Kulturelle Unterschiede zwischen IBM und Apple extrem Taligent: Traumziel oder unerfuellbarer Wunschtraum Von Susanne Mueller-Zantop*

28.05.1993

Die gemeinsame Firma von Apple und IBM ist immer wieder Anlass zu Spekulationen ueber die Zukunft unserer Desktops. Wie wichtig ist das Joint-venture der einstigen

Erzrivalen wirklich?

Es ist im Juli zwei Jahre her, dass IBM und Apple ihre Zusammenarbeit bekanntgegeben haben. Die Arbeiten an Apples objektorientiertem Pink-Betriebssystem und IBMs Constellation- Projekt fuer neuartige objektorientierte Anwendungsentwicklung sollten damals zusammengelegt werden.

Das 1988 gestartete Constellation-Projekt hatte eigentlich einen gemeinsamen Layer entwickeln sollen, der unter anderem auf Windows, OS/2 und Mac sitzen und eine gemeinsame objektorientierte Schicht ueber all diese Betriebssysteme legen sollte. Auf lange Sicht hatte man vor, ein voellig neues, objektorientiertes Betriebssystem zu schreiben.

Zu beidem kam es nicht mehr. Denn was Apple 1991 herausbrachte, war bereits ein gut durchdachtes und entwickeltes, heute als objektbasiert bezeichnetes Betriebssystem.

Pink enthaelt heute weit mehr als eine Million Lines of code. Darunter ist eine Menge interessanter Funktionen, die bisher versteckt in Anwendungsprogrammen waren und nun einzelnen Applikationen zur Verfuegung stehen, zum Beispiel "Rich Text" und "Rich Graphics". Viele Komponenten des Pink-Betriebssystems selber werden austauschbar beziehungsweise bei Bedarf installierbar sein. Hierzu stehen sogenannte Frameworks zur Verfuegung, in die die Wunschkomponenten eingebettet werden sollen.

Das Betriebssystem ist demnach eine Kollektion von untereinander austauschbaren Objekten (manche Leute vergleichen das Prinzip mit Legosteinen). Dadurch ist es moeglich, Aenderungen bei der darunterliegenden Hardware in sehr kurzer Zeit nachzuvollziehen. Installierbare Dateisysteme wie bei Microsoft NT sind nur ein erster Schritt dorthin. Anstatt objektorientierte Layers auf konventionellen Betriebssystemen anzubieten, ist Pink von Grund auf objektorientiert entworfen worden. Connectivity-Optionen wie Netzwerk-Protokolle, TCP/IP, SPX/IPX und die Komponenten zum Abspielen von Fremdanwendungen werden als "Adapter" bezeichnet, die Dritte fuer Pink programmieren sollen. Das will man nicht alles selber tun.

Zusammenarbeit mit

IBM wirkt bremsend

Zu Beginn der Zusammenarbeit zwischen IBM und Apple entstand auch die Frage, wie man einige Resultate des IBM- Constellation- Projekts in die innovative Anwendungsentwicklung einbringen und sie oberhalb von Pink implementieren koennte.

Es dauerte aber sehr lange, bis die endgueltige Firmenstruktur des Taligent-Ventures feststand. Der Grund dafuer lag darin, dass die amerikanische Kartellbehoerde FTC ihre Zustimmung erteilen musste, was erst im Januar 1992 erfolgt ist. Die Wahl des Firmenchefs war ebenfalls langwierig und kompliziert. Der fuer fachliche Kompetenz und visionaere Kraft bekannte David Liddle verliess das Venture noch vor seiner formalen Gruendung. An seine Stelle trat der nicht unumstrittene Joe Guglielmi von IBM, der erst im Juni 1992 von der amerikanischen Ostkueste zu seinen Mitarbeitern nach Santa Clara in Silicon Valley gezogen ist. (Guglielmi muesste deutschen IBMern bekannt sein, er hatte von 1975-78 in Boeblingen die weltweite Business- und Planungsverantwortung fuer die 4300). "Striking differences" zwischen IBMern und Apple-Mitarbeitern gibt Guglielmi zu. Doch auch er beschwoert immer wieder das gemeinsame Ziel, das jeder mit gleichem Elan verfolge und das alle Unterschiede zwischen den Kulturen aufhebe.

Bis Taligent real existierte, mussten die Mitarbeiter an verschiedenen Orten in Silicon Valley arbeiten. Solange der Zusammenschluss nicht legal war, waren alle Personen auf strenge Geheimhaltung verpflichtet, sie konnten zum Beispiel keinen Code untereinander austauschen.

Nachdem die Firma am

2. Maerz 1992 offiziell gegruendet werden konnte, hatte Joe Guglielmi seine Management-Struktur recht bald zusammen. Das Team nahm seine Arbeit auf. Heute, im Sommer 1993, hat Taligent zirka 200 Mitarbeiter, davon sind etwa 120 mit Programmierung und Tests befasst.

