IBM-Deutschland-Chef Walter Raizner im CW-Gespräch

"Kunden wollen sich nicht ausliefern"

26.03.2004
Die IBM startet eine Kampagne, um ihre Marktanteile im Mittelstand auszubauen. Mit Milliardeninvestitionen will der IT-Konzern Partner und Entwickler auf die eigenen Plattformen einschwören. Im Gespräch mit den CW-Redakteuren Christoph Witte und Martin Bayer erläutert der Deutschland-Geschäftsführer Walter Raizner die künftige Strategie.

CW: 2003 war für die IT-Branche das Jahr der Tränen. Wie stellt sich für Sie 2004 dar?

RAIZNER: Ich gehe davon aus, dass wir das Tal der Tränen hinter uns haben. IBM hat dies schon mit einem guten Abschluss für das vergangene Jahr bewiesen. Den Schwung, der sich bereits in der zweiten Jahreshälfte 2003 abgezeichnet hat, wollen wir in das laufende Jahr mitnehmen.

CW: Was macht Sie da so sicher?

RAIZNER: IBM kommt zugute, dass sich die Kunden momentan fragen müssen, wie sie ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern können. Das wird unserer Branche unabhängig von der allgemeinen Konjunkturentwicklung helfen zu wachsen. Die letzten Jahre waren allein davon geprägt, die Kosten zu senken. Das Thema liegt sicher nicht hinter uns. Da dürfen wir uns keinen falschen Erwartungen hingeben. Aber ohne gezielte Investitionen ist heute kein Wachstum mehr möglich. Das wissen die Kunden.

CW: In welchen Bereichen könnte IBM davon am ehesten profitieren?

RAIZNER: Ich gehe nicht davon aus, dass die Kunden ihr Geld mit vollen Händen ausgeben, sondern mit Augenmaß. Ich glaube, dass alle Bereiche, also Hardware, Software und Services, zulegen werden. Schon im letzten Jahr hat die IBM fast überall Marktanteile hinzugewonnen. Auch im laufenden Jahr werden wir in der Lage sein, stärker an den zu erwartenden Investitionen zu partizipieren als andere Anbieter.

CW: Im vergangenen Jahr hat die IBM Deutschland eine Reihe großer Deals abgeschlossen. Zum Beispiel mit der Deutschen Bank. Wird es weitere ähnliche Abschlüsse geben?

RAIZNER: Natürlich möchte jeder das große Geschäft haben. Das sind nun einmal Vorzeigeprojekte. Deshalb will die IBM auch die großen Deals machen. Wir werden allerdings keine Marktanteile kaufen oder irgendwelche verrückten Sachen machen.

CW: Sie hegen also keine Ambitionen in Richtung RAG Informatik?

RAIZNER: Bitte haben Sie Verständnis, wenn ich das nicht kommentieren möchte.

CW: Wie wird sich dieses Geschäftsfeld aus Ihrer Sicht weiterentwickeln?

RAIZNER: Es kommt darauf an, dass die IBM unter dem Strich auch ein Geschäft macht. Die Kunden müssen aber mithelfen und die Probleme mit uns gemeinsam anpacken. Wir müssen selektiv an das Geschäft mit Großprojekten im Outsourcing herangehen. Parallel wollen wir das mittlere Geschäftssegment gezielt forcieren. Zum Beispiel das E-Business-Hosting, das sich schon ab wenigen Arbeitsplätzen lohnt, bis hin zum Outsourcing im Mittelstand.

CW: Stichwort Großprojekte - rund um das Outsourcing-Vorhaben der Deutschen Bank ...

RAIZNER: Ist das immer noch ein Thema?

CW: ... wir hören zumindest immer wieder von Schwierigkeiten, weil IBM angeblich die Komplexität des Projektes unterschätzt hat.

RAIZNER: Ich weiß nicht, woher die Informationen kommen.

CW: Zum Teil aus der Deutschen Bank.

