Kritischer Technikpessimismus zuwenig - sensible Durchsetzungsstrategie zwingend

18.04.1980

Dr. Fritz Rudolf Güntsch

Ministerialdirektor beim Bundesministerium für Forschung und Technologie, Abteilung 4: Datenverarbeitung, Elektronik, Information und Dokumentation

Soziale Veränderungen durch technischen Wandel gab es schon immer. Landflucht und Weberaufstand sind beredete Beispiele, und die Fließbandarbeit, die heute die modernen Massenproduktionsstätten prägt, hat die Arbeitswelt nicht nur beeinflußt, sonder geradezu umgekrempelt. Dennoch mehren sich die Stimmen, die gerade in der Mikroelektronik einen ganz besonderen Auslösefaktor sehen.

Die Wissenschaftler, die diesem Phänomen nachgegangen sind, sagen, daß es nicht möglich sei, die Ursache-Wirkungs-Beziehungen in dem behauptetem Ausmaß auf die Mikroelektronik zurückzuführen. Sie schätzen den Einfluß allgemeiner nicht technisch oder nicht aus der Elektronik begründeter und vom Wettbewerb erzwungener Veränderungen höher ein. Es gibt keinen Beweis dafür, daß die Informationstechnik wirklich so etwas Besonderes ist, wie es der journalistische Begriff "Job-Killer" unterlegt.

Andererseits wäre es aber leichtsinnig, wenn man sich daraufhin in Sicherheit wiegen würde, denn die Erfahrungen mit der Vergangenheit und Gegenwart müssen nicht unbedingt auch für die Zukunft gelten. An der Schwelle der Zukunft gilt allerdings die Spekulation. Ich werde darauf noch einmal zurückkommen. Lassen Sie uns statt dessen einen Blick auf das Umfeld der Informationstechnik werfen.

Die maschinellen Revolutionen und instrumentiellen Entwicklungen haben unsere Muskeln gestärkt und unsere Sinne geschärft. Es sind aber nicht so sehr die physischen Fähigkeiten, auf die sich der Mensch beruft, wenn er sich für die Krone der Schöpfung hält. Die Inforinationstechnik wendet sich nun an unsere geistigen und sozialen Fähigkeiten, und da sind wir wesentlich sensibler.

Eine Technik, die so unmittelbar an konstitutive Elemente unseres Menschseins anknüpft, die komplex und schwer zu verstehen ist, die allgegenwärtig große Wirkungen ausübt, ist dazu prädestiniert, Angst zu erzeugen. Nun ist aber seit alters her bekannt, daß Angst leichter zu ertragen ist, wenn sie sich auf ein Objekt fixieren läßt. Gespenster wandeln namenlose Angst zur Furcht und wirken so fast sympatisch. Solche Objekte schaffen sich die Menschen gern und die Medien helfen ihnen dabei. Man könnte fast sagen: Gäbe es keine Mikrocomputer, würden sie wahrscheinlich aus diesem Grunde erfunden.

Die Rationalisierung der Landwirtschaft wurde aufgefangen durch das Aufblühen der Industrie in den Städten. Die zunehmende Produktivkraft der Landwirtschaft finanzierte die junge Industrie und durch ihre wachsende Produktivität versorgte sie die Industrie mit Menschen. Bei der darauf folgenden und bis heute anhaltenden Rationalisierung in der Industrie richtet sich die Hoffnung vielfach auf den Dienstleistungssektor, der längerfristig neue Beschäftigungsmöglichkeiten bieten könnte. Hier stellen sich nun doch sehr kritische Fragen. Zum einen wächst der Dienstleistungssektor nicht so rasch, wie er das mußte, um einen vollen Ausgleich zu schaffen. Im Gegenteil, sein Anteil am Bruttosozialprodukt verharrt in den letzten Jahren bei ungefährt 1/3. Zum anderen - und da kommt die Informationstechnik ins Spiel - wird er selbst von der Rationalisierung erfaßt, wenn öffentliche und industrielle Verwaltungen sich mehr und mehr der Informationstechnik bedienen.

Seit die Informationstechnik die Büros erfaßt, erreicht sie auch die Intellektuellen und damit die Wissenschaftler selber und ihre soziale Schicht. Sie, die bisher das Geschehen aus der Distanz betrachteten, werden nun in das Geschehen einbezogen. Erheben sie deshalb erst jetzt ihre Stimme so laut?

Worauf muß man achten, wenn man sich mit den Wirkungen der Informationstechnik auseinandersetzen will?

