diese Protokolle sich erst einmal auf breiter Front durchgesetzt haben werden, woran aber kaum Zweifel bestehen dürfte. Ungermann-Bass habe 1983 die Rentabilitätsschwelle in diesem Bereich erreicht und dürfte in den kommenden Jahren steigende Gewinne verbuchen können. Gleiches gelte auch für Network Systems. Dieses Unternehmen kann auf eine solide technologische Basis aufbauen, die es ihm gestatten werde, seine Position am LAN-Markt zusehens auszubauen, meint Merill Lynch.