Konventionelle DV stößt bei komplexen Entscheidungen an ihre Grenzen, denn:Top-Manager brauchen ein flexibles Planungsinstrument

02.10.1987

Bei Entscheidungen auf Management-Ebene ist der gesunde Menschenverstand nach wie vor "Planungsinstrument Nummer eins". Denn meist reichen die Mittel der konventionellen Datenverarbeitung nicht aus, um bei den hier anstehenden komplexen Problemen und Aufgaben eine echte Entscheidungshilfe zu bieten. Inwieweit Expertensysteme diese Rolle übernehmen können, wo ihre Grenzen liegen, und welche Anwendungen Erfolg versprechen, analysiert Harald Henn* in seinem Beitrag.

Die Situation in der Unternehmensführung ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl möglicher Vorgehensweisen. Entscheidungen beruhen zum großen Teil auf Annahmen und Schätzungen; die Auswirkungen sind mathematisch nicht immer eindeutig beschreibbar. Hinzu kommt, daß sich die Aufgaben nur schlecht strukturieren lassen und einen funktionsübergreifenden Charakter besitzen. Es verwundert daher nicht, daß weder formalisierte Planungsinstrumente noch die konventionelle Datenverarbeitung eine breite Akzeptanz zur Unterstützung des Managements bei Planungsaufgaben gefunden haben.

Der Zwang, starren, vorgegebenen Denkschemata folgen zu müssen, sowie die Angst, die Intuition bleibe dabei auf der Strecke, sind zwei Hauptgründe, warum der gesunde Menschenverstand nach wie vor "Planungsinstrument Nr. 1" ist. Dabei besteht gerade angesichts sich rasch ändernder Wettbewerbsbedingungen ein enormes Defizit an strategisch ausgerichteten Informationssystemen.

Aktuelle Untersuchungen belegen, daß das Gewinnen und Aufbereiten von Informationen einen wesentlichen Engpaßfaktor für strategische Entscheidungen darstellt. Die wesentlichen Fragen, um langfristige Entscheidungen fundieren zu können, werden in den seltensten Fällen beantwortet:

- Welche Auswirkung auf den Absatz hat eine Preisreduktion des Mitbewerbers?

- Wie ist zu erreichen, daß der Deckungsbeitrag trotz gestiegener Provisionen stabil bleibt?

Die Antwort darauf verlangt nach einem Planungsinstrument, das die relevanten Informationen rechtzeitig bereitgestellt, sie auf die wesentlichen Fragen hin verdichtet und den veränderten Situationen entsprechend anpaßt. Schon zu Anfang der siebziger Jahre gab es die ersten Entwicklungen von Planungssprachen, die aus diesen Anforderungen heraus entwickelt wurden.

Die Aufteilung dieser Sprachen in eine Datenbank, Methoden- und Modellbank sowie eine komfortable Benutzerschnittstelle weist zur konventionellen Datenverarbeitung bereits erhebliche Vorteile auf. Statt der Programmiersprachen gibt es eine Eingabeform, die an die Geschäftssprache angelehnt ist. Dies erlaubt den Fachabteilungen, direkt und ohne Übersetzer aus dem DV-Bereich mit dem System zu arbeiten. Die Eingaben können weitestgehend unstrukturiert vorgenommen werden, was den menschlichen Denkgewohnheiten schon erheblich entgegenkommt.

Für unterschiedliche Szenarien und deren Auswirkungen gibt es neben den "Was-ist-wenn"-Fragen, die heute standardmäßig in jedem Tabellenkalkulationprogramm vorhanden sind, eine Reihe von verbesserten und verfeinerten Methoden für Sensitivitätsanalysen, Monte-Carlo-Simulation bis hin zu Werkzeugen für Optimierungsaufgaben. Mit solchen Planungssprachen lassen sich bereits viele Aufgaben des Managements unterstützen. Der einengende Faktor dieser Planungsprachen liegt darin begründet, daß sie sich nur innerhalb der vom Anwender vorgezeichneten Lösung bewegen können.

Nicht immer verfügt der einzelne jedoch über alle Fakten, die für die Entscheidungsfindung relevant sind. Expertensysteme, die auf der Basis der KI-Methodik entwickelt sind, bilden in abgegrenzten Fachgebieten das Sach- und Erfahrungswissen von Experten nach und simulieren bei der Lösung von Problemen sein Vorgehen. Auch mathematisch nicht eindeutig beschreibbares Wissen (Daumenregeln) kann abgespeichert werden, Sie sind so ausgerichtet, daß nicht - wie bei der konventionellen DV üblich - die einzelnen strukturierte Lösung im Vordergrund steht, sondern die Beschreibung der Aufgaben und ihre Lösungstechnik.