Die Prioritaeten der

Taligent-Entwickler

Die Taligent-Leute setzen folgende Prioritaet: Zunaechst einmal will man so bald wie moeglich fertige Produkte vorzeigen koennen, die "spannend" sind, "aufregende" Funktionen haben. Sie werden zunaechst nicht perfekt sein, aber das wird im Vorfeld toleriert. Der Zeitrahmen wird als sehr eng angesehen, denn Microsoft ist mit dem Windows-Cairo-Projekt fuer NT schon recht gut vorangeschritten. Man muss nun bald Third-party-Entwicklern das System zeigen, damit sie sich mit der veraenderten Programmiermethodik auseinandersetzen und Code schreiben koennen. Bislang hat noch kaum ein Aussenstehender Pink gesehen, Einladungen nach Cupertino werden sehr spaerlich aussprochen.

Offensichtlich kann Joe Guglielmi als Chef von Taligent nicht selbst bestimmen, wann er mit Pink an die Oeffentlichkeit geht. Die Draehte zur Mutterfirma und speziell zu Jim Cannavino sind sehr eng gespannt.

Guglielmi hatte gegenueber dem "San Francisco Examiner"

noch im April 1992 den Anteil von Pink am gesamten Projekt heruntergespielt: "Pink war eine substantielle Anstrengung, die mit sehr hohem finanziellen Aufwand fuer Entwicklung und Forschung, fuer architektonisches Design und Codierung einherging. Es ist ein Forschungsprojekt, das viele verschiedene Technologien kombiniert. Nun wollen wir die Sache von einer Forschungs- auf eine Produktstruktur bringen."

Parallel zu Pink arbeitet man bei Taligent an einer neuen Methode fuer Endbenutzer-Programmierung. Im Unterschied zu anderen Firmen zielt man damit nicht auf Softwarehaeuser, sondern auf Mitarbeiter von Anwenderfirmen, die eigene Softwareprojekte durchfuehren. Taligent ist besonders interessant fuer Entwickler, die kommerzielle Anwendungen unter Cii oder Smalltalk schreiben, um sie innerhalb ihrer Firmen zu implementieren.

Diesen Personen will man helfen, viel Zeit zu sparen. Anwendungen sollen mit Pink schneller und billiger herzustellen sein als bisher gewohnt. Dazu sollen objektbasierte Entwicklungswerkzeuge und die echte Wiederverwendbarkeit von Komponenten dienen. Taligent begreift es als eine seiner groessten Herausforderungen, Werkzeuge fuer automatisches Testen bereitzustellen.

Entwickler in Firmen, die sich heute schon auf Taligent-Zeiten vorbereiten wollen, sollen laut Taligent vor allem mit Mac App spielen und Erfahrung in Cii oder Smalltalk sammeln, um die Methodik der objektbasierten Systeme zu verinnerlichen. Joe Guglielmi traf im Gespraech die erstaunliche Feststellung, dass man auch mit der Programmierung unter Sun Solaris absolut in die richtige Richtung gehe.

Auf die Frage, ob die daraus entstehenden Anwendungen unter Pink ablauffaehig sein wuerden, sagte Guglielmi: "Das ist noch unklar. Es koennte tatsaechlich der Fall sein, aus heutiger Sicht betrachtet. Wir machen ja Fortschritte, und unsere Idee ist, dass wir einiges von unserer Technologie nehmen und auf den Macintosh, auf OS/2 und AIX obendrauf setzen, so dass sie auch von unseren neuen Werkzeugen Gebrauch machen koennen. Also werden heutige Anwendungen in ihrer bestehenden Umgebung von unserer Technologie profitieren. Doch wir wollen eigentlich, dass die Leute Anwendungen in unserem nativen Environment schreiben.

Dazu muss man natuerlich Funktionen bereitstellen, mit denen Anwender ihre bestehenden Anwendungen in die neue Umgebung portieren koennen. Der Kunde muss die Wahl haben."

Guglielmi dazu im Februar 1992, einen Tag nach seiner Ernennung zum Taligent-CEO: "Wir glauben zur Zeit, dass Anwender einfach ihre Anwendungen nehmen und sie auf dem neuen Betriebssystem laufen lassen, etwa so, wie Windows-Anwendungen unter OS/2 oder DOS- Anwendungen unter OS/2 laufen werden."

Partnerschaft

mit IBM und Apple

Wen hat Taligent als Mitbewerber im Markt ausgemacht, oder sind Pink und seine Entwicklungsumgebung so neuartig, dass es keine konkurrierenden Projekte in der Software-Industrie gibt? Taligents Manager Vendor Relationship, Burlington, aeusserte dazu: "Schwierige Frage. Ich sage es mal so: Microsoft, Sun, IBM und Apple. Langfristig werden wir wahrscheinlich eine gute Partnerschaft mit IBM und Apple haben, doch zunaechst sind es Wettbewerber fuer uns. Auch Novell wird gleichzeitig Partner und Wettbewerber sein. Wir muessen mit Novell zusammenarbeiten, wenn wir erfolgreich sein und industrieweite Loesungen anbieten wollen. Ausserdem sehe ich uns eher auf der Client-Seite."