RAIZNER: Natürlich kann man bei einem derart komplexen Projekt nicht erwarten, dass alles von Anfang an reibungslos funktioniert. Es ist blauäugig, davon auszugehen, man müsse nur einen Schalter umlegen, und alles läuft. Allerdings gibt es keinerlei Vorkommnisse, die aus meiner Sicht besorgniserregend sind. In jedem Rechenzentrum, egal ob es die Deutsche Bank, BMW oder IBM betreibt, tritt mal ein Problem auf. Das weiß jeder, der in diesem Geschäft arbeitet. Deshalb würde ich diese Widrigkeiten auch nicht überbewerten. Das Projekt läuft zur Zufriedenheit beider Seiten. Natürlich gilt es, manche Dinge zu verbessern, und natürlich bestehen Service-Level-Agreements (SLAs), die wir einhalten müssen. Dass dies manchmal viel Aufwand bedeutet, wussten wir von Anfang an.

CW: Neben den Großunternehmen will die IBM künftig verstärkt den mittelständischen Bereich adressieren. Welche Segmente wollen Sie hier in Deutschland angehen, die über das hinausreichen, was Sie bereits machen?

RAIZNER: IBM will natürlich Marktanteile hinzugewinnen. Wir stehen bei weitem nicht da, wo wir sein wollen. In der Vergangenheit hatte IBM das Problem, dass nicht genügend Produkte und Lösungen speziell an die Bedürfnisse des Mittelstands angepasst waren. Dabei setzen wir auch auf eine intensivere Zusammenarbeit mit den Independent Software Vendors (ISVs), die sich in Deutschland nach Branchen und Regionen organisieren.

CW: In Deutschland treten diese Softwareentwickler auch als Systemhaus im Markt auf und bieten ihren Kunden Services an. Dieses Segment visiert jedoch auch IBM mit den Global Services an. Bedeutet das nicht einen Konflikt?

RAIZNER: Natürlich existiert eine Grauzone, in der es auch einmal zu einer Kollision im Markt kommen kann. Das ist jedoch ganz normal. Wenn Sie aber das Ganze aus der Makroperspektive betrachten, dann gibt es mit jedem Partner eine Überlappung und damit einen Konflikt. Das ist von Haus aus so, weil wir von der Hardware über die Software bis zu den Services alles anbieten. Auf der anderen Seite haben wir laut International Data Corp. (IDC) in Deutschland knapp zwölf Prozent Marktanteil im Mittelstand. Da bleiben 88 Prozent übrig, die wir noch nicht abdecken. Viele dieser Kunden werden von Partnern und Systemhäusern bedient. Man muss nur klar abgrenzen, wer was macht.

CW: Nun kauft der Mittelstand gerne Komplettlösungen ein. IBM kann jedoch immer nur einen Teil liefern. Vermissen Sie manchmal das Applikationsgeschäft?

RAIZNER: Wir hatten zwar in der Vergangenheit einige eigene Applikationen im IBM-Programm. Den Großteil dieses Geschäfts haben wir aber schon immer mit Softwarehäusern als Partnern abgedeckt. Das ist eine Zusammenarbeit, die sich für beide Seiten lohnt. Für uns ist der Middleware-Markt das Kerngeschäft, und wir planen nicht, in den Anwendungsmarkt einzusteigen.

CW: Sonst ist die IBM doch auch bestrebt, die Wertschöpfungskette zu verbreitern, beispielsweise auf der Serviceseite mit der Sparte Unternehmensberatung?

RAIZNER: Aus heutiger Sicht war es die absolut richtige Entscheidung, dass sich IBM aus dem Applikationsgeschäft verabschiedet hat. Wir machen mit den großen ISVs, ob das SAP oder Peoplesoft ist, ein enormes Geschäft. Wir machen sicher noch nicht genug Geschäft mit den lokalen Softwareanbietern. Das muss IBM stärker forcieren. Ich bin mir sicher, dass dabei für beide Seiten genug zu holen ist. Der Kuchen ist groß genug für alle.

CW: IBM will die ISVs mit Middleware unterstützen. Mit "San Francisco hat IBM vor Jahren schon einmal versucht, einen Baukasten für die Softwareentwicklung zu liefern, was jedoch scheiterte. Wie möchten Sie diesmal vorgehen?