Ein wesentliches Merkmal eines Expertensystems ist die Erklärungskomponente. Sie gibt Auskunft darüber, zu welchen Schlußfolgerungen das System gelangt ist, und welche Regeln und Fakten dabei benutzt wurden. Im Idealfall ist das System in der Lage, neues Wissen zu integrieren und vom Benutzer zu lernen.

Auf dem Weg von der Theorie zum praktischen Einsatz gibt es allerdings einige Hürden, die den Nutzen von Expertensystemen als Führungsinstrument im Management stark einschränken. Bevor man das Wissen von Experten in das System eingibt, muß man es erst einmal in mühevollen Interviews aus den Fachleuten herausholen. Jeder, der schon selbst einmal in einer vergleichbaren Situation war, kann beurteilen, wie schwierig es ist, Erfahrungswerte anderen so mitzuteilen, daß diese das Wissen praktisch anwenden können.

Umsetzung des Wissens bereitet oft Probleme

Eine andere, nicht unwesentliche Schwierigkeit besteht in der folgenden Phase: der Umsetzung dieses Wissens in das Expertensystem Hierzu bedarf es wiederum eines "Übersetzers", der mit den Software-Entwicklungsumgebungen vertraut ist; im Regelfall also jemand aus der Datenverarbeitung. Was der Anwender anschließend erhält, ist ein in sich geschlossenes System, das für einen engumgrenzten Bereich funktionsfähig ist. Auswirkungen auf andere Bereiche - ein wesentliches Merkmal strategischer Entscheidungen sind so kaum nachzuvollziehen.

Vor einer weiteren Fehleinschätzung sei hier ebenfalls ausdrücklich gewarnt. Die vom System vorgeschlagene Lösung muß nicht zwangsläufig die richtige sein. Persönliches Wissen der Experten ist weder statisch noch das Monopol einiger weniger Fachleute. Gerade was die Lernfähigkeit von Expertensystemen betrifft, also neue Aufnahme von Fakten und Regeln ohne Neuprogrammierung, steckt noch vieles in den Kinderschuhen.

So gesehen kann ein Expertensystem auch immer nur zu Lösungen gelangen, die im System durch das Wissen des Fachmannes mehr oder weniger vorgegeben sind. Dies mag zunächst als Begrenzung der Flexibilität in Entscheidungssituationen erscheinen; auf der anderen Seite sind Expertensysteme nicht dazu da, Entscheidungen zu automatisieren. Intuition und Kreativität bleiben auch künftig dem Menschen vorbehalten.

Kl-System schließt Lücken der Planungssprachen

Planungssprachen konventioneller Art werden heute bereits in vielen Unternehmen für strategische und operative Aufgaben eingesetzt. Sie decken einen Teil der eingangs beschriebenen Forderungen an ein strategisches Informationssystem ab. Die Lücken dieser Systeme liegen im Bereich der Wissensverarbeitung und natürlichsprachlichen Erklärung von Zusammenhängen. Genau diese Funktionen kann ein Expertensystem ausfüllen. Dabei ist es sinnvoll, Expertensysteme und Planungssprachen miteinander zu integrieren, um die jeweiligen Vorteile der Systeme besser auszunutzen. Nur so lassen sich Synergieeffekte erzielen.

Das Erklärungssystem soll nicht den Denkprozeß ersetzen. Jeder Anwender hat seine eigenen Hypothesen über die wichtigen Faktoren, das heißt Annahmen über Zusammenhänge und Wirkungen. Die Erklärungskomponente kann aber dabei helfen, die zugrunde gelegten Annahmen zu testen und gegebenenfalls zu revidieren.

Ein weiterer Nutzen der Erklärungskomponente liegt darin, daß sie die Lücke zwischen der Beschreibung ("Was war oder was ist?") und der Analyse ("Was könnte sein?" oder: "Was wäre, wenn?') schließt. Ferner gibt sie Anworten und Interpretationen auf die Fragen: "Was bedeutet dies?" oder: "Warum ist ein bestimmter Wert zustandegekommen?" Die Fragen können in natürlicher Sprache formuliert werden oder am Bildschirm aus vorgefertigten Fenstern über Kommandos ausgewählt werden.

Durch die KI-Methodik, die der Erklärungskomponente zugrunde liegt, ist es nicht nur möglich, die Größen ausfindig zu machen, die ein Ergebnis beeinflussen, sondern auch festzustellen, welche Variablen den größten Einfluß haben. Diese Einflüsse lassen sich in einer Art Kausalkette bis auf die Ebene der Ausgangswerte zurückverfolgen.

Dies sind erste, erfolgreiche Schritte im Einsatz von Expertensystemen zur Unterstützung des Managements. Nur mit Expertensystemen wird es langfristig möglich sein, Erfahrungen und Wissen von Menschen zu verarbeiten. Dies bedeutet noch nicht, daß die von dem System vorgeschlagenen Schlußfolgerungen in jedem Fall zutreffen. Sie helfen aber, unter bestimmten Konstellationen und Annahmen, Entscheidungen abzusichern.