Neun

Fazits

- Die grossen Hersteller haben entdeckt, dass das Schlagwort von der Time based competition auch die Computerbranche selbst trifft. Diese unangenehme Erkenntnis daemmert langsam herauf. Guglielmi: "Unser primaeres Ziel besteht darin, ein Angebot so schnell wie moeglich auf den Markt zu bringen. Time to market ist essentiell fuer uns." Pink wird wohl nicht so frueh da sein, wie es gebraucht wuerde. Die Zusammenarbeit mit IBM hat das Projekt sehr verlangsamt.

- Die kulturellen Unterschiede zwischen IBM und Apple sind extrem gross, und in einer zeitkritischen Arbeitsatmosphaere werden sie noch groesser. Menschen vertragen keine Hektik bei der Loesung von psychologischen Problemen. Dem steht bei Microsoft eine ueber Jahre gewachsene Truppe von

Programmierern und eine Philosophie des inkrementellen Uebergangs in die Objektwelt gegenueber.

- Die Allianz ist primaer gegen Microsoft gerichtet. Man will die De-facto-Kontrolle von Microsoft ueber den Markt brechen und die Innovationen bei der Hardware wieder selber bestimmen koennen. Peter Lewisin von der "New York Times": "Ein objektorientiertes Betriebssystem wuerde es technisch innovativen Computerfirmen erlauben, ihren Hardwaremuskel spielen zu lassen, um Wettbewerbsvorteile zu erringen."

- Apple-erfahrene Programmierer sind im Vorteil. Sie haben heute schon einen kleinen Vorgeschmack auf das Kommende (Mac Apps) bekommen, sie erhalten die Power-Hardwareplattform fuer neue Anwendungen und bekamen eine Migrationsstrategie in die neue Welt aufgezeigt (Vital). Mit System 7 geht es weiter. Bei IBM-Kunden ist die Verwirrung nach wie vor gross. OS/2 wird als "Precursor" (Vorlaeufer)-System zu Pink bezeichnet. Man will OS/2 und AIX Konkurrenz machen, indem man dafuer sorgt, dass die entsprechenden Anwendungen unter Pink laufen. Diese Konkurrenz der Betriebssysteme bei IBM ist eine unangenehme Strategie. Ermuedungserscheinungen aufgrund staendiger Zweifel stellen sich ein.

- Die Frage nach der Weiterverwendbarkeit von Anwendungen unterliegt offensichtlich saisonalen Schwankungen. Es scheint, als habe man die Erwartungen bereits nach unten korrigiert. Indessen sollte bestehende Software weiter genutzt werden koennen, auch wenn man damit die Vorteile des objektbasierten Arbeitens teilweise wieder zunichte macht.

- Software wird tatsaechlich leichter, kleiner, passender. Burlington: "Individuelle Loesungen werden in Zukunft nicht mehr so teuer sein."

- Hardware-Innovationen werden auf der Softwareseite schneller beruecksichtigt. Es koennte tatsaechlich passieren, dass ein objektbasiertes 64-Bit-Betriebssystem schon vier Jahre nach der Vorstellung erster 64-Bit-Maschinen erhaeltlich ist.

Guglielmi: "Heute koennen ein paar Hardwarebastler eine ganze Armee von Softwareschreibern fuer sehr lange Zeit beschaeftigt halten."

- Taligent hat auf jeden Fall dann Erfolg, wenn sich Sun an die Allianz mit IBM und Apple bei verschiedenen Projekten anhaengt. Scott McNealy, der CEO von Sun, hat in letzter Zeit ueberraschend respektvoll von OS/2 und der Power-Plattform gesprochen.

- Wahrscheinlich werden die Wettbewerber an der Objektfront Sun, IBM und Microsoft sein. Ausschlaggebend fuer den Erfolg jeder dieser Firmen wird die installierte Basis sein, die in die neue Objektwelt mitgenommen werden kann. Es ist unbestritten, dass ein von Grund auf objektbasiertes Betriebssystem viele Vorteile bietet. In erster Linie ist hier die Austauschbarkeit von Komponenten zu nennen, das heisst, dass man ein oder mehrere Dateisysteme installieren kann, eigene Mail-Engines, eigene Treiberkollektionen. Den Bruch mit der Vergangenheit kann sich dabei niemand leisten.

*Susanne Mueller-Zantop ist Herausgeberin des PC-Newsletters "TidBits". Ihr

gehoert die Beratungsfirma MZ Projekte in Muenchen.