RAIZNER: Diese Versuche stammten aus einer anderen Zeit. Damals haben noch proprietäre Systeme und Architekturen eine gewisse Rolle gespielt. Das ist vorbei. Es zeigt sich, dass sich die Kunden aus diesen Umklammerungen lösen wollen. Nicht umsonst geht der Trend in Richtung Java und Linux. Deshalb muss auch IBM seinen Kunden und Partnern klare und vor allem offene Entwicklungs- und Systemumgebungen bieten.

CW: In Sachen Plattformen haben sich zwei große Lager gebildet: auf der einen Seite IBM mit dem Java/Linux-Ansatz, auf der anderen Microsoft mit .NET und fertigen Lösungen der Partner. Wie wird sich dieses Verhältnis künftig entwickeln?

RAIZNER: Im Markt wird sich mehr und mehr die Erkenntnis durchsetzen, dass die Stärke von Microsoft nur durch seine starke Marktdurchdringung entsteht. Im Grunde stecken die Kunden aber doch in einer proprietären Umgebung. Da wollen sie raus. Deshalb sehen wir auch im Linux-Umfeld momentan ein so starkes Wachstum. Das wird sich auch die nächsten Jahre so fortsetzen. Allerdings muss man ein wenig Geduld haben: Linux wird sicher nicht in den nächsten zwei bis drei Jahren das Microsoft-Monopol auf dem Desktop brechen können.

CW: Läuft dieser Ansatz auf eine Konfrontation mit Microsoft hinaus?

RAIZNER: Wo es Wettbewerb gibt, kommt es zu Konfrontationen. Das ist etwas ganz Natürliches.

CW: Allerdings hatten wir in den vergangenen fünf bis sechs Jahren eine relativ ideologiefreie Zeit ...

RAIZNER (lacht): Diese Zeit war nicht ideologiefrei, sondern wahlfrei.

CW: ... und es wurde kaum über Plattformen oder Welten diskutiert. Jetzt scheint sich aber wieder eine Art Blockbildung abzuzeichnen?

RAIZNER: Ich will mir kein Urteil darüber erlauben, ob die Blöcke heftiger aufeinander prallen oder nicht. Dem Kunden ist es letztendlich egal, ob seine IT unter Linux, Unix oder einer Microsoft-Plattform läuft. Er will nur nicht das Gefühl haben, irgendeinem Anbieter ausgeliefert zu sein. Das möchte der Großkunde nicht und der kleine Mittelständler, der vorher vielleicht nie darüber nachgedacht hat, auch nicht.

CW: Aber liefern sich die Kunden letzten Endes bei einer Entscheidung pro IBM nicht auch Ihrer Systemwelt aus?

RAIZNER: Nein. Linux ist eine offene Bewegung. Die Kunden können sich neben IBM auch für Hewlett-Packard oder Sun entscheiden. Sie können jeden Hersteller wählen, der diese Plattform unterstützt. Das sind glücklicherweise inzwischen viele. Der Migrationsaufwand ist nachgewiesenermaßen minimal, und auch die Vorteile in Sachen Sicherheit und Verfügbarkeit sind klar erkannt. Es gibt in diesem Bereich überhaupt kein Bestreben von irgendeiner Seite, geschweige denn von IBM, ein proprietäres System aufzubauen und die Kunden damit gefangen zu nehmen.

CW: Welche Rolle soll Java aus Ihrer Sicht in diesem Open-Source-Kontext spielen?

RAIZNER (zögernd): Das sind schwebende Verfahren.

CW: Das mag sein. Aber ist es nicht so, dass Java eine tragende Rolle in Ihrer Strategie spielt und es IBM ein Dorn im Auge sein muss, dass mit Sun ein anderer Hersteller alle Rechte an Java besitzt, obwohl inzwischen IBM den Großteil der Java-Weiterentwicklung treibt?

RAIZNER: Absolut. Derzeit arbeiten bei der IBM rund 4000 Mitarbeiter an Java. Das zeigt natürlich schon, dass wir stark darauf hinarbeiten, auf Standards basierende Softwarelösungen im Markt zu etablieren. Es liegt jedoch nicht in unserer Macht, die Freigabe von Java als Open-Source-Lösung im Markt zu forcieren. Aber es ist fraglich, ob das so bleibt. Man kann heute keine proprietäre Umgebung auf Dauer aufrechterhalten.

