Zukunftsprognosen erscheinen dem Anwender oft verwirrend, denn:

Künstliche Intelligenz muß noch viel lernen

20.12.1985

Stark umstritten ist in der DV-Welt das neueste Renommierpferd der Hersteller und Software-Anbieter: die Künstliche Intelligenz. Prognostizieren ihre Verfechter dieser neuen Technik eine große Zukunft, so warnen die Kritiker vor sozialen Implikationen von unabschätzbarem Ausmaß. Der realen Situation eilen Hoffnungen wie Bemühungen indes weit voraus. .

Ist von "Künstlicher Intelligenz" oder "Artificial Intelligence" die Rede, so liegen Assoziationen zum japanischen Projekt der fünften Computergeneration, zu Objektorientierung, Parallelverarbeitung und modularen, nichtstrukturierten Sprachen meist nicht fern. Als weiteres Schlagwort fällt immer wieder die "Überwindung der von-Neumann-Philosophie". Eine präzise und allgemein anerkannte Definition des Begriffs "KI" existiert aber noch nicht.

Ungeachtet dieser normalerweise ziemlich vagen Vorstellungen ist das neue Kind der DV-Versuchsküchen jedoch aus dem Dunkel der Labors ans Licht der Öffentlichkeit getreten: Mittlerweile gibt es auf dem Markt bereits Hard- und Softwareerzeugnisse, bei denen Künstliche Intelligenz in der einen oder anderen Form Einzug gehalten hat.

Kl-Ansätze haben keine epochale Dimension

Das Leistungsangebot dieser Produkte jedoch, so bemängeln die Kritiker, stehe bislang in krassem Gegensatz zu einem weit verbreiteten Vorurteil: KI sei eine der umwälzendsten Innovationen in der Geschichte der Menschheit - im positiven wie im negativen Sinne. So konstatierte das Marktforschungsinstitut IDC in seinem EDP Report Deutschland ("Artificial Intelligence - Wissenschaft in den Kinderschuhen"):

"KI-Ansätze sind für Fachleute sicher sehr interessant, eine epochale Dimension nehmen sie jedoch nicht an."

Ganz ausrotten läßt sich der Glaube an die alles vermögende Wundermaschine indes nicht. Spätestens seit sich Hersteller wie Control Data, Digital Equipment, Data General, Nixdorf, Texas Instruments, Sperry und - last but not least - der Branchenprimus IBM in die neue Arena gewagt haben, warten nicht nur Laien auf eine Flut von neuen Produkten, die für jedes Problem mit einer Patentlösung aufwarten können.

Diese Hoffnung ist jedoch in jedem Falle illusorisch. Zunächst einmal handelt es sich bei den KI-Erzeugnissen um hochgradig spezialisierte Systeme, die gar nicht den "Ehrgeiz" haben, das gesamte DV-technische Spektrum auf einmal abzudecken. Sodann stecken viele Unterbereiche der Künstlichen Intelligenz, beispielsweise Sprachverarbeitung und Robotik unter Verwendung von KI-Komponenten, noch in den Kinderschuhen.

Bisher bei Expertensystemen kaum Markterfolge

Daraus ergibt sich, daß der Markt für Künstliche Intelligenz zumindest derzeit weitgehend gleichzusetzen ist mit dem Bereich Expertensysteme. Hier rechnen die Anbieter folglich auch am ehesten mit Gewinnen. So prognostizierte Wolfgang Brandes, Berater bei Arthur D. Little, für die nächsten Jahre zumindest in den Vereinigten Staaten einen KI-Boom. Den Bestand an eingesetzten Systemen schätzte die

US-Unternehmensberatung Ende 1984 auf über 100 Stück.

Ob das Geschäft in der Bundesrepublik Deutschland allerdings ähnlich gut anlaufen wird wie in Übersee, ist umstritten. Der deutsche Markt gilt in der Branche als sehr konservativ und wenig aufgeschlossen für Experimente. Kommentierte Brandes: "Mit Ausnahme von Großbritannien gibt es im Bereich Expertensysteme in Europa noch keine greifbaren Markterfolge." Dennoch zeigte sich der Berater optimistisch: In zwei Jahren, so glaubt er, könne die "Alte Welt" den Anschluß an die "Neue Welt" schaffen.

Expertensysteme um jeden Preis, so warnt allerdings Nandakishore Banerjee, Mitarbeiter im Bereich Datentechnik Expertensysteme bei der Siemens AG in München, können in keinem Fall eine universal gültige Lösung sein. Deshalb gibt der KI-Experte allen Interessenten den Rat, genau zu prüfen, ob sich in ihrem speziellen Fall der Einsatz eines Expertensystems überhaupt lohne.

