Von Lenin zu Lewin:

Kontrolle ist gut Vertrauen ist besser

21.06.1985

Gerhard Weigle, Mitgeschäftsführer GMO-Gesellschaft für moderne Organisationsverfahren mbH & Co., Hamburg

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser", schärfte Lenin seinen Funktionären ein. Gemeint war natürlich nicht der Primat des Controlling, was zutreffender Steuern hieße, gemeint war eine bestimmte Grundeinstellung zum Umgang mit Menschen. Der Durchschnittsmensch habe eine angebotene Abneigung zur Arbeit, er müsse zu ihr gezwungen, daher streng kontrolliert und ggf. bestraft werden. Anders sei Leistungsbereitschaft nicht zu erreichen.

Mit dieser Überzeugung blieb Lenin nicht allein. Angst und Druck sind als Disziplinierungsmittel noch immer nicht vergessen. Ein tiefes Mißtrauen führt zu diesem Menschenbild. Doch gerade daraus folgen Fehlverhalten und Fehleinschätzungen. Keine Begebenheit belegt dies eindrucksvoller, als jene, die sich während des Wiener Kongresses tatsächlich ereignet hat. In einer anstrengenden Verhandlungsrunde verstarb urplötzlich der Botschafter des russischen Zaren. Metternich, stets voll wachen Mißtrauens frage sich: Was mag er damit wohl bezweckt haben?"

Inzwischen ist die sozialwissenschaftliche Forschung wesentlich weiter. Ihre Bedeutung für die betriebliche Praxis wurde von vielen Unternehmen erkannt. Ein

Unternehmen wird als Vernetzung technischer, ökonomischer und sozialer Systeme begriffen. Die meisten Verbesserungen erhoffte man, sich zunächst durch Veränderungen technischer und ökonomischer Schwerpunkte. Fast jedes Sachproblem ist aber zugleich ein Beziehungsproblem zwischen Menschen. Untersuchungen zeigen, daß Probleme im Unternehmen zirka 20 Prozent technische und zirka 80 Prozent menschliche Ursachen haben. Diese Erkenntnis rückte Veränderungsanstrengungen im sozialen System in den Vordergrund. Es sind dies Veränderungen der vorherrschenden Denk- und Verhaltensweisen der Mitarbeiter und Führungskräfte, insbesondere der Art und Weise ihres Umgangs miteinander, mit Kunden und mit Lieferanten.

Notwendig sind Veränderungen in Richtung Flexibilität und Qualität. Flexibilität ist rasche Anpassungsfähigkeit an jede neu entstehende Situation.

Qualität hat sich längst von früheren Wareneigenschaftsbegriff zum Verhaltensbegriff entwickelt. Qualität bedeutet in letzter Konsequenz die Erfüllung der Anforderungen anderer, nämlich interner und externer Kunden. Anders ausgedruckt: Wer mit seiner Arbeit dem andern dient, der wird gebraucht. In diesem Sinne bedeutet Führen Dienen, nicht Herrschen, übrigens ein Erfolgsrezept auch für den DV-Bereich und zugleich eine Umkehrung des traditionellen IS-Weltbildes, wie es im Zentrum eines Informationssystems entsteht. Der IS-Anwender steht im Mittelpunkt des Universums. Für ihn muß der Produktionsfaktor Information als Dienstleistung bereitstehen. Er erwartet eine schnelle Verarbeitung seines Informationswunsches. Relationale Datenbanken und Endbenutzersoftware dienen insbesondere auf dem Niveau der 4. Generationstechnik als wirkungsvolle Werkzeuge zum Aufbau eines Systems für die Entscheidungsunterstützung.

Wie wenig effizient ist aber ein solches System, wenn der Bildschirminhaber das Entscheiden nicht gelernt hat und ständig nach seinem Chef ruft? Dieser wiederum fürchtet sich vor der neuen Transparenz in der Nachprüfbarkeit seiner Entscheidung, auch kann er sie nicht mehr mit dem Hinweis auf fehlende Informationen verzögern. Ein neues Arbeits- und Führungsverhalten muß sich entwickeln.