CW: Machen Sie sich Sorgen um Sun?

RAIZNER: Nein - warum sollte ich?

CW: Derzeit ist die Plattform über den Java Community Process eine relativ offene Angelegenheit. Das könnte sich allerdings schlagartig ändern, wenn Sun, das als potenzielles Akquiseziel gilt, übernommen wird. Dann könnten IBM ähnliche Probleme ins Haus stehen wie derzeit mit SCO und Linux.

RAIZNER: Darüber möchte ich nicht spekulieren. Es geht mich zum Glück auch wenig an, was derzeit mit Sun passiert. Ob die Firma übernommen wird oder nicht, wird die Zeit zeigen. Ich bin ziemlich zurückhaltend im Kommentieren derartiger Spekulationen.

CW: Wie passt das On-Demand-Modell in das IBM-Konzept? Müssen Sie nicht beispielsweise beim Software-Pricing verstärkt auf neue Modelle drängen?

RAIZNER: Sicher werden sich die Softwareanbieter künftig mehr Gedanken darüber machen müssen, wie sie ihre Preise entsprechend dem On-Demand-Modell gestalten können. Das ist für die Anbieter, die auf feste Umsatzströme angewiesen sind, eine Herausforderung. Aber ich glaube, der Markt bewegt sich in diese Richtung, und die Softwareanbieter müssen sich darauf einstellen.

CW: Jetzt adressiert IBM verstärkt den Mittelstand. Ist damit auch die Zeit gekommen, dort das On-Demand-Modell zu etablieren?

RAIZNER: Die großen Firmen haben die ersten Schritte in Richtung On-Demand gemacht. Das Konzept wird sich aber bestimmt auch im gehobenen Mittelstand durchsetzen. Für kleinere Firmen dürften dagegen eher Einzelaspekte wie E-Business-On-Demand interessant sein, nicht so sehr der große Gedanke von der Business Transformation.

CW: Was halten Sie in diesem Zusammenhang von dem Thema Business Process Outsourcing (BPO)?

RAIZNER: BPO ist ein Additiv zum herkömmlichen Outsourcing-Geschäft. Allerdings muss man das Thema sehr selektiv angehen. Im Markt gibt es einzelne Beispiele, wie die Dresdner Bank, die ihre Transaktionsprozesse ausgelagert hat. Das sind sicher Dinge, die mehr und mehr kommen werden - wenn es sich für den Kunden rechnet.

CW: Lässt sich Ihre Antwort als eine gewisse Zurückhaltung interpretieren?

RAIZNER: Das ist keine Zurückhaltung. Wenn Sie sich unsere Referenzliste ansehen, finden Sie eine große Zahl an Projekten. Andererseits muss man sich aber fragen: Ist BPO das, worauf ich in diesem Jahr mein Geschäft aufbaue? Als Chance sicher, aber nicht als zentrales Element. Ich erwarte nicht, dass da über Nacht eine Lawine losgetreten wird. Outsourcing ist auch nicht über Nacht entstanden.

Neue Struktur bei IBM

Die IBM müsse, wenn sie Kunden eine horizontale Integration empfehle, selbst mehr integrieren und die verschiedenen Bereiche zusammenbringen, hatte IBMs Deutschland-Chef Walter Raizner vor genau einem Jahr gefordert. Daher arbeite IBM intensiv daran, die interne Organisation und das Management-System anzupassen, um die Kommunikation und Zusammenarbeit wieder mehr zu fördern. Zwölf Monate später zieht Raizner eine positive Zwischenbilanz der Umstrukturierung. Mit dem Thema horizontale Integration sei es IBM gelungen, die Schlagzahl zu erhöhen. In der Vergangenheit habe sich der Konzern in den einzelnen Geschäftsbereichen völlig verschieden aufgestellt. Während sich ein Segment an den verschiedenen Regionen orientierte, hätten andere IBM-Bereiche sich nach ganz anderen Kriterien organisiert. In der Zwischenzeit seien alle Business-Units von der Hardware über die Software bis hin zu den Services nach Kundensegmenten gegliedert worden, berichtet Raizner. Heute sei es einfacher zusammenzuarbeiten, weil es weniger Überlappungen gebe.