Zunächst einmal sind punktuelle Ansätze, isolierte Gedankengänge wenig hilfreich, wenn sie außeracht lassen, daß wir jeder einzeln und als Gemeinschaft im Schnittpunkt eines komplizierten Geflechtes gegenläufiger Interessen und Ziele leben. Wir müssen uns wohl alle gelegentlich daran erinnern lassen, daß wir in einem Zusammenhang etwas fordern, dessen Folgen wir in einem anderen Zusammenhang vermeiden wollen.

- Wir möchten unsere Privatsphäre geschützt - aber auch Verbrechen schnell und lückenlos aufgeklärt haben.

- Wir möchten höhere Löhne und Gehälter haben - aber die Relation zwischen Personal- und Sachkosten in der Wirtschaft nicht so verschieben, daß durch Rationalisierung Arbeitsplätze gefährdet werden.

- Wir möchten eine möglichst gerecht, also differenziert, schnell und billig arbeitende Verwaltung, aber keinen Computer als Partner des Bürgers etc. . . .

Es ist also, meine ich, besonders wichtig, vor das Urteil "Mikroprozessor, Bildschirmarbeitsplatz gut oder böse" eine besondere Anstrengung zu setzen, aus der Analyse und Bewertung der verschiedenen, sich häufig widersprechenden Wirkungen in den Zielbereichen ausgewogene Schlußfolgerungen für Einzelfragen abzuleiten.

Neben dem intuitiv oder systematisch aus ihrer Erfahrung abgeleiteten Urteil der Praktiker sollte die Wissenschaft ihren Beitrag zu solchen Kenntnissen leisten, es sollte also eine starke, aber auch eine gute Wirkungsforschung geben. Diese Forderung ist nicht leicht zu erfüllen, weil es nicht viele Wissenschaftler geben kann, die praktische Erfahrung mit wissenschaftlicher Qualifikation auf mehreren ,weit auseinanderliegenden Wissensgebieten verbinden. Überdies müssen sich diese Wissenschaftler mit dem uralten Problem jener Rand- und Zwischengebiete klassischer Disziplinen auseinandersetzen, die öffentliches Interesse erregen (ich erinnere an die Frühzeit der Psychologie). Sie sind seit jeher ein Tummelplatz dilettantischer und professioneller Pseudowissenschaftlichkeit und kommen so leicht in Verruf.

Wir müssen uns daher alle bemühen, solche Einflüsse zu dämpfen, aber auch die wissenschaftlich respektablen Ansätze wirksam zu stützen und zu schützen.

Auf einem Gebiet, wie dem unseren, kann es nicht ausbleiben, daß der Prozeß der Meinungsbildung und Entscheidung im wechselseitigen Austausch von Behauptungen und Argumenten besonders anfällig ist gegen tendenzielle Argumentation. Es liegt also in unser aller Interesse, das jeweils alle wichtigen Meinungen und Gedankengänge durchgearbeitet und vernehmlich präsentiert werden. So fällt es beispielsweise auf, daß der Grundtenor der Wirkungsforscher ein ausgeprägter Technik-Pessimismus ist. Es ist sicher nichts dagegen einzuwenden, wenn die Wissenschaft die sogenannten Sachzwänge, wie Rationalisierung, mehr Konsum und wirtschaftliches Wachstum zunächst in Frage stellt. Nur: Wohin gerät eine Gesellschaft, die sich selbst ihre Zukunft abspricht und sich nur noch defensiv verhalten will, die ihrer Kritik kein positives Ziel und keine Entwicklungsperspektive entgegenzuhalten hat? Wo also bleiben die Stimmen derer, die überzeugt sind, das die Probleme auch mit einer Vorwärtsstrategie zu lösen sind? Die Literatur ist hier alles andere als ausgewogen. Es gilt hier eine Balance zu finden zwischen der notwendigen Sensibilität gegenüber den möglichen Gefahren der Informationstechnik (aber ohne a priori-Verteufelung einzelner Symbole - etwa Mikroprozessor und Bildschirm) einerseits und dem für unser Überleben als wohlhabende Industrienation zwingend erforderlichen Impetus in Richtung auf eine rechtzeitigen breite und kluge Anwendung dieser Technik (aber nicht die reine Durchsetzungsstrategie) andererseits. Wahrscheinlich führt in der Wirkungsforschung ein pluralistischer Ansatz weiter: Die freimütige und aktive Äußerung aus unterschiedlichen Interessenlagen und Positionen heraus. Diese muß man dann kontrovers diskutieren.

Aus einem Vortrag, den Dr. Fritz Rudolf Güntsch am 29. Februar in Hamburg vor dem Verband für Informationsverarbeitung e. V. (ADI früher ADL) gehalten hat.