IT-Arbeitsmarkt/Ohne Personalplanung bleibt der IT-Fachkräftemangel ein Dauerproblem

Kurzsichtigkeit kann vor allem Startups zum Verhängnis werden

07.07.2000
Der IT-Wirtschaft fehlen die Fachkräfte - das hat sich inzwischen herumgesprochen. Kaum diskutiert wird dagegen, dass die Branche keine Strategie für die Personal- und Unternehmensentwicklung hat.Von Helga Ballauf*

So manche Startup-Firma der Internet-Szene verdreifacht ihre Personalstärke pro Jahr und legt sich gleichzeitig mehrere Tochtergesellschaften rund um die Welt zu. Eine Umfrage in Berlin hat ergeben, dass die großen Firmen der IT- und Multimedia-Branche mit 20 Prozent Stellenzuwachs rechnen und die kleinen Betriebe ihre Belegschaft in diesem Jahr sogar um das Eineinhalbfache aufstocken wollen. Das ist die eine Seite. Die andere sieht so aus: "Wir schalten erst dann eine Stellenanzeige, wenn den bisherigen Mitarbeitern die Arbeit bereits über den Kopf wächst, wenn sie dringend Entlastung brauchen. Zeit und Nerven, neue Kollegen einzuarbeiten, haben sie eigentlich nicht", berichtet die Personalleiterin eines IT-Dienstleisters. Und der Java-Experte eines anderen Unternehmens erzählt: "Ich habe alle Hände voll zu tun und verdiene gut. Manchmal beschleicht mich dennoch die Angst vor der Zukunft. Denn mir fehlen Zeit und Kraft, um mich mit neuen technologischen Entwicklungen auseinander zu setzen. Was passiert, wenn der Java-Boom vorbei ist und ich mit meinem Wissen zum alten Eisen zähle?"

Solche Szenarien hat Professor Franz Lehner vor Augen, wenn er einem Teil der IT-Wirtschaft vorwirft, in den letzten Jahren "personalpolitisch von der Hand in den Mund" gelebt zu haben. Der Präsident des Instituts Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen fügt hinzu, die Firmen hätten "ihre Wettbewerbsfähigkeit viel zu oft über kurzfristige Rationalisierungsmaßnahmen statt über langfristige Personalentwicklung gesichert". Es sei höchste Zeit, etwas für die Entwicklung des "Humankapitals" zu tun.

Die Einschätzung des IAT-Präsidenten wird langsam aber sicher von immer mehr Forschern, Verbands- und Unternehmensvertretern geteilt. Im Rahmen der Qualifizierungsoffensive, auf die sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen der IT-Branche geeinigt haben, entstehen Handlungshilfen für eine integrierte Kompetenz- und Unternehmensentwicklung. Konkrete Anregungen für die Berliner IT- und Multimedia-Unternehmen will das dortige Fraunhofer-Institut demnächst ins Netz stellen (www.mecomp.net).

Einige kleine und große Firmen gehen eigene Wege, um zum Zeitpunkt X auf genügend "maßgeschneiderte" Mitarbeiter zurückgreifen zu können. Für die Geschäftsführerin des Münchner Dienstleisters Comet Computer, Sissi Closs, steht fest: "Man kriegt die Leute nicht fertig ausgebildet. Das liegt in der Natur der Sache." Als Comet Computer in den 80er Jahren mit dem Arbeitsgebiet "Technische Dokumentation" anfing, existierte kein entsprechendes Berufsbild. Also holte sich Closs Mitarbeiter aus anderen Bereichen und bereitete sie auf die neue Aufgabe vor. Und so wird es bleiben, sagt die Unternehmerin: "Jeder Betrieb in der IT-Branche muss ständig neue Geschäftsfelder erschließen und daher auch dafür sorgen, dass sich die Mitarbeiter entsprechend weiterqualifizieren."

Das Unternehmen mit 50 meist weiblichen Beschäftigten verfügt inzwischen über ein eigenes Schulungszentrum. Fachlich gute Arbeit, Weitsicht, Teamfähigkeit und Wendigkeit ließen sich jedoch weder anordnen noch eintrichtern, meint Closs. Das Klima müsse stimmen. Sie schwört deshalb auf eine bunt gemischte Belegschaft, was Wissen und Interessen angeht, und ein flexibles Arbeitszeitmodell, das unter anderem Angestellten mit Kindern zugute kommt. Das funktioniert - seit 13 Jahren.