Erster Schritt müsse immer die Prüfung sein, ob das individuelle Problem nicht auch mit Hilfe einer herkömmlichen Programmiersprache lösbar sei. Zeige sich, daß der Einsatz von Prolog oder Lisp unumgänglich werde, seien wiederum die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Anwendung abzuklären.

Probleme bei der Entwicklung von Expertensystemen sieht Joachim Stender, Geschäftsführer der Brainware GmbH, Wiesbaden, nicht so sehr in der technischen Realisierung der Produkte. Kritische Punkte bestünden vielmehr in der Wissensakquisition, der Weitergabe von Experten-Know-how sowie dem Fassen der vorhandenen Kenntnisse in Regeln.

Zu lösen bleibe ferner die Frage, wie sich Wissensbanken realisieren lassen, die sich aufgrund bekannter Fakten ständig selbst aktualisieren. Für den praktischen Einsatz seien solche Konzepte noch nicht verfügbar.

Viel versprechen sich die Verfechter der Künstlichen Intelligenz von einer "Eheschließung" zwischen Datenbanken und KI-Systemen. Eine praktische Realisierung stehe kurz bevor, heißt es in Insiderkreisen. Inzwischen, weiß der EDP Industry Report der IDC zu melden, unterweise die IBM bestimmte Benutzer ihrer Systeme in der Integration von Wissensbasen und Datenbanken.

Als Handicap für die gesamte Branche erweist sich hingegen vor allem, daß es bisher sehr wenige Anwendungsgebiete gibt, in denen Expertensysteme den Praxistest bestanden haben. Zu nennen sind hier neben militärischen Applikationen, über die normalerweise nur ein begrenztes Maß an Informationen herausgegeben wird, vor allem Lösungen für den medizinischen Bereich. Offshore-Ölbohrung, chemische Analyseverfahren sowie Maschinenbau sind weitere Paradebereiche für den Einsatz der neuen Technologie.

Mühsame Anpassung an bundesdeutsche Normen

Weniger positiv sieht es - zumindest in der Bundesrepublik - mit dem Einsatz von Expertensystemen in der kommerziellen Datenverarbeitung aus: US-Produkte kommen fast immer zeitlich versetzt nach Europa und entsprechen oft nicht den Anforderungen der hiesigen Interessenten oder müssen erst mühsam bundesdeutschen Normen angepaßt werden. Einheimische KI-Software gibt es vorläufig nur in relativ geringem Maße, da angesichts der hohen Kosten praktisch nur Großunternehmen als Anwender in Frage kommen. Damit ist der Kundenkreis von vornherein limitiert, und der Entwicklungsaufwand läßt sich nur bedingt rechtfertigen.

Kommerzielle Anwendungen in den USA konzentrieren sich nach Aussage von ADL-Berater Brandes auf Portfoliomethoden für die strategische Planung, entscheidungsunterstützende Systeme im finanziellen Bereich sowie politische Risikoanalyse und ökonomische Szenarios.

Haupteinsatzbereich für Expertensysteme bleibt allerdings die DV-interne Verwaltung. Neben Programmen für die Rechnerkonfigurierung und Supportunterstützung zeichnet sich für Brainware-Geschäftsführung Joachim Stender noch ein weiterer Verwendungszweck ab: Das Freischaufeln der Entwicklungsabteilungen durch Rückfragen von seiten des Vertriebs.

Akzeptanzprobleme belasten derzeit den Einsatz

Als weiteren wichtigen Einsatzbereich von Expertensystemen nennt Siemens-Experte Banerjee die Ausbildung. Zu seinem Leidwesen krankt es hier in der Bundesrepublik im Vergleich zu den Vereinigten Staaten ganz erheblich. Hauptgrund hierfür sei die mangelnde Verfügbarkeit von geeignetem Equipment- und entsprechender Software an den Hochschulen. Nicht nur Engpässe bei den finanziellen Ressourcen müßten hierfür verantwortlich gemacht werden, sondern vor allem auch Schwellenangst bei Studenten und Professoren.

Mit Akzeptanzproblemen haben die KI-Anbieter auch in Großunternehmen zu kämpfen. Als Hauptschwierigkeit gilt dabei, daß Programmierer, die mit herkömmlichen Sprachen wie Cobol, Fortran oder Pascal großgeworden sind, meist nur schwer mit der neuen Denkweise Freundschaft schließen.

Hinzu kommt in vielen Fällen auch die Angst, von einer Maschine "wegrationalisiert" zu werden. Einer solchen Argumentation hält KI-Kenner Banerjee allerdings entgegen: "Expertensysteme sind für den Einsatz als Expertenunterstützungssystem konzipiert. Kl-Software, die den Menschen ersetzt, gibt es nicht. Eine solche Entwicklung läßt sich auch in keiner Weise absehen."