Labor-Ambiente schafft oft falsches Realitätsbild:Kl-Software wird leicht zum "Klotz am Bein"

04.04.1986

Es ist wahrlich eine Sisyphus-Arbeit, wenn man auf dem Gebiet der Computertechnologie Dichtung und Wahrheit auseinanderhalten will; geradezu aussichtslos ist dieses Unterfangen dann, wenn wieder einmal zum Aufbruch zu neuen Ufern geblasen wurde und Begeisterung die Argumente ersetzt. Dies ist zur Zeit in Sachen künstlicher Intelligenz und Expertensystemen der Fall. Die Frage lautet, wie es um ein Expertensystem steht, das sich dereinst in der betrieblichen Praxis bewähren soll. Es ist also nicht die Rede von "Prototypen" wie "Macysma" oder "Dendral", die wie rohe Eier behandelt wurden, oder lnhouse-Anwendungen" wie "Xcon" und "Xsel" von DEC oder "Conad" und "Faultfinder" von Nixdorf, mit denen digitalisierbare Probleme angegangen werden und die von Menschen in Anspruch genommen werden, die ein "digitalisiertes Verständnis" entwickeln.

Die Frage lautet vielmehr, was von einem System zu erwarten ist, das auf "Twaice" aufbauend in einem Betrieb zur Lösung von Tagesproblemen eingesetzt werden soll.

Zunächst setzen sich zwei Herren oder Damen zusammen, die einander kaum verstehen, nämlich der Experte und der Knowledge Engineer, kurz KE genannt. Diese beiden beschnuppern sich, und wenn der KE mit der Terminologie der Expertendomäne vertraut ist, kitzelt er aus dem Experten das erforderliche Wissen schon heraus.

Was der KE mit Sicherheit erreicht, ist das Bemühen des Experten, sein Wissen zu ordnen, in Regel zu fassen auszusprechen. Daß es ein Wissen gibt, das überhaupt nicht formulierbar ist, stört weder den KE noch die Qualität des Expertensystems. Was für ein erbärmliches Niveau auf diese Weise fest- und fortgeschrieben wird, läßt sich an der Bedeutung ablesen, die "verrückte" Ansätze, "Gefühl", die "menschliche Komponente", das "Aha-Erlebnis" oder "der Trick" bei der Lösung zahlloser betrieblicher Probleme spielen, und die hier (fast) alle unterdrückt werden.

Diesen Mangel kompensiert keine Inferenzmaschine, sie kann zwar Symbole frei verknüpfen, aber eben nur Symbole, also formalisierte Größen; und, was erschwerend hinzukommt, sie "denkt" nach Regeln, die der Experte formuliert hat, die aber wieder nur eine Reduktion der Wirklichkeit darstellen. Diese Regeln sind stets so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner.

Ein derart ausgestattetes "Experten-System" wird nun von einem (Halb-) Laien befragt. Die Antwort des Rechners kann von einem solchen Benutzer qualitativ nicht überprüft werden; auch die Erklärungskomponente in "Twaice", die das Zustandekommen einer Folgerung beschreibt, nützt da wenig. Man versetze sich nur in der Situation eines "normalen" Mitmenschen, dem ein Philosoph eine Kette von acht oder zehn Schlüssen vorsetzt, und der nickt, obwohl er schon den dritten einfach nicht verstehen kann - ob mit oder ohne Erläuterung.

Hier ist wahrscheinlich die Achillesferse aller Expertensysteme: Sie gehen davon aus, daß alle Menschen in gleicher Weise denken, wenn sie "logisch" denken; das ist jedoch eine völlig unsinnige Annahme, wovon man sich mittels eines einfachen Gesprächs über einen trivialen Gegenstand, zum Beispiel die Einführung eines fälschungssicheren Personalausweises, rasch überzeugen kann.

Mit der - mehr oder weniger nach vollziehbaren - Antwort des Expertensystems muß nun der Laie weiterarbeiten; er muß sie in sein Denkgebäude einfügen und alles tun, damit sie nicht wie ein transplantiertes Organ "abgestoßen" wird. Dadurch entsteht nichts anderes als die große Gefahr einer Schizophrenie, gefolgt von Verlust an Selbstbewußtsein und persönlicher Sicherheit. Daß der Laie sein Expertensystem schätzen lernt, steht jedenfalls nicht zu erwarten.

Wenden wir uns wieder dem Experten selbst zu. Er pflegt und betreut das Expertensystem, erweitert dessen Wissen und bringt neue Regeln ein. Ganz abgesehen davon, daß nach den obigen Überlegungen dieser Arbeit kaum Akzeptanz begegnen wird, bemüht sich der Experte um ein "geistiges Kind", das allen Anstrengungen zum Trotz ein Krüppel bleiben wird.

Die Bedingungen in der rauhen Luft eines Industriebetriebs sind reichlich verschieden von dem friedlichen Ambiente in einem KI-Labor bei DEC oder Nixdorf. Während hier dem intellektuellen Drahtseilakt frenetisch applaudiert wird, muß sich ein "realer" Experte am Einhalten von Budgets und an der Bewältigung von Tagesproblemen messen lassen. In dieser Situation ist ein Expertensystem ein Klotz am Bein, insbesondere, weil schon heute die EDV institutionalisierter Prügelknabe fast jedes Betriebes ist.

Dr. Gerhard Sauerbrey ist Leiter Organisationsberatung bei der Weigang-Gruppe, Würzburg.