Die Conet Consulting AG in Hennef geht einen anderen Weg. Weil Spezialisten für die Business-Software Lotus fehlen, steigt die Firma mit zwei Partnern selbst ins Weiterbildungsgeschäft ein. 22 arbeitslose Akademiker werden zu Certified Lotus Professionals qualifiziert. "Wir könnten allein elf Leute einstellen", sagt Marketing-Leiter Wolfgang Heer. "Doch der Kurs rechnet sich bereits, wenn nur zwei bei uns einen Arbeitsvertrag unterschreiben." Heer addiert bei dieser Kalkulation die Kosten für die übliche Personalakquisition mit entgangenem Gewinn, weil die Firma einschlägige Aufträge mangels Mitarbeitern ablehnen musste.

Die Unternehmensberatung CSC Ploenzke in Kiedrich hat von Anfang an auf die neuen IT-Berufsbilder gesetzt und Fachinformatiker mit dem Schwerpunkt Anwendungsentwicklung ausgebildet. Der Dienstleister stellt nur (Fach-)Abiturienten als Azubis ein, weil die betrieblichen Anforderungen hoch sind und der Nachwuchs die Abschlussprüfung dennoch bereits nach einer auf zwei Jahre verkürzten Lehrzeit schaffen soll. Wer so leistungsstarke junge Erwachsene ausbildet, muss damit rechnen, dass sie nach der Lehre den Betrieb Richtung Universität verlassen. CSC Ploenzke hat entsprechend vorgebaut, berichtet Projektleiterin Silvia Gehm: "Wir haben diesen Mitarbeitern flexible Teilzeitverträge angeboten. So können sie Studium und Arbeit verbinden. Und wir verlieren sie nicht, sondern profitieren sogar von ihrem neu erworbenen Wissen."

Die vorgestellten Firmen, die über den Tag hinaus planen, bilden in der IT-Branche immer noch eine Ausnahme. Fragen wie diese werden noch viel zu selten gestellt: Wohin will das Unternehmen? Wie muss es sich verändern? Wie pfleglich geht es mit den Mitarbeitern um, und wie fördert es sie? Oft genug entfallen solche Fragen, weil den Verantwortlichen in jungen und explosionsartig wachsenden Firmen die Erfahrung und die Zeit für eine planvolle Organisitionsentwicklung fehlen.

Weil dem so ist, organisieren Branchenverbände und Gewerkschaften nun in einer konzertierten Aktion Unterstützung. ZVEI-Experte (Zentralverband Elektrotechnik und Eelektronikindustrie) Karlheinz Müller beschreibt die Aufgabe: "Unter den typischen Bedingungen der IT-Branche müssen Konzepte für die Kompetenzentwicklung am Arbeitsplatz und die Entwicklung der Organisation, also des Unternehmens als solchem, vernetzt angegangen werden. Im Laufe des Sommers wollen wir dafür Umsetzungshilfen bereitstellen." Müllers Partner auf Gewerkschaftsseite, Michael Ehrke (IG Metall) hofft, dass sich die Kooperationen, die einige IT-Firmen derzeit im Zusammenhang mit der Erstausbildung eingehen, zu einem regionalen Qualifizierungsnetz ausbauen lassen: "Da helfen wir mit", verspricht der Gewerkschafter.

Schließlich muss nicht jeder Betrieb und jede Personalabteilung das Rad neu erfinden. So hat beispielsweise das Debis Systemhaus umfassende Regelungen für Weiterbildung und Personalplanung auf der Basis eines Ergänzungstarifvertrags und einer Konzernbetriebsvereinbarung beschlossen - konkrete Schritte, um die Business-Ziele des Unternehmens und die "persönliche Entwicklung" der Beschäftigten zu verbinden. Ein Weg, der für das Großunternehmen Debis passt, muss aber längst nicht der richtige für Mittelständler und Startups sein. Doch sie könnten im Zuge eines Branchendialogs in der Region von den Erfahrungen der anderen profitieren.

*Helga Ballauf ist freie Journalistin in München.