Erst die Informationstechnik macht dies möglich. Eine neue betriebliche Partnerschaft kann sich bilden, und zwar auf der Basis immaterieller und materieller Beteiligung der Mitarbeiter und Führungskräfte am Unternehmen. Im materiellen Bereich sind Belegschaftsaktien, stille Beteiligungen, Darlehen mit ertragsabhängiger Verzinsung und andere Ideen in der Diskussion und in mehreren Unternehmen bereits erfolgreiche Praxis. Voraussetzung für diesen Erfolg sind aber die wichtigsten immateriellen Beteiligungsformen: Das Einbeziehen der Mitarbeiter in den Führungsprozeß durch bessere Information, Delegation von Verantwortung und Entscheidungskompetenz, Mitwirkung bei der Zielfindung und Arbeitsplatzgestaltung, sowie Mitarbeit in funktions- und bereichsübergreifenden Arbeitsgruppen, der am weitesten entwickelten Form von Q-Zirkeln.

So können Eigenverantwortlichkeit und Unternehmungsgeist wachsen, dazu ein hoher Grad an Einverständnis und Einsicht in Entscheidungen und damit Identifikation mit dem Unternehmen ermahnt werden.

Dem Drang der Menschen nach Selbstbestimmung und sinnerfüllten Aufgaben wäre ein innerbetriebliches Feld geboten, der Wertewandel würde die Arbeitswelt qualitativ bereichern, quantitative Arbeitszeitverkürzungen verlören ihre Attraktivität für Arbeitnehmer.

Diese Entwicklung geschieht nicht von selbst. Jedes Unternehmen hat hierzu einen individuellen Status und ein individuelles Entwicklungspotential. Das Tempo wird vom Verhalten der Unternehmensleitung bestimmt. Führen ist schwieriger geworden. Erfolgsentscheidend ist nicht mehr die Fachkompetenz, sondern die Sozialkompetenz, die Fähigkeit mit Menschen umzugehen. Sie zeigt sich im Führungsstil.

Hier kennen wir die idealtypischen Definitionen: Autoritär, kooperativ, laissez-fair. In der Praxis kann man sie in Reinkultur nicht wirkungsvoll durchhalten. Es kommt nämlich auf die situationsadäquate Auswahl an und die stets kommunikative Anwendung. Insofern möchte ich für einen kommunikativen Führungsstil plädieren.

Er wirkt prägend auf die Denk- und Verhaltensweise der Mitarbeiter und Führungskräfte, beeinflußt das Meinungs-, Norm- und Wertgefüge des Unternehmens und damit die Unternehmenskultur.

Führungsverhalten zu verändern ist durch rationale Wissensvermittlung kaum möglich. Die Veränderung geschieht durch einen Prozeß, durch einen Lernprozeß in sozialen Fähigkeiten und entwickelt sich nicht durch Anweisungen von außen oder oben, sondern in der praktischen Arbeit auf der Basis von gemeinsamen Führungsgrundsätzen und über 50 Führungsinstrumenten.

Sie sind das Kernstück, das die Betroffenen unter der Regie der Unternehmensleitung firmenspezifisch selbst erarbeiten müssen, wenn auch unter Anleitung eines in Führungsfragen erfahrenen Beraters. So entsteht in mehreren Jahren ein unternehmensweit verbindliches Führungskonzept, ein Konzept für qualitative Personalführung.

Zusammenfassend können wir sagen: Qualitative Personalführung bewirkt eine Verhaltensänderung in der Arbeitswelt, verbindet Fachkompetenz mit Sozialkompetenz, befähigt zu situationsadäquatem Handeln unter Einbeziehung von Zukunftsaspekten, steigert Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft und erzielt Effizienz durch einen vertrauensvollen kommunikativen Führungsstil. Die geistigen Grundlagen zu dieser auf Vertrauen basierenden Personalführung gehen zurück auf den Sozialwissenschaftler Kurt Lewin, dem Erfinder und Altmeister des gruppendynamischen Prozesses.

Durch seine Anwendung reift Vertrauen als Unternehmenskulturgut heran, unterstützt von ständigem Bemühen zu überzeugen, von Offenheit, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit und uneingeschränkter Bereitschaft zu sachgemäßer Information und Verarbeitung von Kritik. Auf diese Weise werden in der betrieblichen Praxis die Akzente der Leninschen These überzeugend umgekehrt: "Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser."